Historische Genese der Gottesvorstellung
Hi.
ich frage mich und euch, ob es eine Religion mit einem
unpersönlichen Gott gibt oder überhaupt möglich ist.
Ja, aber nur in einem einmaligen Fall, der allerdings eine immense historische Dimension hat: nämlich die Urmutter=Natura naturans-Religion zwischen 40.000 und 12.000 vuZ mit ihren Modifikationen bis ca. 6.000 vuZ. Die historische Entwicklung nach dieser Zeit hat zu der irreversiblen Bedingung geführt, dass ein ´Gott´ nur noch personal gedacht werden kann, ganz einfach deswegen, weil übernatürliche Wesen seit vielleicht 6-7.000 Jahren anthropomorph und personal, d.h. als überhöhte Spiegelbilder irdischer Menschen, vorgestellt werden. Als Alternative sind nur Vorstellungen eines apersonalen Numinosen denkbar, wie sie in der globalen Mystik konzipiert sind und für die der Begriff ´Gott´ völlig deplaziert ist.
Ich beschränke mich auf einen Aspekt, der wie üblich außer von mir von niemandem in diesen Forum thematisiert wird: die historische Genese der Gottheitsvorstellung. Ohne einen Begriff von den Entstehungsbedingungen zu haben, ist es müßig, über Gottesvorstellungen zu sinnieren.
Vieles spricht dafür und nichts dagegen, dass die ursprüngliche Gottheitsvorstellung weiblich - und zwar ausschließlich weiblich - konnotiert war und keinerlei personale Züge aufwies. Ich meine die jungpaläolithische Idee einer kosmisch gedachten ´Urmutter´, welche das Leben - der Menschen und Tiere - periodisch hervorbringt und in sich zurücknimmt (= Wiedergeburtskreislauf / Jungpaläolithikum = Jungaltsteinzeit = ca. 40.000 - 12.000 vuZ)). Es gibt zahlreiche Indizien für die Verehrung einer solchen der Natur einwohnenden Kraft, ich habe das vor einigen Wochen in diesem Board detailliert belegt. Grundlage dieser Vorstellung war die Projektion der Fähigkeit der Frau (und weiblicher Tiere), Leben zu generieren, auf die Natur als Ganzes, die also als Analogon zur Frau gesehen wurde, und zwar unter dem Aspekt der Gebärfähigkeit. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit hat man sich diese Kraft nicht als ein personales Wesen zu denken, das einen spezifischen Eigennamen hat und den Menschen als ein ´Du´ gegenübersteht. Sinnvoller ist es, sich dieses Wesen als eine weiblich konnotierte Kraft vorzustellen, welche nicht getrennt von der Natur existiert, sondern sich in ihr manifestiert. Die `Urmutter´ war also vermutlich als natura naturans , als bildende Kraft in der Natur, gedacht und aufgrund der besagten Analogie weiblich symbolisiert.
Warum das Urkreative weiblich und nicht männlich oder zumindest hermaphroditisch gedacht war, erklärt sich aus der (höchstwahrscheinlichen) Unkenntnis über den männlichen Beitrag zur Zeugung, was sich erst im Kontext der Viehzucht zu Beginn des Neolithikums (Neusteinzeit) änderte. Logischerweise kamen also erst nach dem Einsetzen der Viehzucht erste Vorstellungen eines männlichen Fruchtbarkeit-Gottes auf, zunächst in Gestalt eines Stiers (oder seltener eines Widders). Dieser gleichfalls zunächst noch apersonale Gott, die Verkörperung des ´männlichen Prinzips´, gilt eine Zeitlang nur als Sohn und Begatter (Befruchter) der höhergestellten Muttergöttin.
Das Aufkommen polytheistischer Systeme mit weiblichen und männlichen Gottheiten war ein Reflex der irdisch-sozialen Entwicklung zu einer Hierarchisierung der Gemeinschaften und dementsprechend zu höherer sozialer Komplexität und einer sozialen (also nicht gender-spezifischen) Arbeitsteilung. Die ausschließlich männlichen Viehzüchter (frühere Jäger) begannen eine Herrenschicht zu bilden und die (historisch vorausgehenden) Bauern zu dominieren. Frauen (frühere Sammlerinnen und Begründerinnen des Ackerbaus) wurden aus ihren traditionellen Tätigkeiten (Ackerbau, Pflanzenzucht) herausgedrängt und auf Haus- und Hilfsarbeit beschränkt, weil der Pflug an die Stelle ihrer Hacken trat und der Mann, der das Ochsengespann dirigierte, den Ackerbau übernahm. Hinzu kam das Aufkommen der Metallurgie, ebenfalls komplett in der Hand der Männer. Die soziale Hierarchisierung und ökonomische Spezialisierung bedingte jene theologische Entwicklung, die schließlich ab dem 4. Jt. vuZ in ausgefeilten polytheistischen Systemen mit jeder Menge personal gedachter Gottheiten beiderlei Geschlechts mündete.
Aus Sicht der Kritischen Theorie ist die Herausbildung personaler Gottheiten ein Ausdruck des Bemühens, irdische Herrschaft (das Fürsten - und Königtum ) zu legitimieren, also jene Form sozialer Hierarchie, die entstand im Zuge
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der Aneignung sozialer Macht einer bestimmten Gruppe (die reichsten Viehzüchter) über den Rest der Gemeinschaft (andere Viehzüchter, Bauern, Handwerker usw.), und
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der sozialen Degradierung der Frau zum Gehilfen des Mannes (der die traditionelle Frauendomäne, den Ackerbau, übernommen hat).
Im 4. Jt. vuZ nahm die religiöse Ideologie in Mesopotamien klare Formen an. Ich zitiere beispielhaft ein paar Zeilen von der „Geierstele“, einem Monument des Sieges des Königs von Lagasch, Eannatum (um 2.500 vuZ), über die benachbarte Stadt Umma:
Ningursu (= Stadtgott von Lagasch) hat den Eannatum gezeugt.
(…)
Inanna hat ihn (Eannatum) auf den Arm genommen und ins Eanna gebracht (=Tempel der Fruchtsbarkeitsgöttin Inanna).
Sie hat ihn der Ninhursag (= Muttergöttin) auf ihren Schoß gesetzt und an ihre Brust gelegt.
Über Eannatum hat sich Ningursu (Stadtgott) gefreut.
Ningursu hat ihm aus großer Freude das Königtum über Lagasch verliehen.
(usw.)
Die Funktion personal gedachter Gottheiten besteht hier unübersehbar darin, den Herrscher als gottgewollt zu legitimieren. Spätere Vorstellungen vom „Gottesgnadentum“ wurzeln darin.
Zusammenfassung:
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Die ursprüngliche Gottesvorstellung ist apersonal. Die ´Gottheit´ wird als abstraktes Analogon der Frau vorgestellt. Der entsprechende soziale Hintergrund ist tendenziell egalitär, d.h. ohne hierarchisch geordnete soziale Schichten. Schamaninnen und Schamanen dürften als charismatische Autoritäten fungiert haben.
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Mit dem erhöhten Selbstbewusstsein des Mannes (Erkenntnis seiner Zeugungsfähigkeit) kommt es zur Herausbildung männlicher Gottheiten, die sich schrittweise an die Bedeutung weiblicher Gottheiten annähern und diese schließlich überholen (ab dem 4. Jt. vuZ). Alle Gottheiten werden fortan personal vorgestellt. Die erfolgreichsten Viehzüchter schwingen sich zu den Herren der Gesellschaft auf. Ihre Werkzeuge werden später theologisch überhöht (Geißel und Krummstab). Ein Reflex findet sich auch im AT, wo der Hirte Abel von ´Gott´ dem Ackerbauern Kain vorgezogen wird.
Die personale Gottesvorstellung ist also ein Resultat ´theologischer´ Bemühungen der ersten Herrenschichten, ihre Herrschaft religiös zu legitimieren. Kurz: Sie ist genuine Ideologie.
Der natürliche spirituelle Impuls im Menschen wurde davon zwar eingeengt, aber nicht ausgelöscht. Die Idee einer apersonalen natura naturans wurde später ´vergeistigt´, was sicher auf entsprechende schamanistische Erfahrungen zurückgeht bzw. auf Erfahrungen, die sich schamanistischen Bewusstseinstechniken verdanken. Als Beispiel nenne ich Parmenides, den ersten bekannten Geist-Philosophen der Antike, welcher, Prof. Walter Burkert zufolge, durch schamanistische Techniken inspiriert war. Im Osten entwickelten sich apersonale Vorstellungen einer numinosen ´Kraft´ im Brahmanismus (Brahman = der apersonale unendliche Weltgeist) und, in produktiver Auseinandersetzung damit, der Buddhismus (Nirvana / Shunyata). Im Westen widmete sich die Mystik der Erforschung des apersonalen Numinosen.
Dass diese mystischen Strömungen sehr viel mehr auf der Linie der uralten Vorstellungen einer apersonalen Natura naturans (wie im Urmutter-Kult erstmals ausgeformt) als auf der Linie der ideologischen Konstrukte der polytheistischen und monotheistischen Systeme liegen, ist wohl klar. Ein Bindeglied ist z.B.die ägyptische Muttergöttin Isis, die im Zentrum eines antiken, der Erforschung des Numinosen gewidmeten Mysterienkultes stand und symbolisch als alles erzeugende Kraft, also als Natura naturans, verehrt wurde. Dass die polytheistischen und monotheistischen Systeme dieses Potential auch auf ihre personalen Götter übertragen hatten (z.B. in Ägypten Atum und Ptah, im Judentum Jahwe, im Christentum ´Gott´, im Islam Allah), ist nichts anderes als ein sekundärer personalisierender Abklatsch der viel älteren Vorstellungen der alles erzeugenden apersonalen Allgöttin.
Chan