Bei einem Moralanspruch ohne den „guten Willen“ haben wir
es mit sog. Moralsprüchen oder Moralpredigt zu tun.
Dein letzter Satz ist von Nietzsches „Willen zur Macht“
abgeleitet („Die Welt ist Wille zur Macht und nichts außerdem
und ihr selbst seid Wille zur Macht und nichts außerdem“). Das
„Nichts-außerdem“ wird von Blaise Pascal bestritten („Ohne
christliche Moral werdet ihr zu einem Monstrum!“); auch von
Thomas Mann: „Wer Nietzsche wörtlich nimmt, wer ihm glaubt,
ist verloren!“ (Schließlich hat der Mensch ja noch eine
Seele!) – Übrigens war es Hitler, der den schrecklichen
Nietzsche-Satz in Politik umgesetzt hat – mit den bekannten
Folgen.
HA! Kants Zeigefinger-Pädagogik funktioniert deshalb nicht bei allen, weil sie negativ motiviert, mit der Begründung, dass wenn man sich nicht nach dem k. I. verhält, man unvernünftig sei, was, wie du selber sagst, nicht für alle Menschen so einleuchtend ist, dass sie sich nach dieser Philosophie vernüftig verhalten würden. Warum? Weil zum gößten Teil unser Verhalten unbewusst ist und man nicht bei jeder Handlung vorher überlegt, ob sie vernünftig oder unvernünftig nach dem k. I. ist.
Mir fällt gerade während ich diese Zeilen schreibe, auf, dass meine Handlungen im Bad weitgehend unbewusst vollzogen habe und ich muss kurz nachdenken: Hab ich alle Vorgänge einschließlich Füßewaschen vollzogen? Ich muss kurz überlegen, weil ich es nicht bewusst tat und meine Gedanken während des stumpfsinnigen reglemäßigen Waschens von Beginn an bis zum Ende mit anderen Dingen beschäftigt war. Ich war mir also meines Handelns gar nicht bewusst, ähnlich wie wenn man Auto fährt, während man sich mit dem Beifahrer über Gott und die Welt unterhält.
Offensichtlich gibt es also ein Unbewusstes, das unsere Handlungen auch ohne die Kant’sche Vernunftsphilosophie vollzieht. Ich stimme aber Kant insofern zu, wie sein k. I. im Grunde auch mit der von Sokrates zu vereinbaren ist und einschließlich der Nietzsches und Sigmund Freuds mit allen seinen Nachfolgern, wonach das, was in der Evolution der Menschheitsgeschichte unbewusst ist, zu mehr Klarheit in Bezug auf Reflexion und Selbsterkenntnis gebracht werden soll, für eine Zunahme von Vernunft und Wissen über die Welt und uns selbst.
Nun sagst du ja, dass, um Kants k. I. zu befolgen, zuerst einmal ein „guter Wille“ gehört. Das ist eine interessante Aussage, die man näher ergründen müsste, wonach hier jedoch nicht der geeignete Raum ist. Deine Ansicht ist deswegen so interessant, weil sie ein Problem der Philosophie seit ca. 2500 Jahren widerspiegelt, aus dem tierischen Unbewussten mit Hilfe der Vernunft mehr Klarheit über die Welt und sich selbst zu gewinnen. Und da wird es in der Philosophie und Wissenschaft erst so richtig spannend, weil wir in der Zukunft meiner Ansicht nach immer mehr weg kommen von der Kant’schen Zeigefinger-Pädagogik und immer mehr hin zu einem „guten Willen“, der sich aus eigenen inneren und positiven Antrieben heraus stimmulieren lässt. Das gilt nicht nur für das Lernen an staatlichen Regelschulen im Gegensatz zur privaten Elite-Internaten, sondern geschieht auch immer mehr durch die Selbsterkenntnis mittels Psychologie und Hirnforschung, um mehr Klarheit zu gewinnen, nach welchen Motiven überhaupt ein so genannter „guter Wille“ verstärkt oder verhindert wird.
In der Mehrheit staatlicher Regelschulen wird die eigene positive Motivation zum Lernen als „guter Wille“ eher verhindert durch die Zeigefinger-Pädagogik anstatt gefördert, die man nach der Schweizer Psychoanalytikerin Alice Miller auch „schwarze Pädagogik“ nennt. Bezeichnend dafür, was in Manager-Seminaren schon seit 40 Jahren gelehrt wird, nämlich Menschen durch eine postive Motivation dazu zu bringen, den „guten Willen“ aus sich selbst heraus zu mehr Vernunft zu stimmulieren, wird jetzt auch in dem traditionellen Deutschland der Kantschen Zeigefinger-Pädagogik den Lehrern zum Lernen beigebracht, durch die neuen Erkenntnisse der Gegenwartsphilosophie, Sozialwissenschaften und Neurowissenschaft. Um nur ein einziges Beispiel zu nennen: Wenn zu einem Vortrag des Hinrnforschers Prof. Dr. Dr. Manfred Spitzer über das Lernen in so einem unwichtigen Ort wie Schwäbisch Gmünd sieben tausend Lehrer(!) erscheinen, ist das schon etwas ganz Neues und Spannendes, von dem Kant noch gar nichts wusste!
CJW