Mir nicht.
Ich habe das Abi 1979 gemacht - einer der wenigen Lehrer, die ich dauerhaft in guter Erinnerung behalten habe, war Robert Dietle, bei dem ich u.a. Deutschunterricht hatte. Robert Dietle hat stets mit einiger Verachtung von „Interpretationen“ gesprochen - er war der Ansicht, dass man keinen Text, egal ob Poesie oder Prosa, zum Scherz ‚interpretieren‘ sollte, weil Texte den Schmerz genauso spüren wie Du oder ich.
Er gehörte zu den letzten Jahrgängen, die mit drei Fächern das Lehramt für Gymnasien angetreten haben. Seine waren Deutsch - Geschichte - Mathe, fachfremd hat er außerdem auch Französisch und Kunst unterrichtet.
Mit einer achten Klasse hat er mal am ‚Wandertag‘ (ich weiß nicht, wie das heute heißt und ob es sowas noch gibt) eine frisch gefällte riesige alte Fichte aufgesucht, den Stamm vermessen und auf dem unteren Abschnitt, wo dieser annähernd zylindrisch ist, sein Volumen bestimmt. Ein halbes Jahr später im Kunstunterricht (es war damals noch erlaubt und möglich, mit einer Klasse Oberschüler Holz zu bearbeiten) wurde aus dem nämlichen Stamm (der Baum war krank gewesen, das Holz hatte keinen bedeutenden Marktwert) das vorher im Unterricht besprochene Trojanische Pferd geschaffen. Parallel entstand im Deutschunterricht eine szenische Darstellung des Verrats der Griechen an Troja, nach der Vorlage Homers, aber eben mit einem modernen Text. Und zur Krönung des Ganzen wurde diese dann inszeniert und von den Schülern aufgeführt.
So kann man im Unterricht auch mit Texten umgehen.
Zur einführenden „Tafelspitz“-Szene von Joseph Roths „Radetzkymarsch“ bekamen wir, sechzehnjährige Bengel, die Hausaufgabe, uns in einer Metzgerei erklären zu lassen, was Tafelspitz ist. Robert Dietle wusste, welche Geste zur Erklärung, wo der Tafelspitz zu finden ist, ausnahmslos jede Fleischereifachverkäuferin machen würde - und wir lagen ihm natürlich zu Füßen, mehr oder weniger.
Ich hoffe, das hilft Dir, einen anderen Blick auf Deutschunterricht zu entwickeln.
Schöne Grüße
MM