Kants Freiheitsbegriff

Hallo,

vorab: ich bin was die westliche Philosophie angeht relativ unbescholten, mit den meisten philosophischen Texten habe ich Verständnisprobleme.

Wäre jemand so nett, mir in verständlichen Bröckchen für Nicht-Philosophen zu erklären, wo der Unterschied zwischen Kants Freiheitsbegriff und dem „allgemeinen“ Freiheitsbegriff (~ Meinungsfreiheit, Bewegungsfreiheit, u.ä.) besteht?

Ich lese gerade das Buch „Chinas Angst vor der Freiheit“ von Schmidt-Glintzer, dort wird konsequent Freiheit mit vollkommener Anarchie gleichgesetzt, so heißt es an einer Stelle, individuelle Freiheit würde abgelehnt, weil man sich im Zweifelsfall auf Verkehrsampeln berufen können wolle.

Mir schmeckt das nicht. Schmidt-Glintzer ist ein großer Sinologe… gewesen bisher, aber in diesem Buch habe ich schon so einige seltsame Dinge entdeckt (z.B. unnötige Tertiärzitate) die mich skeptisch machen.

Da er seine Thesen großteils mit Kant untermauert, ohne spezifische Stellen oder Werke anzugeben, wüsste ich gerne ob an dem Freiheit = Anarchie Schluss „nach Kant“ wirklich etwas dran ist, auf Wiki konnte ich dazu keine Anhaltspunkte finden.

Vielen Dank für eure Hilfe.

lg
Kate

Guten Abend, Kate!

Da er seine Thesen großteils mit Kant untermauert, ohne
spezifische Stellen oder Werke anzugeben, wüsste ich gerne ob
an dem Freiheit = Anarchie Schluss „nach Kant“ wirklich etwas
dran ist

Nein - und vielleicht doch Ja.

In DIREKTER WEISE ist Kants Freiheitsbegriff auf keinen Fall als „Anarchie“ zu verstehen, da er nicht nur eine negative Komponente besitzt, sondern auch eine positive Komponente, welche sogar die vorrangige ist.

Negative Komponente in Kants Freiheitsbegriff: der Wille kann dann als ein „freier“ gelten, wenn er nicht bestimmt ist durch die Welt der Sinne und der Triebe. Er ist also in dieser negativen Hinsicht frei gegenüber der (äußeren) Sinnen- und (inneren) Triebwelt des Menschen.

Positive Komponente: Diese Freiheit ist nicht als Gesetzlosigkeit zu verstehen, sondern ganz im Gegenteil als die Fähigkeit des Willens, sich sein Gesetz selbst geben zu können bzw. es sich geben zu müssen (da er es qua seiner Freiheit davon nicht aus der Welt der Dinge ableiten kann).
Damit ist quasi der freie Wille geradezu dasselbe wie Moralgesetz - und damit das gerade Gegenteil zur Gesetzlosigkeit.
Stichworte hierzu: Praktische Vernunft, Kategorischer Imperativ. Diese hier auszuführen, würde viel zu weit führen.

In INDIREKTER Weise dagegen lässt sich Kants Freiheitsbegriff insofern als „Anarchie“ verstehen, wenn man diejenige philosophische Kritiklinie an Kant ernstnimmt, die dieses Moralgesetz mehr oder weniger als leeren Formalismus aufzeigt, und damit zeigt, dass sich der Kantische freie Wille jenseits reiner Formalität JEDES Gesetz und damit KEIN Gesetz geben kann.
Diese Art Kritik an Kant ist von mehreren Philosophen in verschiedener Weise vorgetragen worden. Zum Beispiel -und wohl historisch zuerst- von Hegel.

E.T.

Hallo Kate

Als zusätzliche Erläuterung zu Ernst’ Darstellung noch folgende knappe zusammenfassende Paraphrasierung der Einleitung des dritten Abschnitts von Kants ‚Grundlegung zur Metaphysik der Sitten‘. BTW der meines Erachtens zu empfehlende Einstieg für eine Vertiefung. Dass Kants Freiheitsbegriff dadurch verständlicher wird, kann ich freilich nicht versprechen …

Kant definiert Freiheit ausschließlich von der Willensfreiheit her - ein Wille, der unabhängig von fremden Bestimmungen wirken kann, ist frei (hat die Eigenschaft der Freiheit). Wille wiederum ist für Kant „eine Art Kausalität“ lebender, vernünftiger Wesen.

Kausalität wirkt nun wiederum gesetzmäßig, das heisst, durch eine Ursache wird notwendig deren Folge gesetzt. Auch Freiheit folgt daher unwandelbaren Gesetzen, wenn auch nicht Naturgesetzen, sondern Gesetzen eigener Art. In der Natur sind wirkende Ursachen heteronom; sie sind ihren jeweiligen Wirkungen entsprechend durch Naturgesetze bestimmt. Der Wille ist hingegen autonom, er kann sich selbst Gesetz sein. Sich selbst Gesetz zu sein drückt sich nun darin aus, nach Maximen zu handeln, die gleichermaßen Gegenstand eines allgemeinen Gesetzes sein können. Da eben dies dem kategorischen Imperativ entspricht, ist freier Wille mit sittlichen Gesetzen konform.

Anschließend verwendet Kant viel Tinte darauf, darzulegen, wie aus dem Vernunftvermögen des Menschen notwendig folgt, dass diese sittlichen Gesetze ‚gut‘ sind und der, der ihnen nicht folgt, dies nicht aus freiem Willen heraus tut. Ja, dass Freiheit (genauer: die Idee der Freiheit) selbst sogar notwendige Voraussetzung für sittliches Handeln ist. Um in Hinsicht auf eine Begründung dieser ‚Idee der Freiheit‘ schließlich die Waffen zu strecken:

„Die Frage also, wie ein kategorischer Imperativ möglich sei, kann zwar so weit beantwortet werden, als man die einzige Voraussetzung angeben kann, unter der er allein möglich ist, nämlich die Idee der Freiheit, imgleichen als man die Nothwendigkeit dieser Voraussetzung einsehen kann, welches zum praktischen Gebrauche der Vernunft, d. i. zur Überzeugung von der Gültigkeit dieses Imperativs, mithin auch des sittlichen Gesetzes hinreichend ist, aber wie diese Voraussetzung selbst möglich sei, läßt sich durch keine menschliche Vernunft jemals einsehen.“

Kants ‚Idee der Freiheit‘ ist eben nur doch nur ein dürres regulatives Prinzip …

Freundliche Grüße
Ralf

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Kant über Anarchie und Freiheit
Hi Kate.

Den soliden Ausführungen von E.T. und Ralf lässt sich noch Folgendes hinzufügen.

Ich lese gerade das Buch „Chinas Angst vor der Freiheit“ von
Schmidt-Glintzer, dort wird konsequent Freiheit mit
vollkommener Anarchie gleichgesetzt, so heißt es an einer
Stelle, individuelle Freiheit würde abgelehnt, weil man sich
im Zweifelsfall auf Verkehrsampeln berufen können wolle.

Was meinst du mit „dort“? Das Buch oder China? Wenn das Buch, dann missverstehst du Kants Anarchiebegriff völlig. Weiter unten mehr dazu.

Die von dir gemeinte Stelle heißt wörtlich (Seite 16): „In dieser Unsicherheit suchte und sucht China bis heute seine Stärke in einer gezügelten Freiheit seiner Bürger. Der Staat wird weiterhin den Ordnungsrahmen bestimmen, auch weil das Ordnungsverlangen und die Angst vor Chaos in der Bevölkerung dies einfordert. Dabei ist der einzelne durchaus bereit, eine Verkehrsampel zu missachten, aber er will die Regel doch nicht missen, weil er sich in Zweifelsfällen darauf berufen möchte.“

Das entspricht nicht wirklich deiner Kurzdarstellung und begründet auch nicht deine geschmackliche Ablehnung:

Mir schmeckt das nicht.

Weiter:

Da er seine Thesen großteils mit Kant untermauert, ohne
spezifische Stellen oder Werke anzugeben, wüsste ich gerne ob
an dem Freiheit = Anarchie Schluss „nach Kant“ wirklich etwas
dran ist.

Kant machte in der „Anthropologie“ folgende Unterschiede:

„A. Gesetz und Freiheit, ohne Gewalt (Anarchie). B. Gesetz und Gewalt, ohne Freiheit (Despotism). C. Gewalt, ohne Freiheit und Gesetz (Barbarei). D. Gewalt, mit Freiheit und Gesetz (Republik).“

Er schrieb zudem im gleichen Text: „Freiheit und Gesetz sind die zwei Angeln, um die sich die bürgerliche Gesetzgebung dreht. Aber damit das letztere auch von Wirkung und nicht nur leere Anpreisung sei: so muss ein Mittleres hinzukommen, nämlich Gewalt, welche, mit jenen verbunden, diesen Prinzipien Erfolg verschafft.“

Das mit dem von dir sogenannten „Schluss“ Freiheit=Anarchie kann also nicht stimmen, die Dinge liegen komplizierter. Ich denke nicht, dass der Autor das an einer Stelle so banal darstellt (ich ging das Buch nur kursorisch durch), wie du es hier suggerierst. Für Kant war Anarchie ein positiver Begriff, der mit Chaos nichts zu tun hat.

Gruß

Horst

Hi

Danke für deine Ausführungen. Es ging mir nicht primär darum, _dass_ Kant Freiheit mit Anarchie frei setzt - darum kam es mir ja komisch vor, sondern der Autor des Buches scheint von Freiheit = Anarchie auszugehen, da er an vielen Stellen die Kontrollmechanismen Chinas verteidigt indem er so tut, als würde ein Quäntchen Freiheit zum totalen Chaos führen, und dies untermauert er mit Kant.

Kurz gesagt, ich habe nach der Möglichkeit, sein Argument auszuhebeln, gesucht und auch hier gefunden. Kant wird in dem Buch an einigen Stellen wohl zu Unrecht angeführt und im höchsten Falle der positiven Zurechnung könnte man den Autor in die Anhängerschaft von Hegels Kritik stellen, da muss ich aber erst noch etwas recherchieren.

lg
Kate

Hi

Danke euch beiden, ihr habt mir sehr weiter geholfen und ich habe jetzt ein paar neue Ansätze.

lg
Kate

Westliche Ideale vs. chinesische Mentalität
Hi Kate.

Es ging mir nicht primär darum,
_dass_ Kant Freiheit mit Anarchie frei setzt - darum kam es
mir ja komisch vor

Wie gesagt: der philosophische Anarchiebegriff ist nicht so banal, wie seine - sagen wir mal - ideologische Verwendung (Anarchie=Chaos, angerichtet durch bombenwerfende Rasputins) uns das weismachen will. Ich zitiere auf die Schnelle Prof. Wiki (Anarchie):

„… sind bestimmte Machtverhältnisse wie die Beeinflussung durch freiwillig angenommene Autoritäten (Mentoren, Trainer, Berater, etc.) mit Anarchie vereinbar, werden aber nicht durch Repression erzwungen. Insbesondere existiert in Anarchien keine lenkende Zentralgewalt, also kein Staat. Bekannte Anarchien sind dennoch von sozialen Normen und Regeln geprägt, unter anderem zur institutionalisierten Abwehr der Entstehung von Herrschaft.“

sondern der Autor des Buches scheint von
Freiheit = Anarchie auszugehen, da er an vielen Stellen die
Kontrollmechanismen Chinas verteidigt indem er so tut, als
würde ein Quäntchen Freiheit zum totalen Chaos führen, und
dies untermauert er mit Kant.

Mir liegt jetzt nur die Google-Fassung des Buches vor, die nicht alle Seiten enthält. Der Begriff „Anarchie“ taucht im kompletten Buch überhaupt nur ein einziges Mal auf (Seite 124). Kant wird ganze 5 Mal erwähnt (laut Namensverzeichnis), 3 dieser Stellen habe ich gelesen, und aus ihnen ist überhaupt nicht ersichtlich, was du dem Autor unterstellst. Vielleicht kannst du ja eine Stelle zitieren, die das zeigt, was du meinst.

Ich glaube nicht, dass der Autor Chinas gegenwärtiges Brutalregime (nach unseren westlichen Maßstäben ist es das) eins zu eins verteidigen möchte. Er argumentiert mehr in die Richtung, dass in China ein entscheidend großer Teil der Bevölkerung eine starke staatliche Kontrolle befürwortet bzw. ersehnt.

Der Autor zitiert auf Seite 10 meinen Namensvetter (Tran=Chan), den Filmstar Jackie Chan (von chinesischen Menschenrechtlern deswegen kritisiert): „Ich habe mehr und mehr das Gefühl, dass wir kontrolliert werden müssen. Wenn wir nicht überwacht werden, tun wir doch, was wir wollen“. Der Autor nennt dies „eine weit verbreitete Ansicht“.

In der Buchwerbung des Verlags heißt es: „Die freiheitlichen Ideale des Westens erschüttern die traditionellen chinesischen Ordnungsmuster. Dass sich Individualität in China nur mit Rücksicht auf ein ausgeprägtes Harmoniebedürfnis entfalten darf, lässt sich auf der geistigen und politischen Geschichte des Landes erklären.“

Am Ende des Buches heißt es: „An Demokratie ist in naher Zukunft nicht zu denken. Es könnte aber sein, dass sich die Freiheitsspielräume in China dennoch vergrößern und am Ende die Zentralisierung nur noch für den Rahmen zuständig ist, den jedes gedeihliche Zusammenleben eines Volkes von fast eineinhalb Milliarden Menschen braucht.“

Gruß

Horst