Ist die freie Rede in den Parlamenten schon abgeschafft?

Aktuell: Der fraktionslose AfD-Politiker Ludwig Flocken ist nach einer Reihe von Beleidigungen erneut aus einer Bürgerschaftssitzung ausgeschlossen worden. Der Abgeordnete habe sich nach Paragraf 48 der Geschäftsordnung einer „gröblichen Verletzung der Ordnung des Hauses“ schuldig gemacht, sagte SPD-Parlamentspräsidentin Carola Veit am Mittwoch nach der Aktuellen Stunde. Der Ausschluss erfolge wegen seiner Wortwahl gegenüber der Bundeskanzlerin, den Grünen und einzelnen Mitgliedern der Bürgerschaft, so Veit. Gleichzeitig forderte sie Flocken auf, sofort das Parlament zu verlassen.

Man kann sich im Link die ganze Rede anhören. Flocken bezog sich ganz offensichtlich auf reale Vorfälle, selbst wenn die Pinkelposse schon recht lange her ist. Warum sehen sich die Parlamentspräsidenten so oft genötigt, in die Reden inhaltlich einzugreifen, indem sie Sanktionen aussprechen, wenn ihnen der Inhalt nicht gefällt?

Im EU-Parlament will man wohl unterdessen Schulz’ Erbe antreten, und das mit einer Änderung der Geschäftsordnung: Doch mit dieser Art der Offenheit soll es laut einer neuen Regel nun vorbei sein. Kommt es zu „diffamierenden, rassistischen oder fremdenfeindlichen Äußerungen oder Verhaltensweisen“, darf der Parlamentspräsident den Livestream aus dem Plenum neuerdings unterbrechen. Noch wichtiger: Er kann die entsprechende Passage auch aus dem Onlinearchiv löschen.

Auffällig die Wahl der Begriffe: Da ist von „fremdenfeindlichen Äußerungen“ die Rede, die unterbunden werden müssten. Was ist denn fremdenfeindlich? Wenn man sich etwa auf die unzähligen Integrationsschwierigkeiten muslimischer Einwanderer bezieht, darf man das künftig nicht mehr sagen? Muss man im Umkehrschluss davon ausgehen, dass nur „fremdenfreundliche“, also einwanderungs- und islamfreundliche Aussagen zulässig sind?

Waren die Parlamente nicht einmal die Horte, in denen man alles sagen durfte, solange es nicht die persönliche Ehre anderer Abgeordneter betrifft? Es steht sinngemäß sogar im Grundgesetz (Art. 46 Abs. 1): „Ein Abgeordneter darf zu keiner Zeit wegen seiner Abstimmung oder wegen einer Äußerung, die er im Bundestage oder in einem seiner Ausschüsse getan hat, gerichtlich oder dienstlich verfolgt oder sonst außerhalb des Bundestages zur Verantwortung gezogen werden. Dies gilt nicht für verleumderische Beleidigungen.“

Können die Vertreter der etablierten politischen Strömungen nicht mit Andersdenkenden umgehen? Muss man sich vor diesem Hintergrund Sorgen um unsere parlamentarische Demokratie machen?

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Der erste angeführte Grund war doch nun aber der persönliche Angriff auf einen Abgeordneten Trepoll und auch die anderen Kommentare kann man wohl kaum als differenzierte Kommentare zu „Integrationsproblemen“ bezeichnen.

Aber ich gebe zu: Diese Rede war nicht so schlimm, wie seine Rede im vergangenen Jahr, nach der die AfD den Mann eigentlich auch rauswerfen wollte - auch wenn das gerichtlich gestoppt wurde. Auch Parlamente, grade Parlamente, sind keine rechtsfreien Räume.

PS: Ich frage mich ernsthaft, welches Massaker er eigentlich meinte.

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Also die Aufzählung des Herrn Trepoll schien mir eher eine notwendige um die allgemein gehaltenen Zielgruppe „Mitglieder dieses hauses“ irgendwie zu rechtfertigen.

Mit Massaker kann doch nur das Berliner Weihnachtsattentat gemeint sein, oder?

Warum „Inhalt“?
Ausgeschlossen wurde er Carolae Viti expressis verbis zufolge (4:08) wegen seiner Wortwahl.
Vor allem wurde doch ganz und gar nicht inhaltlich in seine Rede eingegriffen. Er durfte seine Rede ganz offenbar vollständig und genau so wie er sie konzipiert hatte vortragen.

Nein, das waren, wenn schon, die Orte.
In Horten dagegen durfte man traditionell noch nie viel sagen :wink:

Gruß
F.

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Wie oft kommt es denn dazu? In die Rede wurde nicht inhaltlich eingegriffen, sondern Teile nachträglich mit minimalem Mittel sanktioniert. Wobei IMHO hier die Verhältnismäßigkeit nicht gewahrt wurde. Ist ja geradezu lächerliches KITA-Niveau der Präsidentin.

Die Änderung der Geschäftsordnung ist massiv zu kritisieren. Dies aus zweierlei Gründen:

  1. Die Ad-hoc-Entscheidung fällt allein der Präsident und es gibt keinerlei parlamentarische Möglichkeit, seine diktatorische Entscheidung zu kontrollieren. Er könnte einfach alles und jeden „löschen“. Auch eine nachträgliche Kontrolle (durch einen Einspruchsinstanz/ein Kontrollgremium) ist nicht vorgesehen.

  2. Die Unterbrechung des Live-Streams wiegt deutlich weniger schwer als der Eingriff in die Wortprotokolle. Damit aber wird auch „Geschichte“ im wahrsten Sinne gelöscht. Es ist wie das Ausmerzen von Hieroglyphen, weil jemand in Ungnade fiel. Oder die Retusche von Gesichtern auf Fotos wie man es aus ehemaligen Ostblockstaatenn kannte.

Diese Maßnahme wird das Vertrauen der EU-Bürger in seine Institutionen viel tiefer unterminieren als es der gelöschte Redebeitrag könnte. Gerade Abgeordnete haben noch ein viel weitergehendes Maß an Meinungs- und Redefreiheit als der Normalbürger (->Immunität).

In diesem Fall: JA!

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Alles, was andere Menschen von anderen Menschen trotz Notlage pauschal ausgrenzt und als Störfaktor abwertet.

Beispiel:

Beleidigend ist übrigens alles was andere Menschen demütigt, die den von Notlagen Betroffenen helfen, ihre Würde zu erhalten. Es reicht der Versuch.

Beispiel:

Müssen tun immer andere, wenn einem wichtiger ist was man alles darf, anstatt zu tun was man besser sollte.

Noch Fragen?

Gruß mki

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Nicht auszuschliessen ist, dass der Rauswurf auch ein Mittel war, um die Berichterstattung vom eigentlichen Thema des Tages abzulenken.

Wie war das neulich noch mit Deinem Kommentar zu Lammerts Rede vor der Bundesversammlung? Widerwärtige antiamerikanische Hetze? Schon lustig.

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Hallo C.,

das ist pure Verzweiflung.

Gruß, Hans-Jürgen Schneider

Cheffe, vielleicht solltest du dich mal fragen, ob du hier Äpfel mit Birnen vergleichst. War Lammerts Rede mit einer Parlamentsdebatte vergleichbar? Nein, denn es war keine Widerrede möglich.

In einer Parlamentsdebatte dürfen idR alle Fraktionen nacheinander zu Wort kommen und sich zum gleichen Thema äußern. Das ist eben die parlamentarische Auseinandersetzung. In der Bundesversammlung hat dagegen nur Lammert geredet. Es handelte sich somit um einen Beitrag, mit dem Lammert nicht nur seine Fraktion vertrat oder seine Funktion als freier Abgeordneter wahrnahm, sondern mit dem er die gesamte Bundesversammlung repräsentierte. Eine inhaltliche Widerrede war nicht vorgesehen. Entsprechend ist eine erhöhte Zurückhaltung und Diplomatie bei den Formulierungen geboten.

Im Übrigen: Hat Lammert denn eine Sanktion erfahren? Ich meine nicht, während dem geschilderten MdHB später der Ausschluss ausgesprochen wurde. Bei Lammert hatte ich auch keine Sanktion gefordert, ich hatte lediglich implizit Zivilcourage von den Mitgliedern der Bundesversammlung gewünscht. Wer diese Zivilcourage als einzige an den Tag gelegt hat, ist bekannt.

Klar. Warum soll man auch nicht Äpfel mit Birnen vergleichen. Der Apfel ist gemäßigt konservativ und kritisiert durch die Blume den vermeintlichen Heilsbringer der Benachteiligten und Heimatverteidiger und die Birne ist ein nationalistischer Irrer mit einem ausgeprägten Hang zu Beleidigungen und Verunglimpfungen - und Mitglied einer Partei, die sich als Heilsbringer der Benachteiligten und Heimatverteidiger verkaufen will. Siehst: war gar nicht so schwer, den Vergleich herzustellen.

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Die Frustration über die etablierten Parteien und ihre rat- und mutlosen Köpfe, an denen man aber aus alter Gewohnheit und fehlendem Mut vor wirklichen Änderungen festhält, muss schon ganz schon groß sein, dass man zu solchen rhetorischen Rundumschlägen greift. Deine Provokationen verpuffen indes recht schnell, wenn man sich mal eines vor Augen hält: Du bist CDU-Wähler. Vor diesem Hintergrund hast du es wohl auch nötig, so zu reagieren.

Aber das erlebt man in letzter Zeit immer häufiger, diese Rechtfertigungen des Muffs durch künstlich aufgebauschte Abwertung des politischen Gegners. Je mehr Wahlversprechen Trump umsetzt und je erfolgreicher die Briten sich von Brüssel lösen, desto nervöser und aggressiver fallen die Injurien offensichtlich aus.

Dass ich in Wirklichkeit gar nicht die Politiker, sondern die jeweiligen Redesituationen und Anlässe miteinander verglichen habe, ist unterdessen wohl selbstredend.

Bin ich nicht und nicht nur das: im Gegensatz zu Dir bin ich im Stande, meinen politischen Standpunkt von der Einschätzung eines Sachverhaltes zu trennen.

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