Gibt es Einzelheiten in der „Untersuchung des menschlichen Verstands“, die mittlerweile durch naturwissenschaftliche Erkenntnisse ihre Substanz verloren haben? Kann man Hume heute noch lesen, oder darf man sich nur noch aus geschichtlichen Gründen für ihn interessieren? Danke
Servus,
wie sollte ein philosophisches Werk „duch naturwissenschaftliche Erkenntnisse seine Substanz verlieren“? Kannst Du das abstrakt beschreiben oder vielleicht auch konkrete Beispiele benennen?
Vor allem aber fände ich es interessant, wer und auf welcher Grundlage nach Deiner Ansicht entscheidet, wofür man sich interessieren darf?
Schöne Grüße
MM
Guten Tag Aprilfisch
Da die Rationalisten und Empiristen ihre Systeme auf eine grundsätzlich nicht metaphysische Grundlage aufbauen, besteht für mich theoretisch tatsächlich die Möglichkeit, dass neueste naturwissenschaftliche Erkenntnisse die Fundamente ihres Systems erschüttern. Dies im Gegensatz zu spekulativeren Richtungen des Philosophierens.
Bei Hume fällt mir spontan gerade eine Stelle ein (leider bin ich unterwegs und habe das Werk nicht bei mir), wo er über den Übertragungsweg des Willens in die Körperglieder spekuliert und zum Schluss kommt, es sei dafür keine „Kraft“ im Sinn des Begriffes nötig. Es würde mich interessieren, ob diese These noch heute verhält.
Mein Problem ist: Ich liebe Hume und Kant (vor allem Hume), habe aber nie studiert und kann deshalb nicht beurteilen, ob ich mich auf einen naturwissenschaftlich überholten Weg begebe, wenn ich ihnen folge. Hume selbst würde gesicherten naturwissenschaftlichen Erkenntnissen sicher nicht widersprechen.
Also grundsätzlich: Widerspricht heute dem Empirismus oder konkret Humes „Verstand“ mehr als zu Zeiten ihres ersten Erscheinens? Danke.
Der Rationalismus der frühen Neuzeit hat sehr wohl auf metaphysischen Prämissen aufgebaut. Es war ja gerade der Empirismus, der dagegen aufbegehrte.
Diese Stelle liest sich etwas anders. Hume sagt nicht, dass „keine Kraft nötig ist“, sondern dass diese Kraft „uns völlig unbekannt ist“ und wir sie „nie begreifen werden“. Dagegen ist natürlich das bekannte ´Sag niemals nie´ einzuwenden, das ganz besonders in der Wissenschaft gilt.
Was deine Anfrage im letzten o.z. Satz betrifft, so ist natürlich klar, dass sich die Naturwissenschaft mit der Auffassung, es sei völlig sinnlos, nach einer bestimmten Ursache zu suchen, absolut nicht zufriedengeben kann und darf. Sinn und Zweck der Naturwissenschaft ist ja gerade die Ursachenforschung im Bereich der Natur. Hier geht es nur um praktische Vorhersagbarkeit und nicht um philosophische Bedenken über das Wenn und Aber der Kausalität.
Humes Text:
Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand
VII. Von der Vorstellung der notwendigen Verknüpfung
(…)
Die Kraft, vermöge unser Wille diese Wirksamkeit auf den Körper entfaltet, ist uns völlig unbekannt, und aus drei Gründen müssen wir die Hoffnung wohl aufgeben, sie jemals zu begreifen:
Die Wirksamkeit des Willens ist beschränkt und unvollkommen, denn hätten wir die Macht, die Welt gemäß unseren Wünschen zu kontrollieren, so wäre müssten wir diese Kraft auch kennen und verstehen, wie der Geist fähig ist auf Materie einzuwirken.
Wir sind nicht immer in der Lage (Krankheit, Lähmung), unseren Körper gemäß unseren Willens zu bewegen, obwohl wir in allen Fällen ein Bewusstsein der Kraft haben. Folglich sind wir uns niemals irgend einer wirklichen Kraft bewusst, und wir lernen den Einfluss des Willens lediglich aus der Erfahrung kennen.
Die Kraft wirkt nicht direkt in den Körperteilen, die bewegt werden sollen, sondern indirekt über Muskeln, Nerven, etc., und der Augangspunkt dieser Kette ist selbst rätselhaft und unbegreiflich.
Die Einwände sind alle richtig. Auf meine entscheidende Frage wurde mir aber noch nicht geantwortet. Entweder greift mein Philosophieverständnis zu kurz, oder eine einfache Antwort auf die Frage ist nicht möglich.
Ich werde in den nächsten Monaten Humes Werk in der Originalsprache studieren und grundsätzlich auf seine Aktualität überprüfen.
kann man einen philosophischen Text nicht. Weder muss oder soll Philosophie aktuell sein, noch ist sie irgendeiner Form von „Veralten“ unterworfen.
Schöne Grüße
MM
Ich bin weiß Gott kein Hume-Kenner, aber:
a) Ich denke, sein assoziationspsychologischer Ansatz, der noch bis in die 60er Jahre hinein, den klassischen Behaviorimus befruchtet hat, ist (gemeinsam mit dem klassischen Behaviorismus) heute psychologisch im Grundsatz nicht mehr haltbar.
Sprich: ihn psychologisch zu lesen, ist an dieser Stelle ziemlich witzlos geworden. Insofern kann man sagen, dass er durch den Fortschritt der psychologischen Forschung (die sich ja bekanntlich als Naturwissenschaft versteht) „an Substanz verloren hat“, was immer du damit konkret meinst.
b) Den zweiten Teil deiner Frage kann ich nicht nachvollziehen, denn im philosophischen Diskurs wird Hume doch nach wie vor sehr breit rezipiert, weit davon entfernt, dass er nur noch philosophie-geschichtlich gelesen würde, wie andere, die in ihrer Zeit und in der Zeit danach als wichtige Philosophen galten, aber heute quasi nur noch als Vorläuferfiguren gelesen werden, ohne dass es primär um ihre philosophische Originalität ginge. Da ist Hume ganz weit davon entfernt.
Gruß
F.
MM, ich glaube, Dir im speziellen Fall Humes widersprechen zu dürfen. Sein Ziel war die Bestimmung des Wissbaren und die Verwerfung des Spekulativen. Würde er heute leben, würde er die naturwissenschaftlichen Fortschritte mit Sicherheit in sein Philosophieren einbeziehen.
Wenn ich mir allerdings überlege, dass schon Kant in seiner transzendentalen Ästhetik in hohem Masse spekulativ war, hast Du allerdings recht, und Hume wird - auch wenn sich sämtliche seiner Theorien als falsch herausstellen würden - allein aufgrund seiner Absichten und der von ihm eingeschlagenen, vernünftigen Richtung, seinen Status absolut bewahren.
Dass Du das Problem der Aktualität mit 80% der Philosophien nicht hast, ist klar - denn was vor 500 oder 1000 Jahren eine irrationale, metaphysische Spekulation war, bleibt es auch heute und in Zukunft noch.
Du hast ihn aber offenbar genau richtig verstanden.
Genau diesen Satz wollte ich von einem Fachmann hören, vielen Dank !
Bleibt nur noch zu klären, wie ich mich jetzt nennen soll, da ich nach JAHREN der Suche „meinen“ Philosophen endlich gefunden habe. Neohumist?
dito bleibt Materialismus, was er für Claude Helvétius und im Grundsatz auch für Demokrit von Abdera war, er ist nicht von Wladimir Iljitsch Uljanow erfunden worden und auch nicht von Karl Raimund Popper aufgehoben, überwunden oder abgeschafft worden: Er hängt, was sein Verhältnis zu den Naturwissenschaften betrifft, keineswegs davon ab, in welchem Maß die Neurophysiologie die biochemischen Grundlagen beschreiben kann, die den Geist hervorbringen und ohne die es ihn nicht gäbe.
Wenn David Humes ‚Untersuchung über den menschlichen Verstand‘ einen naturwissenschaftlichen oder medizinischen Gegenstand hätte, mithin durch Fortschritt in den Naturwissenschaften oder der Medizin ungültig werden könnte, wäre sie vollkommen anders aufgebaut und man fände dort ganz andere Thesen mit ganz anderen Begründungen.
Schöne Grüße
MM
Da hast Du allerdings recht. Bei Hume finde ich aber keinen Materialismus.
Sie hat ihn nicht in erster Linie, aber die Untersuchungen begannen da, wo diese Erkenntnisse im 18. Jahrhundert aufhörten. Damit könnten ihre Ergebnisse, die als Fundament zum Aufbau eines weiteren Denkgebildes dienten, ihre Tragkraft verloren haben. Dies möchte ich bei meiner kommenden Lektüre der „Philosophical Works“ Bd. 1-4 versuchen, auszuloten.
Das klingt so nach Kuhmist …
Humaniac?
Gruß
F.