Ist Raskolnikoff ein existenzialistischer Held?

Hallo,
wie schon oben gefragt, wollte ich wissen, ob raskolnikoff, der Held aus Dostojewskis „schuld und sühne“, als ein existentialistischer Held bezeichnet werden kann. Hierbei geht es mir hauptsächlich um den heideggerischen Existentialismus, und weniger um dem von Sartre.

mfg
Zora

Nee, eher ein armer Neurotiker
Moin
Raskolnikoff fristet sein Dasein irgendwo zwischen Neurose und Persönlichkeitsstörung - da ist bei bestem Willen nix mit Heldentum, auch nicht mit existentialistischem, schon gar nicht nach Heidegger.
Da käme dann schon eher „DER FREMDE“ von Camus zum Tragen.
Gruß,
B.

hallo,
meursaut (der fremde) ist ja aber doch ziemlich ähnlich drauf wie raskolnikoff wenn man bedenkt. nur hat meursaut im gegendatz zu ihm keine ahnung was er tut, als er den araber umbringt…

mfg
Zora

Guten Tag!

wie schon oben gefragt, wollte ich wissen, ob raskolnikoff,
der Held aus Dostojewskis „schuld und sühne“, als ein
existentialistischer Held bezeichnet werden kann. Hierbei geht
es mir hauptsächlich um den heideggerischen Existentialismus,
und weniger um dem von Sartre.

Kann ich nicht beantworten.
Was ein Sartre’scher Existentialismus ist, ist einigermaßen klar.
Die Grundbedeutung Dostojewskis für Sartre ist auch einigermaßen klar.
In den „Maines sales“ lässt er Raskolnikow ja quasi selbst auftreten, wenn auch in gebrochener Weise.
Ein positiver ‚existentialistischer Held‘ aus Sartres Sicht ist Raskolnikow nur insofern als er schließlich mit seiner Ideologie (mauvaise foi) bricht.

Aber Heidegger … was ist denn eigentlich ein „Heideggerscher Existentialismus“? Da tu ich mir sehr schwer.

Spontan denke ich an Ernst Jünger kleines Werk „Über die Linie“, das er Heidegger gewidmet hat, und in dem er die These aufstellt, dass sich in der Figur des Raskolnikow en miniature das (zu Dostojewskis Zeit noch gänzlich künftige) Schicksal des europäischen Nihilismus zeigt: das allmähliche Heraufkommen und „einsame Brüten“ in Raskolnikows Zimmer, die gewaltige und gewälttätige Eruption in der Tat, der Wiedereintritt in die Gemeinschaft, die Heilung durch das Bekennen der eigenen Schuld, die Überwindung des Nihilismus in der Sühne.

E.T.

Nein, eher ein proto-christlicher Jammerlappen
Hi Zora.

wie schon oben gefragt, wollte ich wissen, ob raskolnikoff,
der Held aus Dostojewskis „schuld und sühne“, als ein
existentialistischer Held bezeichnet werden kann.

„Held“ ist hier sicher kein geeigneter Begriff, da würde ich lieber neutral von „Protagonist“ sprechen. Bloß weil einige Literaturwissenschaftler den Heldenbegriff inflationär auswalzen, sollte man den Schmarrn nicht nachmachen.

Wie auch VanB schon andeutet, ist Raskolnikow (dt.= Spaltung) eher ein Arsch, an dem die Sonne des Lebens vorbeischeint. Daher weiß er seine innere Leere nicht anders auszufüllen als durch einen jämmerlichen Mord. Die vermisste Sonne tritt dann in Gestalt der christlichen Sonja in Erscheinung, was Dostojewskis eigene Gesinnung (er war überzeugter Christ) personifiziert. Zitat von D.: „Der Westen hat Christus verloren; daran muss er zugrunde gehen.“

Summa summarum also ein bescheidener Plot, wie er nur im 19. Jahrhundert für Furore sorgen konnte, weil damals das abdankende, d.h. in die Bedeutungslosigkeit sinkende Christentum ein Vakuum hinterließ, in das die wildesten und unreifsten Ideologien nachzurücken versuchten, wie z.B. die Übermenschen-Phantasien Nietzsches und, dem vorausgehend, Raskolnikovs.

Hierbei gehtes mir hauptsächlich um den heideggerischen Existentialismus, und weniger um dem von Sartre.

Dostojewki war ganz klar ein traditioneller Christ, Heideggers Verhältnis zum Christentum ist viel komplizierter und nicht wirklich definierbar. Ich wäre daher vorsichtig mit einer Bezugsetzung von Raskolnikow zu Heidegger.

Und Meursault? Er ist einfach Raskolnikow minus erlösendes Christentum. Also auch kein Gewinn für die Welt.

Chan

hey ch’an

ich korigiere, Held war wirklich nicht gut gewählt, ich habe eigentlich Protagonist gemeint als ich das schrieb.
man muss allerdings wissen, dass Dostojewski zwar Christ war, nur nicht von Anfang an. Schuld und Sühne schrieb er, als er noch nicht zum „Fanatiker“ geworden war.
Raskolnikow nimmt das Christentum ja auch nicht direkt an, sondern er steht dem ziemlich skeptisch gegenüber.

Parallelen
Hi

meursaut (der fremde) ist ja aber doch ziemlich ähnlich drauf
wie raskolnikoff wenn man bedenkt. nur hat meursaut im
gegendatz zu ihm keine ahnung was er tut, als er den araber
umbringt…

Genau. Das Tragische bei Meursaut ist ja, dass er sich überhgaupt nicht richtig verteidigt, sondern das Strafgericht mit einem merkwürdigen Trotz auf sich zukommen lässt.
Erinnert mich in wenig an den Ich-Erzähler in Coezee „Schande“.
Gruß,
B.

1 Like

hi,
es ist meursault gleichgültig was mit ihm passiert, nur in der letzten szene nicht. schon alein deshalb ist er meiner meinung nach nicht wirklich existentialistisch.
„schande“ kenne ich zwar noch nicht, aber ich werde es auf meine liste schreiben
Grüsse,
Zora

Guten Abend!

Wie auch VanB schon andeutet, ist Raskolnikow (dt.= Spaltung)
eher ein Arsch, an dem die Sonne des Lebens vorbeischeint.

Man sollte ihm Gerechtigkeit widerfahren lassen:
R. ist abgespalten/isoliert von allem Lebendigem und Natürlichem: das Sargzimmer in der künstlichen Stadt St. Peterburg, ohne Kontakt zur Natur (für den Russen D.: die Erde), ohne Beziehung zum Volk (als Angehöriger der Intelligenzia), ein Anhänger des abstrakten „euklidischen“ Verstandes, der nur nach dem Nutzen urteilt und so die Wucherin (nicht besser als eine Laus) umbringt, also lebensunwertes Leben vernichtet um des - eigenen - lebenswerten willen.
Ist das so daneben und un-zeitgemäß? Ich halte es eher für unzeit-gemäß. Da sind wir noch nicht raus.
Mehr als durch Sonja erkennt er durch Porfirij, dass Voraussetzung für eine Besserung die Anerkennung seiner Schuld und damit der Notwendigkeit der Strafe ist. Nur die zweite Hälfte der Rettung hat er Sonja zu verdanken: die Erweckung wie Lazarus im Evangelium.
Es ist wenig hilfreich, hierbei schlagwortartig von Christentum zu reden, ohne sich klarzumachen, dass es sich bei der russisch-orthodoxen Ausprägung dieser Religion um etwas in vielerlei Hinsicht vom lateinischen Katholizismus oder (obwohl mir da die Nähe im letzten Drittel des 19. Jh. größer zu sein scheint) dem Protestantismus Verschiedenes handelt. Man kann das dann nicht verstehen, und die Verständnislosigkeit hat hierin ihren Grund.
Beste Grüße!
H.

Christliches Marketing à la Dostojewski
Hi Hannes.

… ist Raskolnikow (dt.= Spaltung)
eher ein Arsch, an dem die Sonne des Lebens vorbeischeint.

Man sollte ihm Gerechtigkeit widerfahren lassen:

Negative Prägungen aufzulisten, dienen sicher dem intellektuellen Verständnis der Tat R.´s, machen diese aber nicht um einen Hauch akzeptabler. Es bleibt immer ein Rest an Verantwortlichkeit für eigene Taten, egal wie stark die Prägungen waren. Und sooo schlimm waren die ja auch wieder nicht. Wurde R. als Kind systematisch verprügelt, vergewaltigt usw.? Ist mir nicht erinnerlich. Es gibt viel schlimmere Schicksale als seines.

R. ist also verantwortlich für seine Tat, und ich sehe nicht, warum meine bewusst derbe Formulierung „ungerecht“ sein sollte.

…und so die Wucherin (nicht besser als eine Laus) umbringt, also
lebensunwertes Leben vernichtet um des - eigenen -
lebenswerten willen.

Dostojewski war Antisemit. Er wählte diese Figur vermutlich nicht zufällig, auch wenn diese meines Wissens nicht als Jüdin beschrieben wird.

Zum Background des Romans: die Grundidee verdankt sich den Einflüssen des Anarcho-Philosophen Max Stirner auf die russische Intelligenzia, z.B. Bakunin. R. ist ein literaturgewordener „Einziger“, der sich einbildet, ein Übermensch zu sein, der seine eigenen Gesetze aufstellen könne. Natürlich hat Dostojewksi das nicht gefallen, und er sah als einzige Alternative den christlichen Glauben, da nur dieser eine ethische Ordnung garantieren könne.

Genau diese begrenzte Wahlmöglichkeit - gesetzloser Anarchismus oder christlicher Glaube - ist das (für das 19. Jh.) Zeitgemäße an dieser Story und damit ihre große Schwäche.

Nur die zweite Hälfte der Rettung hat er Sonja zu verdanken: die Erweckung wie Lazarus im Evangelium.

Tja, was kann man zu Sonja sagen? Vielleicht das: Dostojewski wollte der Leserschaft das Christentum verkaufen, und er tat das wie ein moderner Marketingexperte: er verpackt die Ware so sexy, dass sie für den Kunden möglichst unwiderstehlich ist.

Sex sells, das schien auch Dostojewski zu wissen. Nicht eine alte Wucherin lässt er R. aus der Bibel vorlesen (nein, die ist nicht sexy genug, die wird nur gekillt), sondern eine Prostituierte, also d a s Symbol des Sexuellen.

Es ist wenig hilfreich, hierbei schlagwortartig von
Christentum zu reden, ohne sich klarzumachen, dass es sich bei
der russisch-orthodoxen Ausprägung dieser Religion um etwas in
vielerlei Hinsicht vom lateinischen Katholizismus oder (obwohl
mir da die Nähe im letzten Drittel des 19. Jh. größer zu sein
scheint) dem Protestantismus Verschiedenes handelt.

Ist die russische Orthodoxie denn kein Christentum? Allein darum geht es doch: glaubte Dostojewski an Christus und dessen erlösende Macht? Dein obige Differenzierung in Ehren, aber sie berührt nicht mein Argument.

Chan

D. und das Christentum
Hi Zora.

man muss allerdings wissen, dass Dostojewski zwar Christ war,
nur nicht von Anfang an. Schuld und Sühne schrieb er, als er
noch nicht zum „Fanatiker“ geworden war.

Nach meinen Informationen hatte sich D. zu jener Zeit aber wieder dem Christentum angenähert. Er war auch ein fleißiger Kirchgänger.

Raskolnikow nimmt das Christentum ja auch nicht direkt an,
sondern er steht dem ziemlich skeptisch gegenüber.

Das Ende ist dieser Beziehung ein offenes. D. war intelligent genug, Offensichtlichkeit zu vermeiden und stattdessen nur anzudeuten, wo es seiner Ansicht nach langgehen solle, nämlich in den Schoß der Bibel.

Chan

Hallo Ch’an

Vielleicht meinst du hier wieder, dass Dostojewski schlau genug war, es zu verschleiern, aber

R. ist ein

literaturgewordener „Einziger“, der sich einbildet, ein
Übermensch zu sein, der seine eigenen Gesetze aufstellen
könne.

auch hieran zeifelt R ganz viel, besonders nachdem er beim Polizeichef war. Er zweifelt zwar nicht daran, dass es menschen gibt, die „übermenschen“ sind, er gibt hier ja genügend Beispiele, aber er fragt sich, ob er einer von diesen Menschen ist, und wirft die Frage auf, wer das überhaupt entscheiden darf.
Für einen Christen, oder überhaupt einen religiösen Menschen ist die Antwort auf diese Frage ziemlich klar, Gott, doch in diesem Kontext gibt Dostojewski keine links zur Religion.

Mfg

Zora

Autor, Figur, Leser und Message
Hi Zora.

Vielleicht meinst du hier wieder, dass Dostojewski schlau
genug war, es zu verschleiern, aber

Nun, es hätte in der damaligen (wie heutigen) Literaturszene nicht sehr seriös gewirkt, allzu offen die Propaganda-Karte auszuspielen. Es reichte ja völlig, wenn D. nur zwei Alternativen anbot: den Nihilismus (repräsentiert durch einen Mörder) und das Christentum. Den Schluss, den der Leser daraus ziehen sollte (sinngemäß: „Wendet euch hin zu Christus“), wurde derart suggestiv (bzw. manipulativ) nahegelegt, dass es gar nicht nötig war, eine Entscheidung R.´s für das Christentum in die Handlung aufzunehmen.

Raskolnikow als Figur sollte man auch nicht überbewerten. Viel wichtiger ist die Konstellation Autor-Leser. Die Story und ihre Figuren sind nur das Medium, das die bewusste und/oder unbewusste Message des Autors an den Leser transportieren soll. Die Message des Romans ist aber, wie gezeigt, eindeutig, so dass es ziemlich irrelevant ist, wie sich Raskolnikow aus der Affäre zieht. Selbst wenn er noch weitermorden würde, die Message würde das nicht berühren: „Wendet euch hin zu Christus“.

auch hieran zeifelt R ganz viel, besonders nachdem er beim
Polizeichef war. Er zweifelt zwar nicht daran, dass es
menschen gibt, die „übermenschen“ sind, er gibt hier ja
genügend Beispiele, aber er fragt sich, ob er einer von diesen
Menschen ist, und wirft die Frage auf, wer das überhaupt
entscheiden darf.

Ja natürlich, solche inneren Konflikte gehören zu den Grundbausteinen einer Story, gleich ob Roman, Schauspiel oder Film. Die Grundregel für Drehbuchautoren z.b. lautet: „Story ist Konflikt“. Das hatten schon die antiken Griechen als Grundmuster einer Geschichte erkannt und gepflegt. Der Leser/Zuschauer wäre schnell gelangweilt, wenn der Protagonist seinen Weg ohne äußere und innere Hindernisse geht.

Also musste auch Dostojewski seinen Protagonisten mit inneren Konflikten ausstatten, sonst wäre er in der Literaturszene gar nicht ernst genommen worden.

Für einen Christen, oder überhaupt einen religiösen Menschen
ist die Antwort auf diese Frage ziemlich klar, Gott, doch in
diesem Kontext gibt Dostojewski keine links zur Religion.

Der Link heißt „www.sonja.ru“.

Chan