Gegenwärtige idealistische Strömungen
Hi Lisa.
Ist der Idealismus heute noch ein Thema?
Die Titelfrage ist nicht dieselbe wie:
wird in der heutigen (akademischen) Philosophie der Idealismus noch ernst genommen…?
Frage 1 lässt sich uneingeschränkt mit „Ja“ beantworten, wenn du mit ´Idealismus´ eine Anschauung meinst, die dem „Geist“ das ontologische Primat einräumt und die Materie als vom „Geist“ abgeleitet und damit als sekundär einstuft. Was 2 betrifft, habe ich zu wenig Übersicht, aber es gibt positive Beispiele, vor allem in den USA, worauf ich weiter unten eingehe.
Die idealistische Anschauung kann in sehr verschiedener Weise auftreten, als Philosophie, als Religion oder als esoterisches System. Lassen wir letzteres mal beiseite und beschränken wir uns auf Philosophie und Religion.
Zwei in unseren Tagen auch im Westen verbreitete Religionen bzw. religiös konnotierte Anschauungen sind vor allem der Buddhismus, aber auch der hinduistische Vedanta. Beide sind idealistische Systeme, denn sie interpretieren das Weltganze als ´geistig´, wenn auch nicht expressiv verbis, aber doch dem Sinn nach. In diesen Systemen hat das ´Bewusstsein´, wie auch im Deutschen Idealismus, einen sehr hohen existentiellen Stellenwert, was sie von materialistischen Systemen unterscheidet, die dem Bewusstsein einen von biologischen Prozessen abgeleiteten Status zusprechen, der ohne existentielle Bedeutung ist.
Im philosophischen Bereich sehe ich vor allem die Lehre des Amerikaners Ken Wilber (Info über ihn ganz unten verlinkt) als ein Beispiel für zeitgenössischen Idealismus (bei Wilber in den Grundlagen vom Vedanta und Buddhismus geprägt). Ich gehe hier nicht auf Details seiner Lehre ein, da sie extrem umfangreich ist, du kannst sie aber über den verlinkten und weiterführende Artikel erfahren. Wilbers geistiger Einfluss ist speziell in den USA ungeheuer, Bill und Hillary Clinton sind seine bekanntesten Fans, und seine Lehre ist Lehrstoff an Universitäten in der USA, in Japan usw. und auch in Deutschland (z.B. Uni Oldenburg, Uni Freiburg). Er wurde vom Bush-Umfeld und von Bushs Bruder Jeb vor dem Irakkrieg zur Einmarschfrage konsultiert, man zog dann aber die Ratschläge eines rechten Christfundamentalisten, Tim LaHaye, den seinen vor.
Diese Beispiele belegen, dass Idealismus heutzutage ganz und gar nicht out ist. Die Wurzel des Idealismus ist die Mystik, und diese ist ein weltanschaulicher Klassiker, der nie aussterben wird. Bekanntlich gehen Hegels und Schellings Lehre in hohem Maß auf die Lehren von Mystikern zurück, insbesondere des Neuplatonikers Plotin und des deutschen Mystikers Jakob Böhme. Hegel war zudem mit Franz von Baader befreundet, welcher für seine mystische Weltsicht bekannt ist.
Mystik ist auch der Kern von Buddhismus und Vedanta, insofern man bei ersterem das unmittelbare Erkennen der `Buddha-Natur´ und beim letzteren das Einswerden mit ´Brahman´ als mystische Erfahrung bezeichnen kann. Bei Wilber ist dies auch ein ständiges Thema, und zwar nicht nur auf dem Papier, sondern auch als lebenspraktisches Motiv.
Was den Materialismus betrifft:
Da hat Metapher vielleicht recht, wenn er schreibt, dass es nur „an der Oberfläche der Öffentlichkeit so aus(sieht)“, als sei solche Anschauungen dominant. Laut einer Umfrage glauben in den EU-Staaten nur 18 Prozent der Bevölkerung, dass es weder einen „Gott“ noch eine spirituelle Kraft gibt. Diese 18 Prozent dürften wohl mit den „Materialisten“ identisch sein.
Auf die von dir angesprochene Philosophie-des-Geistes-Debatte bin ich hier schon x-mal eingegangen, daher beschränke ich mich jetzt auf ein paar Kernpunkte. ´Beweisen´ will ich damit nicht die Geist-ist-primär-Prämisse des Idealismus, aber zumindest die Existenz von ´Geist´.
In der westlichen Debatte spielt das sog. Qualia-Argument (Singular „Quale“ = Inhalt einer mentalen Erfahrung) eine wichtige Rolle, das die Befürworter der selbständigen Existenz des Geistigen gegen die Naturalisten vorbringen.
Nehmen wir – geläufigstes Beispiel – die Farbe Rot. Objektiv besteht Rot aus elektromagnetischen Schwingungen mit der Wellenlänge 650 - 750 nm und der Wellenfrequenz 462,5 – 400,5 Hhz. Dagegen ist Rot in subjektiver Hinsicht eine sinnliche Wahrnehmung mit einer bestimmten Qualität, der man die Frequenzen usw. absolut nicht „ansieht“.
Aufgrund des Qualia-Arguments behaupten viele, dass das Geistige (also die Dimension der Qualia) eine von der physischen Dimension unabhängige Existenz hat, da nicht erklärbar ist, wie sich der Übergang vom Quantitativen (Frequenzen) zum Qualitativen (Farbe) innerhalb der quantitativen Dimension (dem Materiellen) vollziehen kann.
Das Geistige ist also ständig „vor unser aller Augen“, aber die Materialisten/Naturalisten sehen es nicht.
Chan
http://de.wikipedia.org/wiki/Ken_Wilber
http://de.wikipedia.org/wiki/Qualia