Christentum vs. Gnosis
Hi Trutz,
ich möchte die dir schon von Marvin gegebenen Hinweise ein bisschen ergänzen:
-
Im von Marvin verlinkten Wiki-Artikel ist davon die Rede, dass das Johannes-Ev um 125 schon im Umlauf war. Das kann man so kategorisch aber nicht sagen. Das entsprechende Papyrusfragment P 52 kann anhand der Schrift auf den Zeitraum von 125 bis 160 datiert werden, und eine Bezugnahme von Justin auf das Joh-Ev ist überhaupt nicht gesichert, so dass das Ev auch nach 150 entstanden sein kann. Erst Irenäus bezieht sich um 180 explizit auf die vier kanonischen Evangelien, deren Gesamtentstehungszeitraum also in die Zeit zwischen 70 und ca. 160 fallen muss. Die konventionelle Datierung von Mk auf 70 ist völlig willkürlich, es kann genauso gut auch erst 120 oder noch später entstanden sein.
-
Vermutlich ist die christliche Lehre aus dem großen Pool an gnostischen Lehren hervorgegangen, die ab Mitte des 1. Jhds. aufkamen und deren Ursprünge in jüdischen, ägyptischen, asiatischen und griechischen Religionen zu suchen sind, an sich aber als Neubildung zu betrachten sind. Die Aufspaltung in „Evangelien“ und „Apokryphen“ geschah durch den Selbstfindungsprozess einer bestimmten Schule, die sich von anderen gnostischen Schulen abgrenzen wollte. Was diese „katholische“ von den anderen Schulen unterscheidet, ist zum einen ein stark anti-gnostischer Zug in dem Sinne, dass a) „Gott“ nicht, wie in vielen anderen gnostischen Systemen, als unmittelbares Erkenntnisobjekt gilt (daher Gnosis = Erkennen, Wissen), sondern als Objekt eines Glaubens, der durch die Christusfigur vermittelt wird, und dass b) - das ist aber nur eine Hypothese - eine pseudo-historische Jesus-Figur ´erfunden´ wurde, die der eigenen Lehre größere Überzeugungskraft verleihen sollte. Was für diese Hypothese spricht, ist vor allem die historische Nichtnachweisbarkeit der Jesus-Figur sowie aller relevanten Figuren und Jesus-betreffenden Ereignisse für das 1. Jahrhundert. Wen verwundert, dass die Jesusfigur erfunden sein könnte, möge bitte beachten, dass auch die relevanten Figuren des Alten Testamentes allesamt nicht-historische, also erfundene Gestalten sind (das geht schon bei Moses los).
Das kirchenpolitische Potential einer solchen Konstruktion ergab sich daraus, dass die eigentlich gnostischen Systeme anspruchsvoller und schwerer zugänglich waren als ein schlichter Mythos, der nur Buchstabengläubigkeit erfordert, um akzeptiert, d.h. „geglaubt“ zu werden. Das einfache Volk konnte damit leichter gewonnen werden als durch ein elitäres System, das Hierarchien und Einweihungsgrade kannte und bei dem es nicht um „Glauben“, sondern um ein schwer realisierbares „Wissen“ ging. Maßgeblich war an diesem Prozess Irenäus beteiligt, der die Kanonisierung des neuen Mythos initiierte und gleichzeitig Negativaffekte gegen die gnostischen Lehren schürte.
Eine erste, durch Irenäus Ende des 2. Jhd. erfolgte Kanonisierung der vier Evangelien war eine Reaktion auf Marcions christlich-gnostische Kanonbildung um 140, der zehn Paulusbriefe (evtl. von ihm selbst angefertigt) sowie ein eigenes Evangelium als Kanon herausgab. Ohne den von den Katholiken als Ketzer verdammten Marcion wäre der Prozess also gar nicht oder viel später ins Rollen gekommen.
So kam es, dass die immer mächtige werdene katholische Fraktion die Schriften der Konkurrenz vernichtete und diese zunächst hauptsächlich aus den Anti-Häretiker-Schriften des Irenäus bekannt waren. Erst die Nag-Hammadi-Funde erlaubten einen objektiveren Blick auf die gnostischen Lehren.
Chan