Höflichkeit in den 60ern?

Soziale Konventionen sind eben Konventionen, die nicht fest vorgegeben sind, sondern sich entwickeln und verändern. Deswegen verändern sich auch die Höflichkeitsformen, man grüßt heute in einer E-Mail mit „Hallo“ statt mit „Sehr geehrte…“ und „Mit freundlichen Grüßen“ statt „Hochachtungsvoll“, aber trotzdem grüßt man üblicherweise.

Ich hatte zuletzt häufig mit einer englischen Tochterfirma eines amerikanischen Unternehmens zu tun, die verzichteten auf die Höflichkeitsformen (kein „Dear…“, sondern einfach der Vorname als Anrede, und zwar egal ob man sich vorher das Du angeboten hatte oder nicht), als Schlussfloskel einfach nur „regards“, nichts mit Yours sincerly oder ähnliches). Amerikanisch nüchtern und zweckorientiert, sollte man denken. Dafür aber war der Fließtext mit dem Konjunktiv ("would, could, might, if, be so kind, …) dermaßen höflich, wie es nur Engländer und Schweizer schaffen. Ich bin sicher, die Engländer fanden unsere E-Mails, die zwar (wir können halt nicht anders!) mit „Dear“ begannen, aber nüchtern-direkt und ohne jeglichen Konjunktiv quasi imperativ formuliert waren irgendwie schräg.

Andere Länder, andere Sitten, aber auch Irritationen.

Nein, das ist gar nicht schräg. Das Anreden rein mit Vornamen ohne „dear“ ist bei E-mails innerhalb US-Firmen und UK-Firmen durchaus Standard (Ausnahme: wenn sie mit Menschen anderer Nationalität kommunizieren und wissen, wie das bei denen ankommt). Es gibt dazu übrigens etliche Diskussionen by org.leo.dict unter „Land und Leute“. Gleichzeitig werden Formulierungen mit „would“ etc. nicht als übertrieben höflich empfunden, einfach als Standard.
Das ist aber ein ganz anderes Feld, auf das du dich hier begibst. Hier geht es um Sprachkonventionen und Idiome, die nur tangentiell etwas mit dem zu tun haben, was ich oben gemeint habe.

Grüße
Siboniwe

Servus,

in der Tat. Immer wieder nett die Grußformel von Nachbars in geschäftlicher Korrespondenz, deren Wortlaut den Empfänger in fast jeder anderen Sprache an der Geistesverfassung des Absenders zweifeln ließe, aber dort als ganz normal gelesen wird:

‚Ich bitte Sie, mein Herr, dem Ausdruck meiner erhabensten Gefühle Glauben schenken zu wollen.‘

Wobei dieses so ausgeprägt 18. Jahrhundert spiegelt, dass es jetzt doch im Lauf der vergangenen 20 Jahre stark nachgelassen hat und Franzosen Ü40 als „gutes Französisch“ auffällt.

Schöne Grüße

MM

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Letzteres ist wohl jedem klar :wink:

Dennoch kann- was als Ausdruck von Hierarchie ursprünglich erzwungen wurde, als Resultat Konventionen haben, die ein gutes Miteinander erbringt.

aber auch nur dem Inhalt nach.
Das Verhalten kann genau dasselbe sein.

Servus,

  • nur???

Wenn es bei menschlicher Kommunikation um irgendwas anderes als um Inhalt ginge, könnte man doch eigentlich auch mit dem Goldhamster, mit Siri oder mit dem eigenen Spiegelbild babbeln, oder nicht?

Schöne Grüße

MM

Kannst du mir bitte erklären, warum es für ein gutes Miteinander sorgt, wenn ich mich - vielleicht nur bildlich - jemandem dadurch unterwerfe, dass ich einen Knicks mache?

Um solche ausgelutschte Formen ging es doch im UP.

Grüße
Siboniwe

Wenn ich im Büro, auf dem Flur. meinem Chef und einem Angestellten begegne, dann grüße ich „formgebend“ zuerst den Chef und dann den anderen Angstellten.
Was mache ich denn in so einem Moment?
Ich anerkenne eine Hierarchie, ich „unterwerfe“ mich und ich mache keinen Knicks, aber ich erfülle Regeln, die es bis heute gibt.

Fragst du jetzt tatsächlich noch, warum das für ein gutes Miteinander sorgt? oder ist das mit einem heutigen Beispiel deutlicher geworden?

Es geht um ein „Anerkennen, was ist“- und das in einer deutlichen Art und Weise.
Knicks und Diener ist überholt, aber solche Konventionen gibt es immer noch. und man hat doch nicht vor jedem einen Knicks oder Diener machen müssen! Vor Respektpersonen galt das.

Im übrigen sagt sowohl das erste Grüßen des Chefes genauso wenig aus, dass ich ihn gut finde, wie damals ein Knicks- die Freiheit bleibt im Geiste :wink:

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Vor allem der Goldhamster ist zu empfehlen, denn der widerspricht nicht, was vielleicht Siri macht, und er glotzt nicht dämlich zurück, was vielleicht das Spiegelbild macht.

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