Die Brille im Salat
Servus,
man muss nicht verrückt sein, wenn man Dinge hört oder sieht, die andere nicht hören oder sehen, oder Dinge tut, von denen man nichts weiß.
In alltäglichen Situationen passiert das ständig jedem. Denk einfach dran, wie es ist, wenn man etwas sucht und nicht findet, und dann beim Gedanken daran, wie man es zuletzt in der Hand hatte, zu dem Ort und der Situation geführt wird, wo man den Gegenstand vollkommen sinnlos und ohne es zu wissen aus der Hand gelegt hat.
Oder daran, wie man in Zuständen starker seelischer Belastung wie z.B. frischem, stark ausgeprägtem Liebeskummer oder vielleicht auch grenzwertiger Belastung auf der Arbeit oft und fast selbstverständlich z.B. an menschenreichen Orten wie U-Bahn-Stationen hinter sich seinen Namen rufen hört, nachts das Telefon klingeln hört usw.: Die Anlage zum Halluzinieren gehört zu jedem Gehirn, egal ob im landläufigen Sinn „verrückt“ oder „normal“. Besonders die Augen spielen einem im Augenwinkel ständig das schönste Theater vor.
Dass man sich auf das verlässt, was man sieht oder hört, ist völlig normal - nur dass eben das, was man sieht oder hört, einem manchmal vom Gehirn vorgespielt wird. Denk an die vielen Spielereien mit optischen Täuschungen - Augen und Gehirn sind deswegen nicht unbrauchbar, wenn sie manchmal Dinge machen, die nicht zur Wirklichkeit passen. Bloß wenn das zuviel und lästig wird, ist es nützlich, was dran zu tun, weil sich aus diesen kleinen Täuschungen, wenn sie im Übermaß passieren, eine ziemlich störende Parallelwelt zusammenfinden kann.
Vor vielen Jahren, es war in den 1960ern, lebte in der Kleinstadt, aus der ich stamme, eine alleinstehende Frau unter ziemlich ärmlichen Verhältnissen, die buchstäblich keine Frühmesse ausließ. Eine Textilhändlerin am Ort, die sich daran störte, dass diese fromme Frau immer barhäuptig in die Kirche kam (das war damals auf dem Land ungefähr so wie bei vielen Moslems heute), schenkte ihr einen Hut, einen alten Ladenhüter, den sie sonst eh nicht mehr losgeworden wäre. Nach einiger Zeit fragte sie die Beschenkte, ein wenig pikiert: „Jetzt haben Sie doch den schönen Hut von mir bekommen, warum tragen Sie ihn denn nicht, wenn Sie zur Messe kommen?“ und erhielt die Antwort, mit vertraulich gesenkter Stimme: „Ach wissen Sie, dann würde man doch meinen Heiligenschein nicht mehr sehen!“
Wo ist da jetzt die Grenze zwischen „verrückt“ und „normal“?
Schöne Grüße
MM