Ich möchte an mich denken

Darf ich meinen Lebensabend am Meer verbringen?

Ich bin 70 Jahre alt, mein Mann 62. Wir haben zwei behinderte Söhne, 35 Jahre Tourette Syndrom, der andere 30 Jahre, Autist. Der Autisten Junge hat den Führerschein und lebt seit fast zwei Jahren mit einem wunderbaren Mädchen zusammen. 29 Jahre waren wir für ihn da, um Ratschläge usw. Zu geben.

Der andere junge zieht ans Meer an die Cote dazur und wird in Cannes arbeiten. Eine Beziehung für ihn ist nicht so einfach. Wir haben uns entschieden, im Frühjahr zu ihm in den Süden zu ziehen. Nur unser Sohn hier rastet aus.

Haben wir nach unseren Pflichten nicht jetzt auch einmal das Recht, an unsere Wünsche zu denken? Es kann ja sein, dass wir nach zwei Jahren wieder zurückkehren, das lassen wir in Aussicht. Gestern Abend hat es wieder Vorwürfe gegeben. Außerdem würde der Autisten Junge dann beginnen, Drogen zu nehmen. An Arbeit denkt er nicht, seine monatliche Unterstützung vom Staat genügt ihm. Seine Lebensgefährtin arbeitet sehr zuverlässig bei einem Discounter. Er schläft am Tag und lebt in der Nacht an tiktok.

Wie kann ich mir Selbstvorwürfe entwerten, ich mag nur noch Ruhe und Frieden. Er kann jederzeit zu uns kommen. Den Flieger würden wir zahlen. Nein, er mag uns in seiner Nähe

Hallo,

Möglicherweise ist das nicht der Hintergrund. Viele Menschen im Autismus-Spektrum können mit Veränderungen nur schwer umgehen. Ihr wart die vergangen 30 Jahre für ihn eine Konstante - möglicherweise die einzige. Und diese Konstante soll jetzt wegbrechen. Dabei kann es egal sein, wie oft Ihr Euch seht, jeden Tag, jede Woche, jeden Monat oder nur alle Viertel Jahre. Allein die verlorene Möglichkeit kann seine Vorstellung der Welt bereits erheblich ins Wanken bringen, das Fundament seines Lebens erschüttern.

Aber vermutlich ist Dir das bekannt, wenn Du ihn schon 30 Jahre lang erlebst…

Doch. Natürlich. Auf jeden Fall. Das steht völlig außer Frage. Vielleicht hätte man dem Sohn diese Veränderung anders nahe bringen müssen. Hätte, hätte…

Auch das scheint mir nicht ungewöhnlich. Aus seiner Sicht seid Ihr dabei, seine Welt zu verändern. Und wie schon geschrieben, damit wird er wahrscheinlich ein grundsätzliches Problem haben. Bei vielen Autisten wird eine plötzliche Überlastung bei hohen seelischen Anforderungen häufig beobachtet. (Overload) Sie wird gerne mit dem Ausbruch eines Vulkans vergleichen. Lange Zeit ist alles ruhig, aber mit einem mal ist alles eine große Katastrophe. (Meltdown) Das Abklingen dieses Zustands kann stunden-, tage- aber auch wochenlang anhalten.

Er scheint mir mit der Situation bzw. der Vorstellung der kommenden Situation maßlos überfordert zu sein und nach jedem Strohhalm zu greifen, auch zu Erpressung und Schuldzuweisung. Könnte man vielleicht schon jetzt, wo Ihr noch verhältnismäßig dicht dran wohnt, eine Art Fernbeziehung zu führen? Also zum Beispiel ein- oder zweimal pro Woche mit Video zu telefonieren?

Je nach Statistik sind bis zu 90% der Menschen im Autismusspektrum nicht in den Arbeitsmarkt zu integrieren, der sich auf neurotypische Menschen eingestellt hat.

Verzeih mir bitte meine sehr rationale Betrachtung in den folgenden Sätzen. Rein statistisch seid Ihr Eltern in einem Alter, wo starke Änderungen im Leben tagtäglich wahrscheinlicher werden. Schwere, plötzliche Erkrankungen, Pflegebedürftigkeit und … nun ja … auch der Tod ist inzwischen näher als die Geburt. Das letzte Ereignis des Lebens ist zu Einhundert Prozent sicher. Lediglich der Zeitpunkt und der Weg dahin sind variabel.

Wenn man dem Sohn diese kommende Tatsache ruhig, rational, möglichst wenig emotional aufgeladen nahebringt, ist er möglicherweise eher in der Lage zu akzeptieren, dass eine Entfernung, eine Trennung in Raten sozusagen, einen Vorteil für ihn darstellen kann.

Aber letzten Endes bleibt für Euch eine Entscheidung treffen, die nur Ihr alleine treffen könnt. Entweder ihr nehmt bis an Euer Lebensende Rücksicht und steckt für den neurodivergenten Sohn zurück. Oder ganz krass gesagt: ihr opfert ihm Euer Leben. Oder ihr sucht nach vielen Jahrzehnten Euer Glück und nehmt es in Kauf, dass er möglicherweise versagt und vielleicht „versackt“…

Hat der Sohn noch andere „Ankerpunkte“, die ihm, neben der Freundin, bleiben? Zum Beispiel eine psychologische Betreuung? Ein, zwei wirklich gute Freunde? Die könnten es ihm vielleicht etwas einfacher machen.

Wie zeitlich dringend ist der Umzug für Euch? Scheint es Euch möglich, in einer, für ihn sicheren und ruhigen, reizbefreiten Situation und Umgebung mit ihm das Thema rational anzugehen? Ist es möglich, mit ihm die Schritte Eures Umzugs zu besprechen, damit er für ihn erträglicher wird?

Viel Kraft
Pierre

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Ich werde vielleicht doch nicht an mich denken, ich werde überlegen, ob es irgendwann doch möglich ist. Dem Tourette Jungen wäre sehr geholfen, ihm an der Seite zu stehen. Er flüchtet in den Süden, um seine große Liebe vergessen zu können. Ganz schöne Zwickmühle

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