Liebe Susanne!
Laaange Einleitung (nur der folgende Absatz) - kann auch übersprungen werden.
Ein Experte im streng fachlichen Sinn bin ich nicht, allerdings ein etwas sachkundiger Amateur. Meine Jazz-Kenntnisse sind noch eher bescheiden - eine satte dreistellige Anzahl an Stücken zu kennen und zumindest 50 (vielleicht an die 100?) mir nicht ganz unbekannte VokaluistInnen im Gedächtnis zu haben (aber meist nur mit wenigen individuellen Merkmalen und in meinem akustischen Gedächtnis haftenden Interpretations-Erinnerungen) sind noch kein profundes Fachwissen. Auch meine Vorgeschichte - kurze Zeit bei den Wiener Sängeknaben und Geigenunterricht ohne je zu üben statt des von mir zwecks Selbstbegleitung gewünschten Klavierunterrichts haben nur ein paar Informationen mehr als bei durchschnittlich interessierten SchülerInnen hinterlassen. Immerhin: mein absolutes Gehör ist halbwegs erhalten. Derzeit betätige ich mich (noch) hobbymäßig als beginnender Vokalist (siehe auch http://www.groops.at/user/joeditt)
Jetzt (Räusper) zur eigentlichen Antwort.
Wirklich Jazzkundige meinen, ein Soll sei ein Grundrepertoire von rund 100 Stücken aus dem vielzitierten American Songbook. Bei der Zusammenstellung gehen die Meinungen etwas auseinander - ich bin deshalb dafür, Unvermeidliches (weil allzu Bekanntes) einzubeziehen, darüber hinaus aber zum individuellen Zugang zu stehen.
Die Abdeckung der Bandbreite von zumindest den 20er-Jahren (oder sogar davor) bis - wieder mindestens - in die 60er-Jahre ergibt sich auch fast automatisch - bei jeder Art von Ansatz, Stil oder Geschmack: auch deshalb würde ich mir keine (äh, zusätzlichen) grauen Haare wachsen lassen.
Wichtig ist nebst ein paar Standards, die (angeblich) jedeR Jazzkundige kennt, dass die wichtigsten Komponist(Inn)en dabei sind (im Jazz ist der Anteil öffentlich wahrgenpmmener Text- und MelodieverfasserInnen leider noch niedriger als in unserer Männergesellschaft ohnehin). Also: Cole Porter, harold Arlen, … da - und nicht nur da- empfehlen sich ein paar Orientierungs-Klicks auf Wikipedia, etwa hier:
http://en.wikipedia.org/wiki/Category:Jazz_composers
http://en.wikipedia.org/wiki/Great_American_Songbook
Lieber auf der englischsprachigen, die ist im Zweifelsfall vollständiger - die einzelnen Artikel können ja, soweit deutsche Versionen vorhanden, mit einem Klick in den Linken Rand auf „Deutsch“ im Bedarfsfall leichter lesbar gemacht werden.
Zur Interpretation neige ich zur trockensten möglichen Variante - andere mögen das anders sehen. Meinen Zugang halte ich zumindest für vorgegebene Stücke mit als (weitgehend) fix akzeptiertem Text für richtig: da ist Singen nicht Belcanto, sondern das Erzählen von Geschichten. Und wie im Schauspiel ergibt sich Ausdruck aus dem, was mensch dabei empfindet, soll heißen, aus den Gefühlen, die von der jeweiligen Geschichte ausgelöst werden, und NICHT durch irgendeine Gefühlspose, die man/frau hineinlegt. Das Ergebnis darf ruhig unterkült wirken, das ist immer besser, als unglaubhafte Überdramatisierung.
Meine Lieblingsstimmen sind daher: nebst dem weiblichen Jazzgesangs-Denkmal schlechthin - Ella Fitzgerald (die immer sowohl cool als auch unbeschwert swingend interpretiert hat, aber auch sagenhafte Scat-Einlagen geliefert hat) und Frank Sinatra (unbeschadet seiner abgründigen Persönlichkeit als lebenslanger Freund professioneller Massenmörder, und obwohl er eigentlich kein Jazz-Sänger war und auch fast nie gescattet hat). Aktuell sind bei mir ganz oben: Diana Krall und Jamie Cullum - ein paar Reihen dahinter u. a. der Michael Bublé. Außerdem hörenswert: einzelne Nummern von Sammy Davis Jr. (seine Best Of-Alben sind fast durchwegs empfehlenswert), und so einmalige InterpretInnen wie Anita O’Day oder die frühe(!) Della Reese (ein bisserl schräg und leicht affektiert, aber sehr witzig). Weiters die Jazz-nahen Nummern von Multitalent Caterina Valente und Sarah Vaughan. Speziell ist u. a. auch, hmmm, der Chet Baker - als Instrumentalist, aber auch als Vokalist: von dem kann sich selbst der Enrique Iglesias noch ein paar authentische Seufzer abkupfern (beim Baker war das leider sehr echt, bis zu seinem sehr frühen Tod).
Bei weiteren Beispielen müsste ich klarere einschränkende Definitionen mitliefern (mach ich aber, wenn gewüscht, sehr gern). Louis Armstrong etwa ist Mr. Jazz beim Trompetenspielen, als Sänger ist er teils Jazzer, teils … ja wie heißt das? Beim Sinatra schreiben KritikerInnen bei den meisten Nummern - auch wenn sie aus dem Jazz stammen - „pop tune“! Und angesichts der Sinatra-Mania so in den 40ern bis gegen 1950 (kreischende Teenies noch lange vor der Beatlemania) stimmts eigentlich auch in jeder Hinsicht. Und eben oft auch für den Louis. Auch die legendäre Billie Holiday (hat angeblich der Sinatra als leuchtendes Vorbild geschätzt, auch wenn er ganz anders klingt) hör ich mir eher selten an - da stimmt auch eher Lady sings the Blues; gehört zwar zur selben Musikfamilie, aber eben (nur) auch.
Am anderen Ende bin ich noch heikler: Smooth Jazz gibt es in zweierlei Form. Einerseits als sentimentalere klassische Jazzstücke, aber doch sehr authentisch interpretiert (ohne allzuviel weichspülende Geigen, Keyboardklänge oder dahinplummernde Gitarren) - das muss aber nicht als eigene Kategorie betrechtet werden. Andererseits - und meistens ist „Smooth Jazz“ eine falsche Behauptung, verwendet für alles nicht rockig Sanfte von den Pop-Ausflügen des Jazz-Bass-Meisters George Benson zuckerwärts (seine Stücke wie On Broadway sind ja noch Qualitätsmusik - die der Epigonen schon weniger), das wie klebriger Sirup per akustischer Beriselung in die Ohren unzähliger KaufhauskundInnen schleimt: dieses auditive Junk-Food hat mit Jazz absolut nichts zu tun.
Spannend - aber mir (noch?) fremd (wie in der so genannten Klasik leider mehr als die Hälfte nach Richard Strauss) - ist einerseits Bebop (gibts auch vokal, und da muss mensch eben wirklich scatten können und wollen) und andererseits Free Jazz. Ich versuch da manchmal ein bisserl was von Carla Bley oder Thelonious Monk zu hören - als Vokalistin vonn ein bisserl Pop über viel Jazz und Latin bis zu sehr viel Improvisation fällt mir die Flora Purim ein.
Ein bisserl heikel bin ich auch in der Mitte, also bei klassischen Standards. Da gibt es - besonders bei ausbildungsgeschädigten InterpretInnen - oft den Hang zu dem, was ich Kraftwadl-Swing nenne. Etwa die an sich sehr gute Wiener Combo Five in Love: eine Nummer von denen beginnt allen Ernstes mit „Hey, hey, hey, hey, …“ - das ist für mich nicht swingender Jazz, sondern halber Hillybilly hart an der Grenze zur Ballermann-Publikumsanimation. Auch Manhattan Transfer geraten mir manchmal etwas zu sehr in diesen Grenzbereich. Swing(ender Jazz) it eben nicht footstamping und handclapping (oder Armgefuchtel mit geballten Fäusten), sondern fingersnapping - auch ganz leises - und allenfalls toetapping. Wenn ich Hard Rock hören will (nicht Metal), hör ich Deep Purple oder Led Zeppelin - im Jazz aber muss auch Lautes mit entspannter Souveränität daherkommen, und zwischendurch muss immer Raum für dezent über Charleston Machine oder Snaredrum gleitende Schlagzeugbeserln sein, shhht-t-shhht-t-shhht-t. Die Kraft liegt in einzelnen Tönen, der Rest kommt dank Souveränität höchst leichtfüßig daher, das mit (erkennabrer) Anstrengung verbundene BAM BOOM BANG besorgt quasi auf diese dank Macht äußerst dezent angedeuteten Anweisungen hin die (Big) Band (die Maus würde sagen: liest sich komisch undemokratisch, ist aber so). Wird die Stimme lauter und kräftiger, dann nicht infolge Mitteilungswillens, sondern (nur) weil es sich so ergibt - und dann umso authentischer aufs Publikum überträgt.
Erst wenn das so unangestrengt wirkt wie Astrud Gilberto (heißer Tipp für Latin Jazz, natürlich auch Antonio Carlos Jobim, aber ebenso Tito Puente [Lieblingsband der Zeichentrick - Lisa Simpson]), sollte an das andere Ende gedacht werden, wo eine sehr kleine Person namens Shirely Bassey die meisten James Bond - Titel naturgewaltig donnernd in die Welt schmettert. (Atem- und stimmtechnisch hingegen muss, wie ich leidend weiss, umgekehrt zuerst Kraft trainiert werden, damit der Spielraum für Leises möglichst groß wird - aber das weiß eine klassisch ausgebildete Sängerin sicher noch besser.)
In diesem Sinn etwa kann ich mit Roger Cicero nur sehr wenig wenig anfangen. Und was Kritiker dazu bringt, Jan Delay, diesen stilfrei krafthopsenden (wenns wenigstens Punk wär) verhinderten Animateur aus vergangenen Club Med - Jahrzehten, mit Sinatra in Verbindung zu bringen, werd ich nie begreifen: das ist schlimmer als Walzer unter der Plastik-Zuckerschock-Fuchtel von Andre Rieu, wäh. (Außerdem versteh ich vom Delay noch weniger Silben als vom Grönemeyer in dessen nuschelndsten Jahren - gut ist an dem nur der Sound seiner Band, und die spielt weder Jazz noch Swing, sondern vielleicht sowas wie zeitgemäßen Mainstream Funk.)
So, ich komm offenbar schon ins Plaudern und vom eigentlichen Kern immer weiter weg - also mach ich vorerst Schluss.
Auf Verständnis-, Nach- und Zusatzfragen antworte ich aber immer gern.
LG,
Joe Dittrich
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