Hallo,
habe vorhin in einem alten Musikbuch dieses Lied gelesen.
Ich verstehe nicht, warum R.M. es in der Ich-Form geschrieben hat.
Weiß es jemand von euch?
Danke!
nenkaj
Hallo,
Ich verstehe nicht, warum R.M. es in der Ich-Form geschrieben hat.
Weiß es jemand von euch?
ich vermute, er wollte emotionale Nähe erzeugen, oder?
Gruß
Bona
Hallo nenkaj!
Ich bin ein großer Reinhard Mey Fan.
Hier ist der Text:
Sie sagten, er käme von Nürnberg her und er spräche kein Wort.
Auf dem Marktplatz standen sie um ihn her und begafften ihn dort.
Die einen raunten: „Er ist ein Tier“,
Die andern fragten: „Was will der hier?“
Und daß er sich doch zum Teufel scher‘. „So jagt ihn doch fort, – so jagt ihn doch fort!“ –
Sein Haar in Strähnen und wirre, sein Gang war gebeugt.
„Kein Zweifel, dieser Irre ward vom Teufel gezeugt.“
Der Pfarrer reichte ihm einen Krug
Voll Milch, er sog in einem Zug.
„Er trinkt nicht vom Geschirre, den hat die Wölfin gesäugt!“
Mein Vater, der in uns‘rem Orte Schulmeister war,
Trat vor ihn hin, trotz böser Worte rings aus der Schar;
Er sprach zu ihm ganz ruhig, und
Der Stumme öffnete den Mund
Und stammelte die Worte: „Heiße Kaspar“.
Mein Vater brachte ihn ins Haus, „Heiße Kaspar!“
Meine Mutter wusch seine Kleider aus und schnitt ihm das Haar.
Sprechen lehrte mein Vater ihn,
Lesen und schreiben, und es schien,
Was man ihn lehrte, sog er in sich auf – wie gierig er war!
Zur Schule gehörte derzeit noch das Üttinger Feld,
Kaspar und ich pflügten zu zweit, bald war alles bestellt;
Wir hegten, pflegten jeden Keim,
Brachten im Herbst die Ernte ein,
Von den Leuten vermaledeit, von deren Hunden verbellt.
Ein Wintertag, der Schnee lag frisch, es war Januar.
Meine Mutter rief uns: „Kommt zu Tisch, das Essen ist gar!“
Mein Vater sagte: „… Appetit“,
Ich wartete auf Kaspars Schritt,
Mein Vater fragte mürrisch: „Wo bleibt Kaspar?“
Wir suchten, und wir fanden ihn auf dem Pfad bei dem Feld.
Der Neuschnee wehte über ihn, sein Gesicht war entstellt,
Die Augen angstvoll aufgerissen,
Sein Hemd war blutig und zerrissen.
Erstochen hatten sie ihn, dort am Üttinger Feld!
Der Polizeirat aus der Stadt füllte ein Formular.
„Gott nehm‘ ihn hin in seiner Gnad“, sagte der Herr Vikar.
Das Üttinger Feld liegt lang schon brach,
Nur manchmal bell‘n mir noch die Hunde nach,
Dann streu‘ ich ein paar Blumen auf den Pfad, für Kaspar.
Wiso ist der Text in der 1. Pers. Sg. geschrieben?
Oder was meinst du?
Nathan
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Hallo,
habe vorhin in einem alten Musikbuch dieses Lied gelesen.
Ich verstehe nicht, warum R.M. es in der Ich-Form geschrieben
hat.
Weiß es jemand von euch?
Danke!
nenkajHallo nenkaj!
Ich bin ein großer Reinhard Mey Fan.
Hier ist der Text:Sie sagten, er käme von Nürnberg her und er spräche kein Wort.
Auf dem Marktplatz standen sie um ihn her und begafften ihn
dort.
Die einen raunten: „Er ist ein Tier“,
Die andern fragten: „Was will der hier?“
Und daß er sich doch zum Teufel scher‘. „So jagt
ihn doch fort, – so jagt ihn doch fort!“ –Sein Haar in Strähnen und wirre, sein Gang war gebeugt.
„Kein Zweifel, dieser Irre ward vom Teufel
gezeugt.“
Der Pfarrer reichte ihm einen Krug
Voll Milch, er sog in einem Zug.
„Er trinkt nicht vom Geschirre, den hat die Wölfin
gesäugt!“Mein Vater, der in uns‘rem Orte Schulmeister war,
Trat vor ihn hin, trotz böser Worte rings aus der Schar;
Er sprach zu ihm ganz ruhig, und
Der Stumme öffnete den Mund
Und stammelte die Worte: „Heiße Kaspar“.Mein Vater brachte ihn ins Haus, „Heiße Kaspar!“
Meine Mutter wusch seine Kleider aus und schnitt ihm das Haar.
Sprechen lehrte mein Vater ihn,
Lesen und schreiben, und es schien,
Was man ihn lehrte, sog er in sich auf – wie gierig er
war!Zur Schule gehörte derzeit noch das Üttinger Feld,
Kaspar und ich pflügten zu zweit, bald war alles bestellt;
Wir hegten, pflegten jeden Keim,
Brachten im Herbst die Ernte ein,
Von den Leuten vermaledeit, von deren Hunden verbellt.Ein Wintertag, der Schnee lag frisch, es war Januar.
Meine Mutter rief uns: „Kommt zu Tisch, das Essen ist
gar!“
Mein Vater sagte: „… Appetit“,
Ich wartete auf Kaspars Schritt,
Mein Vater fragte mürrisch: „Wo bleibt Kaspar?“
Wir suchten, und wir fanden ihn auf dem Pfad bei dem Feld.
Der Neuschnee wehte über ihn, sein Gesicht war entstellt,
Die Augen angstvoll aufgerissen,
Sein Hemd war blutig und zerrissen.
Erstochen hatten sie ihn, dort am Üttinger Feld!Der Polizeirat aus der Stadt füllte ein Formular.
„Gott nehm‘ ihn hin in seiner Gnad“, sagte
der Herr Vikar.
Das Üttinger Feld liegt lang schon brach,
Nur manchmal bell‘n mir noch die Hunde nach,
Dann streu‘ ich ein paar Blumen auf den Pfad, für
Kaspar.Wiso ist der Text in der 1. Pers. Sg. geschrieben?
Oder was meinst du?
Nathan
Hallo Nathan,
genau das wollte ich wissen.
Hallo nankaj,
betrachte es als Stilmittel der Sprache. Lieder sind ja sowas wie gesungene Gedichte und Gedichte sind meist voll von Stilmitteln (gedankliche Mittel, Mittel der Wortwahl, syntaktische, bildliche und klangliche Mittel), zu denen letztendlich auch die Erzählperspektive gehört. Es spielt stets eine wichtige Rolle, wie ich eine Geschichte erzähle.
Man könnte einen völlig unbeteiligten Erzähler in der dritten Person wählen, doch das wäre für dieses Lied einfach zu distanziert. Direkt in die Haut Kaspar Hausers zu schlüpfen, also der wahre Ich-Erzähler, würde möglicherweise zu subjektiv wirken. Dann könnte er auch schlecht erzählen, was nach dem Tod geschah bzw. er könnte überhaupt nicht in der Vergangenheit erzählen, sondern er müsste seinen Werdegang und Tod im Präsens schildern. Das wäre zu absurd.
Also bleibt noch die Möglichkeit, einen fiktiven Zeitzeugen als Erzähler zu wählen. Das ist zwar auch irgendwie Ich-Perspektive, jedoch ist dieser Pseudo-Ich-Erzähler nicht die Hauptperson. Er erzählt letztendlich auch über die Hauptperson Kaspar Hauser als eher unbeteiligter Erzähler in der 3. Person.
Sie sagten, er käme von Nürnberg her und er spräche kein Wort.
[…]
Sein Haar in Strähnen und wirre, sein Gang war gebeugt.
[…]
Was man ihn lehrte, sog er in sich auf – wie gierig er war!
[…]
Zur Schule gehörte derzeit noch das Üttinger Feld,
[…]
Die Augen angstvoll aufgerissen,
Sein Hemd war blutig und zerrissen.
Erstochen hatten sie ihn, dort am Üttinger Feld!
[…]
Der Polizeirat aus der Stadt füllte ein Formular.
[…]
Der ganze Text hat mit wenigen Ausnahmen sämtliche Merkmale des Erzählers aus der Vogleperspektive. Nur die wenigen Zeilen, in denen klar wird, dass der Erzähler eine Kaspar nahe stehende Person ist, ganz besonders die allerletzte Zeile, bilden eine Ausnahme - eine ganz entscheidenen Ausnahme, denn sie verstärken subtil die Glaubwürdigleit des fiktiven Erzählers und lassen ein intensives Mitgefühl entstehen.
Alles in allem ist die Erzählperspektive nichts weiter als ein Stilmittel, für das sich R.M. aus o.g. und/oder anderen Gründen entschieden haben könnte. Umgekehrt werden ganze Doktorarbeiten über die Wirkung von Erzählperspektiven schreiben, aber die konkreten Gründe für die Auswahl weiß einzig und allein der Autor. Vielleicht hatte er zufällig ein paar tolle Zeilen mit „ich“ und den Text dann drumherum gebaut. Who knows? Alles andere, wie so vieles in der Textanalyse, ist Spekulation, die der Wahrheit entspricht oder nicht.
Die Frage hättest du vielleicht besser ins Deutsch-Brett gepostet.
Gruß
Huttatta