Die Entstehung des israelitischen Jahwe-Glaubens II
Fortsetzung:
Schamasch ist in der akkadischen und babylonischen Religion unter zwei Aspekten verehrt: als Spender des lebensnotwendigen Lichts und als Wahrer der Gerechtigkeit. Recht und Rechtsprechung sind mit altorientalischen Sonnengöttern typischerweise verknüpfte Attribute. Der ägyptische Re weicht von dieser Typisierung ab, wird an wenigen Stellen aber ebenfalls mit Gerechtigkeit assoziiert.
Über den Lichtaspekt von Schamasch heißt es in der Großen Schamasch-Hymne:
Schamasch, Erleuchter des Alls, des gesamten Himmels,
Aufklärer der Dunkelheit für die Menschen oben und unten,
Dein Strahlenglanz ist wie ein Netz über die Erde ausgebreitet.
Schamaschs Richterfunktion erklärt sich aus seinem Vermögen, kraft seines Lichts die Dinge vollends zu durchschauen. Die Gesetzesstele des Hammurabi aus dem 18. Jh. BCE zeigt, wie Schamasch dem König die Herrschaftssymbole überreicht. In einem überlieferten Opferschaugebet heißt es:
Du (=Schamasch) urteilst im Fall der großen Götter, im Fall der wilden Tiere, im Fall der Menschen,
urteile heute über NN, Sohn von NN, setze die Wahrheit auf der linken und rechten Seite dieses Lamms.
Hier geht es um die Leberschau nach einem Lammopfer. „NN“ ist ein Platzhalter für konkrete Namen, die beim jeweiligen Ritual eingesetzt werden.
Schamasch hat, wie gezeigt, als assyrischer Sonnengott die Funktion, Gerechtigkeit in die Welt zu bringen. Sein Licht durchdringt die Finsternis und macht jedes Übel sichtbar. Wie sehr dieses Konzept die Gottesvorstellung im israelitischen 7. Jh. BCE geprägt hat, zeigt - neben vielen anderen Beispielen - der Psalm 72 (Psalm = Loblied). Ich zitiere seine ersten 7 Verse:
1 Des Salomo. Gott, gib dein Gericht dem König und deine Gerechtigkeit des Königs Sohne, 2 daß er dein Volk richte mit Gerechtigkeit und deine Elenden rette. 3 Laß die Berge den Frieden bringen unter das Volk und die Hügel die Gerechtigkeit. 4 Er wird das elende Volk bei Recht erhalten und den Armen helfen und die Lästerer zermalmen. 5 Man wird dich fürchten, solange die Sonne und der Mond währt, von Kind zu Kindeskindern. 6 Er wird herabfahren wie der Regen auf die Aue, wie die Tropfen, die das Land feuchten. 7 Zu seinen Zeiten wird erblühen der Gerechte und großer Friede, bis daß der Mond nimmer sei.
Diese Verse bilden die originale Grundschicht des Psalms. Die restlichen 10 Verse sind das Produkt redaktioneller Überarbeitung im exilischen 6. Jh. Entstanden ist der Psalm (in seiner Grundschicht) vermutlich zur Zeit der Königskrönung des 8jährigen Josia im Jahr 639, wofür die Erwähnung des Königssohns (V. 1) spricht. Der Singular „er“ im nächsten Vers bezieht sich höchstwahrscheinlich auf den Königssohn. Gestützt wird die Datierung durch die ähnliche Thematik des Textes Jes 9,1-6 (Bezug auf Krönung Josias), der in die Josia-Zeit datiert wird. Der Psalm dürfte also als Krönungshymnus für den kleinen Josia gedient haben.
Das unmittelbare Vorbild für diesen Hymnus war, und das ist so gut wie gesichert, der Krönungshymnus SAA III 11 für den assyrischen König Assurbanipal, der zur Zeit der Krönung Josias noch im Amt war. Sein Vater Asarhaddon legte 672 die Thronfolge seines Sohnes durch einen Loyalitätseid fest. 669 kam es zur Thronerhebung Assurbanipals. Im Unterschied zu früheren Krönungsritualen tritt im Hymnus neben dem Reichsgott Assur zum ersten Mal der Sonnengott Schamasch als Garant für „Recht und Gerechtigkeit“ in Erscheinung, und zwar in Vorrangstellung zu Assur. Die vom Sonnengott dem König überantwortete Durchsetzung dieser Ordnung besteht vor allem in der Beseitigung sozialer Ungerechtigkeit.
Die Gemeinsamkeiten von SAA III,1 und Ps 72 sind offensichtlich: Schamaschs auf den König übertragene Sonnengott-Funktion des Bewahrers der Gerechtigkeit und Helfers der Schwachen findet sich im Psalmtext unter Verwendung gleicher Begriffe wieder: „Gerechtigkeit“ und „Frieden“. Das astrale Element „Sonne“ ist zusätzliches Indiz für den solaren Kontext. Im schon erwähnten, auf Josia bezogenen Text Jes 9,1-6 erscheint Jahwe, ähnlich wie Schamasch, im Kontext von „Licht“ und „Finsternis“. V. 5f. kennzeichnet den König als Garanten von „Recht und Gerechtigkeit“.
Da mir der assyrische Krönungshymnus als Volltext nicht vorliegt, zitiere ich eine Passage aus dem assyrischen Lied KAR III 105 an Sonnengott Schamasch, das einer Orakeleinholung für König Assurbanipal diente. Diese Stellen können das solartheologische Vorbildverhältnis der assyrischen zur israelitischen Religion, wie es im Ps 72 zum Ausdruck kommt, ebenfalls verdeutlichen.
2 Erhabener Richter, Herr des Oberen und Unteren
3 … Du durchspähst mit deinem Licht die Gesamtheit der Länder
4 Die der Opferschau nicht müde werden, täglich triffst du Entscheidung über Himmel und Erde.
Schamasch tritt wie gewohnt als Spender von Licht und Gerechtigkeit auf. Während seine Gerechtigkeitsfunktion im Ps 72 voll auf Jahwe übergegangen ist, bleibt der Lichtaspekt im Psalm ein äußerlicher, nämlich in Gestalt der „Sonne“, die als Indikator der Herrschaftsdauer fungiert:
5 Man wird dich fürchten, solange die Sonne und der Mond währt, …
Hier zeigt sich die Uneinigkeit der israelitischen Priesterautoren in der Frage, wie weit die Übertragung solarer Vorstellungen auf Jahwe gehen soll. Die israelitische Theologie macht Anleihen bei der assyrischen Religion (= Synkretismus), versucht aber zugleich, ein eigenes Profil aufrechtzuerhalten. Dabei kommt es zu konzeptuellen Divergenzen. In manchen Texten erscheint Jahwe explizit als Lichtgottheit, in anderen, wie Ps 72, wird er dem Licht bzw. der Sonne übergeordnet, was auch bedeutet: Jahwe steht über Schamasch. Das hat hauptsächlich politische Gründe, denn die Macht eines Staatsgotts bestimmt die Macht des Königs, der diesen Gott repräsentiert, wenn auch nur in der Vorstellung der Gläubigen. Auf diese Weise wird der israelitische König über den assyrischen König (und alle anderen) positioniert - wiederum natürlich nur in der Vorstellung der Gläubigen. Das zeigt sich in den redaktionell angefügten Versen im Ps 72:
9 Vor ihm (dem König, Anm. Chan) werden sich neigen die in der Wüste, und seine Feinde werden Staub lecken. 10 Die Könige zu Tharsis und auf den Inseln werden Geschenke bringen; die Könige aus Reicharabien und Seba werden Gaben zuführen.11 Alle Könige werden ihn anbeten; alle Heiden werden ihm dienen.
Auch dieses rhetorische Muster wurde dem assyrischen Hymnus SAA III 11 entlehnt und auf die israelitische Perspektive umgeschrieben.
Konkrete Hinweise für eine Solarisierung Jahwes liegen vor der 2. Hälfte des 8. Jh. BCE nicht vor. Man kann aus den solaren Ortsnamen in der Jerusalemer Region einschließlich „Jerusalem“ selbst (Schalem=Gott der Abenddämmerung) nur indirekt auf einen Jerusalemer Sonnenkult schließen. Erst ab der 2. Hälfte des 8. Jh. häufen sich eindeutige Belege für die Solarisierung. Man fand aus dieser Zeit 1200 Stempelsiegel königlicher Beamter mit Motiven, die symbolisch Sonne und Königtum (König Hiskia) verbinden. Da der König Statthalter des Staatsgottes war, bedeutet das auch eine Verbindung Jahwes mit der Sonne. Genaue Rückschlüsse auf die Art dieser Beziehung lässt die Ikonographie freilich nicht zu. Vermutlich entstand in dieser Zeit der Jerusalemer Tempel, der, sofern die biblische Beschreibung seine Rekonstruktion gestattet, nach dem Sonnenlauf ausgerichtet war.
Mit dem Psalm 72 liegt einer der ersten Textbelege für eine sonnentheologische Ausformung des Jahwe-Glaubens vor. Die Entstehung seiner Grundschicht um 639 (Josias Krönung) gilt als sehr wahrscheinlich. Damit gehört er, neben wenigen anderen Psalmen wie z.B. Ps 2 und 110, zum gesicherten vorexilischen Bestand des Psalter. Von den anderen weit über 100 Psalmen nimmt man eine exilische oder nachexilische Entstehung an. Aus dem gleichen Jahrhundert (7.) soll auch das Deuteronomium mit dem Tora-Buch stammen, das später redaktionell nachgebessert wurde. In diesem Deuteronomium finden sich in Theophanie-Texten lichtbezogene Verben wie „aufstrahlen“ und „leuchten“ Dtn 33,2), die einen Einfluss der assyrischen Schamasch-Theologie nahelegen.
Es gibt auch darüber hinaus im Tanach viele Stellen, die Jahwe als Lichterscheinung oder begleitet von Lichterscheinungen zeigen. Man nennt angebliche Erscheinungen Jahwes in einer sinnlich erfahrbaren Form, z.B. Feuer, Sturm oder Wolken, „Theophanien“ (Gotteserscheinungen). Jene Theophanien, die Jahwe mit Sturm und Wolken verbinden, reflektieren seine Herkunft aus der Baal-Wettergott-Tradition und dürften auf den archaischen Glauben an göttlichen Naturgewalten zurückgehen, sind vermutlich also Fehlinterpretationen physikalischer Phänomene. Jene Theophanien aber, die Jahwe mit Feuer und Licht verbinden, entspringen visionären Erlebnissen. Hier ist ein bekanntes Beispiel (Ez 1), eine Vision des Propheten Ezechiel während des babylonischen Exils (Luther-Übersetzung):
4 Und ich sah, und siehe, es kam ein ungestümer Wind von Mitternacht her mit einer großen Wolke voll Feuer, das allenthalben umher glänzte; und mitten in dem Feuer war es lichthell. (…) 26 Und über dem Himmel, so oben über ihnen war, war es gestaltet wie ein Saphir, gleichwie ein Stuhl; und auf dem Stuhl saß einer gleichwie ein Mensch gestaltet. 27 Und ich sah, und es war lichthell, und inwendig war es gestaltet wie ein Feuer um und um. Von seinen Lenden überwärts und unterwärts sah ich’s wie Feuer glänzen um und um. 28 Gleichwie der Regenbogen sieht in den Wolken, wenn es geregnet hat, also glänzte es um und um. Dies war das Ansehen der Herrlichkeit des HERRN. Und da ich’s gesehen hatte, fiel ich auf mein Angesicht und hörte einen reden.
In der Religionswissenschaft ist man sich über die Frage, ob die visuellen Beschreibungen in Ez 1 metaphorisch oder visionär gemeint sind, nicht einig. Diejenigen Gelehrten, die (gegen alle Wahrscheinlichkeit) ein vorexilisches Bestehen des „Bilderverbots“ annehmen, neigen dazu, die Beschreibungen als Allegorien zu interpretieren, denen keine reelle visuelle Erfahrung zugrundeliegt. Vielmehr wolle der Autor dadurch seine (nicht-visuelle) Gotteserfahrung nur glaubhafter machen. Dieses Argument wirkt nicht überzeugend. Warum verwendet ein Autor eine exzessiv visuelle Sprache, wenn er etwas Nichtvisuelles ausdrücken möchte? Man kann eher davon ausgehen, dass Ezechiels Bericht tatsächlich auf einem visuellem Erlebnis basiert, das er präzise zu schildern versucht. In meinem a.a.O. geposteten Beitrag über die israelitischen Propheten war von ihren ekstatischen Zuständen und den damit verbundenen Visionen die Rede. Die Ursache dieser Zustände ist uns nicht bekannt, sie könnte aber in einer angeborenen Disposition liegen. Die israelitischen Propheten lebten weder asketisch noch kontemplativ, und es gibt auch keine Anzeichen dafür, dass sie bewusstseinserweiternde Drogen nahmen, wie dies bei den ägyptischen Amun-Priestern (vermutlich) der Fall war und bei den Teilnehmern der griechischen Mysterien.
Zu unterscheiden ist auf jeden Fall zwischen dem sonnentheologischen und dem visionären Lichtaspekt Jahwes. Die Sonnentheologie bezieht sich auf das Licht der Sonne, während die visionäre Literatur ein übernatürliches Licht thematisiert. Vermutlich kam es bei sonnentheologischen Konzeptionen im Alten Orient aber zu einer Durchdringung beider Ebenen, wie es bei den Amun-Priestern vermutlich der Fall war.
In der Mehrzahl erscheint das Lichtmotiv im Tanach im sonnentheologischen Kontext, erkennbar entweder an der direkten Verbindung mit dem Gerechtigkeitsmotiv oder an der Opposition zur Finsternis (die für das Böse bzw. Ungerechte steht). Gelegentlich kommt es zu einer Kombination beider Kategorien, z.B. in der berühmten Szene mit dem „brennenden Dornbusch“: Hier verschmelzen Vision (Jahwe als Feuer) und Sonnentheologie (Jahwe als oberste Rechtsinstanz) zu einer Einheit. Deutlich zeigt sich die Abkunft der israelitischen von der mesopotamischen Sonnentheologie: Auf Hammurabis Stele (deren Gesetze dem Dekalog Vorbild waren) ist es Schamasch, der den König ermächtigt, auf dem Berg Sinai ist es Jahwe, der (den fiktionalen) Moses ermächtigt.
Ich füge Textbelege für jahwistische Sonnentheologie aus den Psalmen und dem Jesaja-Buch an. Man beachte die häufige Sonnengott-typische Assoziation von Licht und Gerechtigkeit.
Ps 18: 28 Denn du hilfst dem elenden Volk, und die hohen Augen erniedrigst du. 29 Denn du erleuchtest meine Leuchte; der HERR, mein Gott, macht meine Finsternis licht.
Ps 19: 11 Dem Gerechten muß das Licht immer wieder aufgehen und Freude den frommen Herzen.
Ps 36: 10 Denn bei dir ist die Quelle des Lebens, in deinem Licht sehen wir Licht.
Ps 37: 6 Er wird dein Recht aufgehen lassen wie das Licht, deine Gerechtigkeit wie die Sonne am Mittag.
Ps 97: 11 Ein Licht erstrahlt dem Gerechten, …
Ps 104: 1 JHWH, mein Gott, du bist sehr groß, Pracht und Herrlichkeit hast du angezogen, der sich mit Licht umhüllt wie in einen Mantel.
Jes 2: 5 Kommt nun, ihr vom Hause Jakob, laßt uns wandeln im Lichte des HERRN!
Jetzt aber genug damit.
Chan