Hallo Tatjana,
die Geschichte ähnelt meiner, wie wahrscheinlich der vieler Hochbegabter.
Ich wurde vor der Einschulung getestet. Mein Ergebnis war auch ein IQ von 135. Ich war ebenfalls krank. Starkes Fieber. Musste mich bei der Psychologin, die den Test durchführte, sogar übergeben. So schlecht war mir an dem Tag. Übelkeit beim/vorm Test ist keine Seltenheit, so kann ich das aus meiner Erfahrung mit „Leidensgenossen“ feststellen. Meine Vermutung ist, dass es psychosomatisch auftritt. Ein Kind möchte normalerweise einfach nur ein Kind sein. Glücklich mit allen anderen Kindern zusammen. Nicht etwas stark anderes sein. Die unterbewusste Angst vor soetwas kann sich sehr wohl durch solcherlei starke Beschwerden äußern.
Damit Sie wissen, wer Ihnen schreibt: Ich heiße Jenny, komme aus Berlin und bin 21 Jahre alt.
Ich weiß, dass sie speziell nach Ihren Rechten in Bezug auf die eventuelle Versetzung fragten, worauf ich ihnen keine „rechtskräftige“ Antwort geben kann. Vielleicht aber interessiert Sie ja trotzdem, was jemand, der die Schule quasi gerade hinter sich hat, zu der ganzen Sache an sich sagen kann.
Aus meinen städtischen Erfahrungen heraus, kann ich sagen, dass einem Überspringen einer Klasse eigentlich nichts im Wege steht. In Berlin steht man dem offen gegenüber. Da wird dann getestet, auf welchem Stand der Schüler ist, und dann werden ggf. ein paar Teststunden in der höheren Klasse absolviert. Besonders, da Sie einen guten IQ-Test vorliegen haben und die Leistungen Ihres Sohnes momentan ja glänzend sind, würde ich nicht verstehen können, sollte seine Schule dem Überspringen nicht zustimmen. ICh würde mich dann an eine andere Schule wenden.
Denn was Hochbegabte zu seelischen Toten machen kann, ist wenn sie nicht genug Input bekommen. Ich habe durch den „Deutsche Gesellschaft für das hochbegabte Kind“ (http://www.dghk.de/index.html) mehrere ebenfalls betroffene Jugendliche kennengelernt, welche, wie ich, zu Underachievern wurden. Ist Ihnen das Thema Underachievement bekannt?
Vielen Hochbegabten widerfährt schreckliches in der Schule. Sie werden nicht verstanden, weil sie zu weit sind, und können sich irgendwann nicht mehr ausreichend beschäftigen, weil der Stoff zu lange zu lasch gewesen ist. Dann sinken viele ab. Verweigerung, Resignation, Isolation. Ich habe das selbst leider erlebt.
Ich war immer Klassenbeste gewesen. Eine 1er-Schülerin, die gemobbt und erniedrigt wurde, und sich in der Schule zu Tode langweilte. Irgendwann wurde es zu viel. Meine Noten wurden langsam schlechter. Sie waren gegen Ende der 6. Klasse mehr mittelmäßig als großartig. Der Wechsel aufs Gymnasium stand bevor. Das gab mir den letzten Mut. Ich dachte, dort würde es endlich interessant werden. Ich würde überall auf gelehrte Geister treffen und mich unterlegen fühlen… Doch es war ein Wunschtraum.
Auf dem Gym wurde alles nur schlimmer. Hier waren die Lehrer nun auch mit gemein und machten mich zum Sonderling, sobald ich über Sie Nähe zu anspruchsvollerem Stoff suchte.
Sie bremsten mich. Sie wollten nicht Tempo. Sie wollten einfach nur ab dem Klingeln den Stoff des Lehrplans durchziehen, und beim Klingeln des Endes der Stunde die Schüler mit Ignoranz strafen.
Ich könnte noch so viel mehr schreiben. Ich hoffe ich belästige Sie damit nicht.
Jedenfalls tat sich da etwas in mir. DIe Situation war schon über Jahre hinweg schwer zu ertragen für mich gewesen, doch nun kam ich durch diverse Vorfälle endgültig an meine Grenzen. Meine 1en wurden zu 6en. Ich verweigerte mich. So wie die Welt mir meine Förderung verweigert hatte, und mich (so fühlte ich es) innerlich verkümmern lässt, würde ich nun alles andere verweigern. Ich war trostlos. Ich konnte nicht mehr.
Ich habe, als das Halbjahreszeugnis der 8. Klasse kam, auf dem mittelmäßige bis schlechte Noten zu finden waren, meiner Mutter gesagt, dass ich nicht mehr so Leben könne. Sie hat mich mit Verständnis aufgefangen.
Wir haben lange Hilfe gesucht. Schulen gesucht.
Egal wo man mit dem Wort Hochbegabung auftaucht - Es scheint nach wie vor vielen Leuten gegen den Strich zu gehen. Man läuft ständig in Gefahr als Überheblich/Arroganz abgestempelt zu werden. Alle Stellen vom Staat (Schulamt, Jugendamt, usw) haben uns in NICHTS geholfen und wussten auch NIE etwas, das uns weiterbrachte!
Oh, wenn ich sage „uns“, so spreche ich von meiner Mutter und mir…
Das, was uns wirkliche Einsicht in die Thematik gab, war der Austausch mit anderen Familien, mit gleichem Schicksal.
Ich merke, ich schreibe viel zu viel. Eigentlich möchte ich nur folgendes auf den Weg geben:
Machen Sie sich für Ihren Sohn und seine Bedürfnisse stark. Geben Sie nicht auf, wenn irgendwelche Ämter oder Beamte bei Ihren Anliegen Abwinken.
Hören Sie Ihrem Sohn gut zu und fragen sie evt. auch einmal nach. Seien sie achtsam, ob er sich in der Schule einsam oder sogar gedemütigt fühlt. Nichts ist schlimmer als sich als Kind einer schlimmen Situation ganz alleine ausgeliefert zu fühlen.
Es gibt diverse Internate für Hochbegabte Kinder. Leider kosten diese sehr viel Geld (ca. 2000 Euro/Monat). Wer sich das leisten kann, hat Glück. Dort sind endlich Lehrer, die mit kleinen Genies vertraut sind.
Früher, in Fällen wo es Schülern sehr schlecht ging, hat das Jugendamt sogar die Kosten getragen. Leider kam ich damals schon zu spät. Seit einigen Jahren machen die Medien immerwieder solcherlei Internate publik und ziehen über sie her, wegen einzelner reicher Leute, die ihr Kind auf Kosten des Staates hinschicktne, ohne dass ein Notfall vorlag. Daher, so weit ich weiß, wird so eine Kostenübernahme nicht mehr bewilligt.
Das wäre meine letzte vernünftige Chance gewesen.
Ich hatte 4 verschiedene Schulen besucht. Auf einer war es schlimmer als auf der anderen. Einfach ein neues Gym zu finden, kam für mich nicht in Frage. Außerdem war ich fertig mit der Welt.
Ich habe Fernstudium probiert, was anfangs sehr gut lief. Wieder Bestnoten. Viel Vorarbeiten. Ich hatte sogar Spaß. Doch irgendwann war ich nur noch demotiviert niemanden vor mir zu haben, mit dem ich direkt über den Stoff, ganz frei, reden konnte. Da beim Lehrgangsleiter anrufen… das ist nicht das Selbe.
Ich war letztendlich 3 Jahre nur zu Hause. Jeden Tag. Ich war 15. Meine Mutter absolut ratlos. Wir irrten von Behörde zu Amt. Keiner wollte uns helfen. Schlimmer noch; ich sollte per Zwang in den Unterricht zurückgebracht werden. Die Leute wollten nicht zuhören. Sie wollten nicht verstehen. Sie wollten knallhart die Symptome, und nicht die Ursache für sie behandeln.
Ich kenne Hochbegabte, die mit der Polizei zurück in den Unterricht geschickt wurden, wegen der Schulpflicht.
Ich hoffe sehr, dass ihr Sohn liebere Mitschüler hat, als ich sie hatte. Vielleicht ist das auf dem Land ja anders, als in der lauten, aggressiven Stadt. Jedenfalls ist die Schulzeit extrem wichtig. Ich weiß ich bin erst 21, aber ich spüre, dass mich meine Erlebnisse und die Gefühle von damals mein Leben lang verfolgen werden. Es ist enorm wichtig, so wie Sie es scheinbar bereits tun, einen großen Augenmerk auf die Situation Ihres Sohnes zu legen.
Um die verwirrende „Mal hier, mal da“-Erzählung abzuschließen:
Ich wohne seit drei Jahren alleine und habe in der Zeit auf der Abendschule erst meinen Haupt- und dann den Realschulabschluss nachgeholt. Jetzt muss ich nach einem Kolleg fürs Abi suchen, das mich irgendwie Quereinsteigen lässt, denn Abi nachzuholen dauert 3-4 Jahre. Das ist definitiv zu lange für mich.
Und ich fühle mich furchtbar. Verkümmert.
Ich war mit 13 schon sauer auf mich, dass ich immernoch kein Buch geschrieben hatte und ich die Welt noch mit keiner neuen wissenschaftlichen Erkenntnis bereichern konnte. Das mag lächerlich klingen, aber für mich war und ist das beklemmend.
Helfen Sie Ihrem Sohn unbedingt, weiter vorran zu kommen, sich zu bilden und sich am Leben zu erfreuen und nicht in Frustration abzurutschen.
Wenn ich genau wüsste, wie man das kann, würde ich es sagen.
Ich wünsche Ihnen, dass Sie und Ihr Sohn da mehr Glück haben, als meine Mutter und ich.
Übrigens: Ich hätte auch überspringen können, 2 Klassen, Ende der 3. Klasse und wollte es einfahc nicht. Warum? Weil ich bereits zwei Schulwechsel hinter mir hatte. Die Mitschüler waren gemein zu mir und erniedrigten mich, doch ich glaubte in meiner Unschuld, sie würden mich irgendwann sogar Mögen, wenn ich Ihnen weiterhin zeige, dass ICH nicht gemein bin. Hinzu kamen die immer neuen Gesichter… Ich hatte einfach nur noch Angst.
Heute bereue ich das zutiefst. Ich hätte ÜBrspringen sollen. Und ich wünschte, ich hätte ein dickeres Fell und gute, wahrhaftige Freunde gehabt.
Falls Sie mir wegen irgendetwas noch einmal schreiben möchten, können Sie das gern unter [email protected] tun. Ich weiß nämlich nicht, ob Sie mir hierauf nochmal antworten können. Schreibe hier zum ersten Mal
Fragen Sie doch ruhig mal bei der DGhK an - Die MÜSSEN das mit den Rechten wissen und können Sie sicherlich gut beraten! www.dghk.de (Deutsche Gemeinschaft für das hochbegabte Kind)
Mit freundlichen Grüßen,
Jenny