Doof oder nicht doof, das ist hier die Frage…
…hallo, www-Kollege,
also ich bin keiner dieser Leute, die den LOTR als eine Art Bibel behandeln. Andererseits wäre dieses Werk definitiv eines von zehn Büchern in der berühmten Frage „Was nimmst Du auf die Insel mit?“.
Ich denke, man muß immer unterscheiden zwischen dem Werk selbst und den Phänomenen, die es auslöst.
Was das Werk selbst betrifft - nimmt man den LOTR für sich, ist es zunächst mal schlicht Geschmackssache, ob man mit diesem Genre, diesem Stil etc. etwas anfangen kann. Es gibt einen herrlichen Essay von M.Z. Bradley (die ich als Autorin nicht ausstehen kann, die aber hier eine Sternstunde hatte), die genau aufzählt, was alles am LOTR nicht zeitgemäß oder stilistisch ungeschickt etc. ist - und die im gleichen Augenblick aufzeigt, warum das Werk dennoch für so viele etwas Besonderes werden konnte und kann und auch immer werden können wird.
Dazu zählen Dinge wie das Motiv der Queste, der Heroismus, die Poesie, die Sprachfreude usw.; es ist sehr schnell eine höchst persönliche Sache, was daran einen reizt und was nicht. Ich mochte am LOTR den Stil, die Poesie und die Atmosphäre der Geschichte. Es ist für mich ein Buch, in das ich hineingehen kann, um Mittelerde für eine Weile zu bereisen. Das hat nix mit Fluchtliteratur zu tun, wohlgemerkt, sondern damit, das der LOTR ein großartiges, gelungenes, in sich fehlerhaftes und dennoch souverän makelloses Werk ist. Die Genialität der linguistischen Wurzeln von Tolkiens Schöpfungen hat mich dagegen zum größten Teil nur sehr anfallsweise beschäftigt.
Und dann gibt es das Drumrum, mit dem der Roman erstmal nichts zu tun hat - und Tolkien selbst auch zum größten Teil nicht. Manche genießen es einfach, daß Mittelerde einen so schönen Spielplatz abgibt - vom Rollenspiel MERS über Illustrationen und echten und fiktiven wissenschaftlichen Werken usw.; es ist - und so sah Tolkien selbst es ja auch - eine Region, die man nicht neu erfindet, sondern entdeckt. Komplexität ist ein weiteres Geheimnis.
Was Deinen Vergleich zu Frank Herbert anbetrifft - trotz ihrer Gemeinsamkeiten (Umfang, Fandom, archaische Motive vermischt mit Phantastik, Maßstabsetzungen für Folgewerke usw.) sind diese Werke m.E. kaum vergleichbar, da sie sich verschiedener Genres bedienen, um - vielleicht - recht verwandte Dinge auszudrücken. Beide haben sich als Genreklassiker etabliert und werden definitiv ‚überleben‘. Ungeachtet im Grunde nicht diskutierfähiger qualitativer Vergleiche finde ich jedoch, daß m.E. der LOTR und nicht Dune vollkommen richtig als eines DER wenn nicht als DAS Buch des 20. Jahrhunderts bezeichnet wird - wenn man schon unbedingt solche Rekordtitel verleihen will.
Meine Begründung lautet, daß es kein anderes Werk in- UND außerhalb seines Genres im 20. Jahrhundert geschafft hat, so viele Menschen ganz persönlich anzusprechen und eine individuelle (z.T. lebenslange) Bedeutung für sie zu gewinnen. Wo Frank Herberts Großtat intellektuell fasziniert, ist der LOTR trotz aller vermeintlichen dramaturgischen Schwächen (z.B. dem weitestgehenden Fehlen weiblicher Figuren) das Werk, daß es mehr als jedes andere seiner Zeit geschafft zu haben scheint, wirklich erLEBT zu werden. Und dies über alle Kultur- und Sprachgrenzen hinweg.
Als zweiten Grund möchte ich benennen, daß die von Tolkien ersonnenen bzw. verarbeiteten Elemente in einer Weise Allgemeingut geworden sind, wie kein anderer Autor das vermocht hat. Fremen kennen viele, aber seit Tolkien sind Elben und Zwerge und Zauberer einfach nicht mehr das, was sie waren in den Phantasien der Menschen.
Ich jedenfalls kann gut verstehen, wenn jemandem für dieses Buch der „Einflugwinkel“ fehlt. Es ist auch kein Buch, das man gelesen (und gut gefunden) haben MUSS. Solche Erwartungen sind unsinnig. Warum der Roman an Dir eher vorbeiging, wirst Du möglicherweise besser definieren können, wenn Du herauszufinden versuchst, was speziell Dich z.B. an Dune besonders fasziniert hat. Welche anderen Werke Dich (um das Griechendrama wieder auszugraben) kathartisch berührt haben und womit.
Ich wünsche Dir jedenfalls - mit oder ohne den LOTR - viele schöne Lesestunden und werde mich niemals schämen, daß ich ab-so-lut jedes Mal (ich glaube, auf die Nummer könnte man mich buchen, so wie Harry Rowohlt auf Tränen bei Pu der Bär) heulen muß, wenn Sam zuletzt heimkommt, Platz nimmt und sagt „I’m home“.
Pengoblin