Imperativ Singular 'Sein'

Liebe Dialektiker,

beim Plündern der Tomatenstöcke im Garten ist mir beim Kläffen eines nachbarlichen Hundes der schon fast aus meinem aktiven Wortschatz weggerutschte See-alemannische Imperativ „Bis jetz rüabig!“ wieder in den Sinn gekommen. Es ist wirklich ein Imperativ, die rhetorische Frage „Bischt jetz rüabig?!“ klänge anderst.

Im Vergleich klingt das standarddeutsche „Sei jetzt ruhig!“, als sei das „sei“ aus dem Konjunktiv herübergerutscht, ungefähr „Mögest Du ruhig sein!“, und als habe es einen Imperativ, der der zweiten Person Ind. Präs. ähnelt, auch sonst noch gegeben.

Hierzu die Fragen: (1) in rebus alemannicis immer interessant: Wie weit geht diese Imperativbildung nach Süden, vielleicht auch nach Osten? und (2) in welchen anderen deutschen Dialekten taucht sie eventuell noch auf?

Wer weiss was?

Schöne Grüße

MM

Hi,
so ganz verstehe ich die Fragen nicht, trotzdem mein Senf, aus der Gegend südlich von Stuttgart:

„Bis jetz rüabig!“

Bisch jez ruig! (Betonung auf Bisch), auch: Sei ruig!

„Bischt jetz rüabig?!“

Bisch jez ruig? (Betonung auf ruig)

Gruss,

Hallo Martin!

Jajaa, auch in Wien und Umgebung gibts die schöne Wendung:

„Ja, bist (jetzt) ruig?!!“

Dürfte also eher weit verbreitet sein.

Gruß
Barney

Rückmeldung aus der Schweiz:

Auch hier sagt man „bis rueig“ oder „sig rueig“ - letztere Variante afaik eher in der Nordschweiz (Region Basel) verbreitet, wo das Schwäbische seinen Einfluss auf den Dialekt ausübt.

Gruss

Wiesel

Wer weiss was?

Haidablitz, Martin, dees isch widda a scheene Frôg!

In der Tat wird ja der Imperativ im Singular von der zweiten Person Singular des Indikativs gebildet unter Weglassung der Personalendung:

Und zwar so:

du lachst => lachst => lach!

Bei „sein“ aber gibt es nicht die Form:

du bist => bi(s)st => bi(s),

sondern man hat hier in der Tat auf die Form des Konjunktivs I zurückgriffen.

Wann und wo zuerst und warum, ist mir im Moment noch unbekannt, aber die Frage interessiert mich und ich werde gucken, wo ich kann.

Als Verbreitungsgebiet dieser Form vermute ich den gesmaten oberdeutschen Sprachraum.

Ich kann aber noch hinzufügen, dass ich mittelhochdeutschen Texte sehr oft auf den Imperativ gestoßen bin.
Ich habe diese Belege leider nicht gesammelt und notiert, aber einer ist mir im Gedächtnis geblieben.
In einer Sammlung von Gedichten in Meistersangtönen etwa aus der Übergangszeit von 14. zum 15. Jhdt las ich, und der Text mag erklären, warum ich den Anfang im Kopf behielt:

lr iungen diêt / piz nît zu geil … , was in heutigem Deutsch hieße:

Ihr jungen Leute, seit nicht zu ausgelassen …!

Die Form „Sei“ als Imperativ dürfte also eine frühneuhochdeutsche sein.

Gruß Fritz

Servus Barney,

„Ja, bist (jetzt) ruig?!!“

dieses ist aber die Form der rhetorischen Frage, nicht der eigentliche Imperativ, wörtlich „sei ruhig!“. Der Imperativ „bis!“ kommt mir eher eng umgrenzt vor. Dafür spricht auch, dass er dort, wo ich ihn herhabe, von unter 60jährigen fast bloß noch passiv beherrscht wird und durch „Sei ruhig!“ auch im Dialekt verdrängt wird.

Schöne Grüße

MM

Ehe die Kümmelspalter kommen!

lr iungen diêt / piz nît zu geil … ,

Ich hab mir halt bloß dies Beispiel im Plural gemerkt. Toute malade!
Fritz

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Lieber Fritz,

dieser schöne Ausflug in meinen liebsten Aspekt des Alemannischen - dessen Gestalt als hie und da überraschend gut konserviertes Mittelhochdeutsch - ist keine Kümmelspalterey wert. Darüberhinaus hab ich diesem Ausflug ordentlich in Regeln formuliert Dinge entnommen, die ich bloß „gefühlsmäßig“ kannte.

Auf wie auch immer geartete Kümmelspalterey hilft ggf. das auch nicht ganz Neue:

„Frô Welt, ich hân ze vil gesogen…“

In diesem Sinne

MM

Hierzu die Fragen: (1) in rebus alemannicis immer interessant:
Wie weit geht diese Imperativbildung nach Süden, vielleicht
auch nach Osten? und (2) in welchen anderen deutschen
Dialekten taucht sie eventuell noch auf?

Wer weiss was?

Hallo Martin.
Und nach Nordwesten.
Im Kölner Dialekt heißt die Form: „Bes stell!“
Man kennt in der Schärfe nuanciert:
a) „Bes doch ens stell!“ > verbindliche Bitte.
b) „Bes stell“ > klare Aufforderung
c) „Jez bes endlich stell, söns krester en Juuf!!!“ > Ultimative Aufforderung vor den Konsequenzen.
Apropos See-Alemannisch. Mir macht es immer Spaß wenn ich dort unterwegs bin und die älteren Leute Dialekt reden höre. Das Hilfszeitwort ‚sein‘ scheint dort überhaupt eine Sonderstellung einzunehmen. Wenn die Kellnerin beim Geschirr abräumen fragt. „Isch guet gsi?“ (Raum Bregenz) dann glaube ich dass das eine logische Vergangenheitsbildung von ‚sein‘ > ‚geseint‘ an Statt von ‚gewesen‘ ist und alte Wurzeln hat. Aber ich kann mich täuschen.
Mit freundlichen Grüßen
Alexander Berresheim

Hallo,

Apropos See-Alemannisch. Mir macht es immer Spaß wenn ich dort
unterwegs bin und die älteren Leute Dialekt reden höre. Das
Hilfszeitwort ‚sein‘ scheint dort überhaupt eine
Sonderstellung einzunehmen. Wenn die Kellnerin beim Geschirr
abräumen fragt. „Isch guet gsi?“ (Raum Bregenz) dann glaube
ich dass das eine logische Vergangenheitsbildung von ‚sein‘
> ‚geseint‘ an Statt von ‚gewesen‘ ist und alte Wurzeln
hat.

Mich fasziniert das auch. Ich bin von Tübingen „gwea“ nach Haigerloch „gsei“ gezogen und hab neuerdings einen Freund aus Schramberg „gsi“. Die genaue Grenzlage kenne ich aber nicht.

Gruß

Andrea (neigschmeckt)

Mich fasziniert das auch. Ich bin von Tübingen „gwea“ nach
Haigerloch „gsei“ gezogen und hab neuerdings einen Freund aus
Schramberg „gsi“. Die genaue Grenzlage kenne ich aber nicht.

Hallo Andrea.
Ich sehe da aber einen Unterschied. ‚gwea‘ scheint mir ein ‚verdialektiertes‘ ‚gewesen‘ zu sein, während ich ‚gsei, gsi‘ als eigenständige Vergangenheitsformen von ‚sein‘ betrachte.
Mit freundlichen Grüßen
Alexander Berresheim

etwas ot
Hallo Martin,

bei Deiner Hundedressur fiel mir auch das schon fast vergessene Wort „rüabig“
wieder ein und dazu noch ein paar ähnliche: „grüabig“ zum Beispiel, das ebenso
mit ruhig zu tun hat und eher in Richtung „gemütlich“ geht. Und „häbig“, das vom
Sinngehalt her dem „rüabig“ naäher kommt: anständig, ruhig, gut zu haben.

Danke für den Anstoß!
Bolo

Servus Alexander,

die gsei/gwea-Grenze ist eine der wichtigen für die Grenze Schwäbisch/Alemannisch. Insofern hat die Vergangenheitsbildung „gsei, gsi“ mit der Imperativbildung „bis“ einen wenn auch ziemlich indirekten Zusammenhang.

Umso mehr freut mich das Kölsche „bess“, welches Du vermeldet hast: Ich finde den Rhein ziemlich interessant betreffend die Verbreitung sonst oberdeutscher Formen Richtung Norden (sone Dinge wie „ich hann“, wo gleichzeitig schon weg vom Rhein im Hessischen viel weiter südlich ein „ich hebb“ zu hören ist, welches schon fast nach „ik hef“ klingt). Ob das mit der römischen Besatzungszone und der von ihr hinterlassenen Infrastruktur zu tun hat?

Schöne Grüße

MM

Hallo, lieber Martin,

ich habe jetzt nach Sprachkarten gesucht, aber keine zu deiner Frage passenden gefunden.
Am ehesten käme die Karte aus dem dtv-Atlas zur deutschen Sprache mit den Diminutivendungen in Frage.

Dieses Büchlein ist auch sonst recht hilfreich in solchen Fragen.

Hast du die greifbar?
Wenn nicht, kann ich sie scannen und schicken.
Wobei Alexanders Hinweis etwas quer steht.

Gruß Fritz

Servus Fritz,

achja, der dtv-Atlas. Haben hab ich ihn schon, auch schon viel mit Genuss gebraucht. Er wird nicht weit von dem Karton sein, in dem die Detailkarte von der Schwäbisch-Alemannischen Sprachgrenze in der Waldsee-Kisslegg-Wangener Gegend Stand 1935 ist, die ich Dir schon lang versprochen habe. Wo der Karton selber sich aufhält, entzieht sich nebbich meiner Kenntnis.

Will sehen, was die Winterabende in dieser Hinsicht bringen.

Schöne Grüße

MM

Servus, Martin!

achja, der dtv-Atlas. Haben hab ich ihn schon, auch schon viel
mit Genuss gebraucht. Er wird nicht weit von dem Karton sein,
in dem die Detailkarte von der Schwäbisch-Alemannischen
Sprachgrenze in der Waldsee-Kisslegg-Wangener Gegend Stand
1935 ist, die ich Dir schon lang versprochen habe. Wo der
Karton selber sich aufhält, entzieht sich nebbich meiner
Kenntnis.

Daran erkennen sich glückliche Bibliothekenbesitzer!! :wink:

Ich habe derzeit - nach fünf Jahren in der jetzgen Wohnung! - alle zugänglich, muss aber bisweilen doch überlegen und suchen, ehe ich ein gesuchtes Buch gefunden habe.

Gruß Fritz

Wenn ich eine oder zwei Minuten übrig habe, suche ich nach „sey/sei/seyt/seit“-Imperativen bei den Epikern und Minnesängern; habe aber bisher noch keine gefunden.

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In der Tat wird ja der Imperativ im Singular von der zweiten
Person Singular des Indikativs gebildet unter Weglassung der
Personalendung:
Und zwar so:
du lachst => lachst => lach!
Bei „sein“ aber gibt es nicht die Form:
du bist => bi(s)st => bi(s),
sondern man hat hier in der Tat auf die Form des Konjunktivs I
zurückgriffen.

So gesehen,
Fritz,
ist der bairische Imperativ Singular „bi“ [langes i gesprochen] ganz regelmäßig und allgemein gebräuchlich, „sei“ hört man nur in dialektfernerem Milieu.
Aus dem Allemannischen ins Bairische übersetzt hieße der fragliche Ausdruck also „Bi schdàd!“
Aber würde das nicht auch zu der ahd-Regel passen, dass für den Imperativ Singular die 1. Person Sg. Präs. Ind. maßgeblich ist:
bim/bin -> bi.
Im Mhd lautet der Imperativ von „sin“: „bis“ und „wis“.

Allerdings kennt man in der Oberpfalz (und wohl auch in der Sprache des Egerlands) den bairischen Imperativ „bi“ nicht. Da heißt es „sà!“ [langes helles a] (also: sei!). Soll der Befehl besonders nachdrücklich klingen, sagt man: „Bist (niad glei) schdàd!“ [Bist du nicht gleich ruhig!]. Das gibt s aber auch sonst im Bairischen: „Bihst ned glei schdàd!“

Soviel, um vielleicht etwas Suchen im Sprachenatlas zu ersparen.

Als Verbreitungsgebiet dieser Form vermute ich den gesmaten
oberdeutschen Sprachraum.

Ich hoffe, wir hören noch Näheres?

Die Form „Sei“ als Imperativ dürfte also eine
frühneuhochdeutsche sein.

„sey“ neben immer noch „biß“, „wis“ und „wes(e)“. Wie lautet dieser Imperativ in der Lutherbibel und in der Kanzlei Karls IV.?

Gruß
H.

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Je länger ich mich
mit dieser Frage beschäftige, desto fraglicher wird mir die Sache.

Schon Martins Ausgangsaussage, dass es einen Unterschied gäbe zwischen dem

See-alemannischen Imperativ „Bis jetz rüabig!“

und der imparativisch gemeinten

rhetorischen Frage „Bischt jetz rüabig?!“

ist mir fraglich geworden.

Ich muss also zu dem von mir bisher Gesagten eine Reihe von Fragezeichen anhängen.

So lässt sich die von mir genannte Ableitung des Imperativs nur für die 2. Pers. Sing. behaupten.

Für die Pluralformen wurde schon im mittelhochdeutscher Zeit der Optativ (formal: Konjunktiv) verwendet. Und die ist bei „sein“ auch auf den Imperativ Singular übertragen worden.

Und angesichts der vielfältigen Umschreibungen für den Imperativ

  • Jetzt wird aber geschlafen!
  • Wirst du wohl still sein!
  • Bist du jetzt endlich still!
  • Jetzt bist du aber still!
  • Stille!

gilt es jetzt wohl zunächst Belege zu sammeln und zu vergleichen. Etwa in der Lutherschen Bibelübersetzung oder in Zeugnissen der kaiserlichen Kanzleien.

Und dazu braucht es ein wenig Zeit.

Gibt es denn Dissertation zu diesem Thema?

Ein wenig resigniert
Fritz

Imperativ vs. rhetorische Frage

Hallo,

„Bist (niad glei) schdàd!“ [Bist du nicht gleich ruhig!].

das ist eh ein gutes Beispiel dafür, dass sich wahrscheinlich gar nimmer klären lässt
ob es sich um einen alten Imperativ oder um eine rhetorische Frage handelt.
In dem Bonmot von Gustl Bayrhammer kommt das recht schön zur Geltung,
wenn er über seinen Dackel sagt:
„Mein Hund, der folgt mir prinzipiell aufs Wort: wenn i sag Bist jetzt glei stad oder ned!
dann is er glei stad. Oder ned.“

Grüße, Michl

Hallo, Fritz,
ich mag zwar völlig daneben liegen, aber ich sehe hier keine Imperativ-Formen. Für mich sind das ganz normale (rethorische) Fragesätze. Da sie üblicherweise im Befehlston hervorgestoßen werden, beendet sie ein Ruf- statt eines Fragezeichens.

Gruß
Eckard

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