Was ist Hochdeutsch? von Fritz Ruppricht
Erstellt unter Zuhilfenahme von:
Hans Eggers, Deutsche Sprachgeschichte, Bd. I – IV
Peter von Polenz, Geschichte der deutschen Sprache
Die Germanen, die im Gebiet des heutigen Deutschland lebten und hausten, sprachen einander ähnliche und doch unterscheidbare Sprachen bzw. Dialekte.
Wie das klang, wissen wir nicht genau, weil die Tonaufnahmen von damals einfach von zu schlechter Qualität sind. Erste Zeugnisse - Namen, Bezeichnungen etc. - dieser Sprachen finden sich bei griechischen und römischen Schriftstellern. Zu dieser Zeit zeugt der Lautstand eher von einer noch einheitlichen Sprache, die man „Gemeingermanisch“ nennt. Die Auseinanderentwicklung datiert wohl erst in spätere Zeit.
Richtig fassbar werden diese Sprachen aber erst durch längere schriftliche Zeugnisse wie etwa: die gotische „Wulfila“-Bibelübersetzung im 4. Jhdt., die „Straßburger Eide“ von 843, liturgische Texte wie das „Vater unser“ oder das „Credo“, Otfrieds Evangelienbuch oder der Heliand.
In dieser Zeit löste sich das Hochdeutsche von den anderen westgermanischen* Sprachen durch die „Zweite oder Hochdeutsche Lautverschiebung“ . Durch diese Lautverschiebung ist die Trennung in verschiedene Dialektregionen in Deutschland bewirkt worden und nach ihrer Ausbreitung kann man auch heute noch die Dialekte unterscheiden.
*westgermanisch: angelsächsisch, altsächsisch, niederländisch, niederdeutsch, friesisch, hierzu aber:
germanische Sprachen, Zweig der indogermanischen Sprachfamilie. Sprachhistorisch wird heute eine Gliederung in fünf Gruppen angenommen, die z. T. durch Gemeinsamkeiten wiederum miteinander zu verbinden sind:
1. Ostgermanisch (Sprachen der Goten, Burgunder, Vandalen, Heruler und Gepiden);
2. Nordgermanisch (Schwed., Dän., Norweg., Isländ., Färöisch);
3. Nordseegermanisch oder Ingwäonisch (Angelsächs., Fries., Altsächs., Niederdt.);
4. Rhein-Weser-Germanisch oder Istwäonisch (›Mitteldt.‹: Fränk., Thüring.);
5. Elbgermanisch oder Herminonisch (›Oberdt.‹: Alemann., Bairisch).
Diese Einteilung ist eher angemessen als die Dreiteilung ›Westgermanisch, Ostgermanisch, Nordgermanisch (nach Duden). Doch streiten sich hier verschiedene Schulen manchmal um des Kaisers Bart.
Diese Lautverschiebung trennte auch das Niederdeutsche vom Hochdeutschen.
Das Niederdeutsche, heute als Plattdeutsch bekannt, machte diese Entwicklung nicht mit, ebenso wie die übrigen germanischen Sprachen. Deshalb kann man das Plattdeutsche als eigene deutsche Sprache betrachten und nicht nur als deutschen Dialekt. Die Grenze wird durch verschiedene phonetische Phänomene markiert, etwa den Unterschied von Appel/Apfel, maken/machen, lopen/laufen. Diese Grenze ist auch als „Benrather Linie“ bekannt.
Auch das Plattdeutsch blieb natürlich nicht stehen und hat so manche Elemente des „Hochdeutschen“ übernommen. Das Friesische und Niederländische waren da zurückhaltender.
Aber auch innerhalb des Hochdeutschen, das also im heutigen Rheinland-Pfalz, Hessen Baden-Württemberg, Thüringen, Sachsen, Bayern, Österreich gesprochen wurde, kam es zu Differenzierungen, je nachdem wie weit die Lautverschiebung durchgeführt wurde.
Später gab es weitere Lautverschiebungen in den Vokalen. So kam es zu weiteren Differenzierungen: So hat z. B. das Hoch- und Höchstalemannisch, d. i. das Schweizerdeutsche diese Lautverschiebung ebenfalls nicht vollständig mitgemacht, weshalb es da zwar „Wasser, das, Dorf“ heißt wie im Oberdeutschen, aber „Hûs, Mûs, Wîp“ wie im Niederdeutschen.
Am weitesten ging das Oberdeutsche , das in Südteil der gerade genannten Länder gesprochen wird, das Mitteldeutsche , das in den nördlichen Gebieten Süddeutschlands gesprochen wird, machte nicht alle Veränderungen mit.
Wenn wir von Hochdeutsch sprechen, so können wir also das einmal meinen:
-
historisch-sprachgeschichtlich,
und das ist die in Süd- und Mitteldeutschland gesprochene Sprache, die wir seit dem frühen Mittelalter in schriftlich fixierter Form kennen und zwar in den Unterformen althochdeutsch (ahd.), mittelhochdeutsch (mhd.), frühneuhochdeutsch (fnhd.), neuhochdeutsch (nhd.) oder einfach -
hochdeutsch,
das ist das Hochdeutsch wie wir es heute meist verstehen, als das normierte, oder doch standardisierte, allgemein bei öffentlichem Reden, in Funk und Fernsehen und auch in andren Medien gebrauchte Deutsch der Gegenwart. Aus diesem haben sich später wieder neue gesprochene Dialekte entwickelt.
Viele meinen nun, das heutige Hochdeutsch sei einmal in dieser Form das Deutsch einer bestimmten Region gewesen. Und die meisten vermuten, das sei so um Hannover herum bis Hamburg gewesen.
Dem ist aber nicht so. Das, was man heute mit Hochdeutsch oder auch Schriftdeutsch, Standardsprache oder ähnlichen Bezeichnungen meint, hat eine lange Entwicklung hinter sich.
Die Entwicklung des Hochdeutschen vom 8. bis 20. Jahrhundert
Auch in dem weiter oben als hochdeutsch beschriebenen Sprachgebiet gab es noch beträchtliche Unterschiede, was ein kurzer Blick in die erhaltenen Handschriften zeigt. Unterschiedliche Wortwahl und Schreibung sind die Regel.
Doch früh zeigen sich Vereinheitlichungstendenzen.
Ein Buch, auf der Insel Reichenau geschrieben – und es wurden einige Bücher dort geschrieben – kam von dort etwa nach Magdeburg, wurde dort abgeschrieben, kam nach Eichstätt und wurde dort wieder abgeschrieben und selbst wenn die Abschreiber einige Änderungen vornahmen, so verbreitete sich doch diese bodenseespezifische, alemannische-oberdeutsche Form des Hochdeutschen auf diese Weise in ganz Deutschland.
Ebenso ging es mit Handschriften von Epen, Minnesängerstrophen und auch solchen mit theologischem oder juristischem Inhalt. Und es ist anzunehmen, dass die gebildeten Rezipienten den Text „nach der Schrift“ lasen.
Dabei wich die geschriebene Sprache immer von der tatsächlich gesprochenen ab.
Mit der Zunahme der Urbanisierung und der wachsenden Zentralisierung des Reiches durch das Kaisertum und die Regionalfürsten wuchs auch die Verwaltungsliteratur an, die reichsweit verständlich sein musste. Es entstanden Kanzleisprachen, die sich um Einheitlichkeit bemühten. Eine wichtige Kanzlei war im ausgehenden Mittelalter die von Wien.
Die Erfindung des Buchdruckes mit beweglichen Lettern wirkte wie ein Turbolader auf diese Vereinheitlichungstendenzen. Vor allem die Verbreitung der Lutherischen Bibelübersetzung in diesem Medium und die Überschwemmung des Reiches durch Flugschriften in der Reformationszeit forcierte diese Tendenz noch mehr.
Luther, in Mitteldeutschland zu Hause, einem Gebiet, das in den Jahrhunderten vorher von Menschen aus verschiedenen westlichen Regionen besiedelt worden war, und daher schon eine Angleichung der Sprechweisen erlebt hatte, hat bei seiner Übersetzung geschickt unter den verschiedenen regionalen Sprechweisen gewählt und so eine gewissen Allgemeinverständlichkeit erreicht.
Und dennoch gab es noch erheblich Unterschiede. Ein Exemplar eines in Straßburg gedruckten medizinischen Werkes oder ein in Nürnberg gedruckter Schwank von Hans Sachs wurde in Wien, Köln, Lübeck, Frankfurt, Leipzig, Ulm, Augsburg etc. nachgedruckt – Raubdrucke waren an der Tagesordnung – und natürlich mit Regionalismen versetzt. Dem schon damals verrufenen Lübecker Drucker und Nachdrucker Balhorn verdanken wir das schöne Wort „etwas verballhornen“. Dennoch hatte diese Praxis eine eher gleichmachende als auseinandertreibende Wirkung.
In der Zeit der Renaissance und des Humanismus setzt eine verstärkte theoretisch-wissenschaftliche Beschäftigung mit der Sprache ein. In Deutschland waren es die sogenannten Sprachgesellschaften – genannt sei die „Fruchtbringende Gesellschaft“, aber auch einige Individuen – hier müssen Opitz und Schottel genannt werden, die sich um eine wissenschaftliche Begründung der Grammatik und eine systematische Erfassung des Wortschatzes bemühten. Erste Grammatiken und Wörterbücher wurden erstellt und gedruckt. Schon damals bemühte man sich übrigens, die im Übermaß eingedrungen Latinismen und Romanismen zurückzudrängen.
Und immer wieder ist zu betonen, dass die dabei entstehenden Formen, das Frühneuhochdeutsche und das Neuhochdeutsche, nur in der schriftlichen Form vorlagen; sie wurde von den Lesenden mit ihren regionalen Aussprachegewohnheiten vorgelesen; andere Gelegenheiten, diese Schriftsprache gesprochen zu hören, gab es nicht. Damals galt allerdings die Aussprache, wie sie in Luthers Heimat geübt wurde, als die beste.
Ein weiterer Höhepunkt wird in der Zeit der Aufklärung erreicht, die sich in Deutschland Mitte des 18. Jhdts durchsetzt. Hier ist an Leute wie Gottsched und Campe, vor allem an Lessing, aber auch an Wieland, Klopstock und auf der eher theoretisch-wissenschaftlichen Seite an Stieler, Steinbach und Adelung zu denken. Gerade letzterer hat durch sein Werk: „Versuch eines vollständigen grammatisch-kritischen Wörterbuchs der hochdeutschen Mundart 1874-81“ zusammen mit Gottscheds, „Deutsche Sprachkunst“ einen deutschlandweiten Streit über das Hochdeutsche entfacht. Vor allem Adelung wollte nämlich durchaus, dass „Hochdeutsch, der zwischen Meißen und Dresden um 1750 von den dortigen gebildeten Gesellschaft gesprochen Dialekt“ sei.
Man erinnere sich an den Bericht des jungen Frankfurters, der in Leipzig studieren sollte, über sein „Provinzlertum“ in dieser weltmännischen Messestadt. Göthe schrieb er sich, oder so.
Gegen solche adelungsche Anmaßung wehrten sich natürlich alle bekannten Geistesgrößen der Zeit, Voss, der Homerübersetzer, Klopstock, Wieland, Bodmer und Breitinger aus der Schweiz, Goethe natürlich und Schiller, Jean Paul und wie sie alle hießen.
Schiller lässt in seinen Xenien die Elbe sprechen:
„All ihr anderen, ihr sprecht nur Kauderwelsch – unter den Flüssen
Deutschlands rede nur ich, und auch in Meißen nur, deutsch.“
Beiseite gesprochen: Dennoch findet sich im Briefwechsel zwischen Goethe und Schiller die Bitte des einen an den anderen, er möge doch bald den Adelung zurückgeben, er brauche ihn zur Reinschrift eines Werkes.
Dass weder Goethe noch Schiller Hochdeutsch sprachen, ist vielfach dokumentiert und lässt sich in ihren Werken zeigen. Nur in Frankfurter Aussprache reimt sich:
Neige,
du Segensreiche,
du Ohnegleiche …
Naische,
du Seechensraische,
du Ohneglaische …
Dennoch war es die Verbreitung ihrer Werke, die der Schriftsprache einen nicht zu unterschätzenden Vorschub leisteten. Die gewaltige Zunahme an Druckerzeugnissen und die deutschlandweite Alphabetisierung durch die allgemeine Schulpflicht trugen ihren Teil zur Verbreitung der Schriftsprache bei. Ebenso die wirtschaftlichen und politischen nationalen Einheitsbestrebungen, die in der Reichsgründung 1871 ihren Abschluss fanden!
Diese nationale Bewegung hatte als Reaktion auf die napoleonische Besetzung Deutschlands auch zur Folge, dass man das „deutsche Mittelalter“ wieder entdeckte, die Epen Wolframs und Gottfrieds, das Nibelungenlied zumal, die Minne- und Meistersänger. Die Brüder Grimm veröffentlichten nicht nur die „deutschen“ Märchen, die Rechtsaltertümer, die deutsche Mythologie, sie gaben der deutschen Grammatik, die heute noch weithin gültige Form. Sie schenkten uns die „starken und schwachen Verben und Deklinationen“. Das Grimmsche Wörterbuch ist immer noch das größte Nachschlagewerk zur deutschen Sprache. Man kann gar nicht alles aufzählen!
Als Konrad Duden, der schon 1880 sein: „Vollständiges orthographisches Wörterbuch der deutschen. Sprache“ vorgelegt hatte, den Auftrag erhielt, nach der Vereinheitlichung von Zöllen, Maßen und Gewichten, der Währung und des Rechts, nun auch noch die Sprache reichseinheitlich zu bearbeiten, konnte er auf die Erträge vielfältiger wissenschaftlicher Arbeit zurückgreifen. So bekamen wir unseren Duden. Herr Siebs half ihm noch durch seine „Deutsche Bühnenaussprache“, die die Phonetik vereinheitlichte. Dabei griff Siebs aber nicht mehr auf die traditionelle obersächsische Aussprache zurück. Inzwischen (etwa seit der Mitte des 19. Jhs.) hatte in einigen norddeutschen Städten die Oberschicht begonnen, das Hochdeutsche als Umgangssprache zu benutzen. In der Aussprache ließ sie sich dabei teilweise von der obersächsischen Aussprache, teilweise von ihrer bisherigen plattdeutschen Umgangssprache inspirieren. Es entstand dabei eine völlig neue Aussprache. Die neuen Hochdeutschsprecher konnten dabei nicht verhindern, dass einiger ihrer bisherigen grammatischen Gewohnheiten sich in ihre neue Umgangssprache einschlich. Vorreiter dieses Sprachwechsels war wohl in der Tat die Region um Hannover.
Diese neue Sprachform nahm Siebs als Basis seiner Ausspracheregeln.
Seit 1900 haben wir also das Kunstprodukt „Hochdeutsch“ als Grammatik, Wortschatz und Aussprache vorliegen. Die Verlagerung des „Schwergewichts“ des Hochdeutschen in den eigentlich plattdeutschen Raum führte dazu, dass Sprachunterschiede, die bislang nicht festgelegt waren, nun ebenfalls standardisiert wurden; und zwar in der Regel die nördlichere Variante. Ein Beispiel dafür ist, dass im Süddeutschen „setzen“ und „stehen“ im Perfekt mit dem Hilfsverb „sein“ gebildet werden, im Mittel- und Niederdeutschen aber mit „haben“; heute gilt daher die zweite Variante als Standard. Auch die Aussprache von –ig am Wortende als –ich, bei Könich, Honich, Pfennich, herzich billich, etc. für König, Honig, Pfenning, herzig, billig, ist so eine Entscheidung gegen das Süddeutsche, und für das Norddeutsche.
Heute, im 20. Jhdt, ist es die Zunahme der Kommunikationsmedien, Funk und Fernsehen, die zur Verbreitung der Schriftsprache beitrugen. Dadurch „entstanden“ auch in mittel- und süddeutschen Städten Hochdeutschsprecher. Desgleichen verstärkten die großen Völkerwanderungen des 20. Jhdts, seien sie durch Kriege oder durch die Arbeitsplatzsuche ausgelöst, die Angleichung des gesprochenen Deutsch an die Schriftsprache. Da es nun auch in Süd- und Mitteldeutschland Hochdeutschsprecher gibt, ist die Standardisierung wieder im Fluss. So wird „gestanden sein“ zunehmend gesellschaftsfähig, während die Aussprache Könich usw. schwindet.
Spätestens seit den 50er Jahren begannen an den Schulen Kampagnen, die Dialekte als Umgangssprachen auszurotten. Erst später entstanden die Mundartvereine, die sich um die Pflege der Dialekte kümmern. Mir kommt das so vor wie die Sorge der Tierschützer um Panda, sibirische Tiger, Berggorillas. Lobenswert, aber vergebliche Liebesmüh.
Heute ist es weniger der Duden oder die Literatur, die die Vereinheitlichungstendenz verstärken, sondern Nachrichtenmoderatoren, Quiz- und Showmaster, Comedyblödler zeigen uns, was gutes Deutsch ist. Ob das aber gutes Deutsch ist? Und im Internetz geht es dann vollends ganz vor die Hunde.
Und dennoch gab es und gibt es immer noch Mundarten und Dialekte. Das ist eigentlich ein Hendiadioin, also ein doppelt gemoppelter Terminus.
Ich hoffe, die Lektüre bis hierher hat sich gelohnt.
Fritz
Anschauungs- und Anhörungsmaterial dazu findet sich hier:
http://www.cll.uni-trier.de/
Diesen Tipp verdanken wir Katharina (Katrin Spoerri) und die (kleineren) Überarbeitungen Johannes Reese
Außerdem danke ich Kubi für wertvolle Hinweise zur Unterscheidung von Sprache und Dialekt, die ich ohne Kennzeichnung in den Text eingebaut habe.