Bewusstseinsebenen - der beste Einstieg
Hi Eurydice.
Ich habe denn (spärlich, zugegebenermaßen) versucht mich in
sein Gedankengut rein zu lesen, verstehe das Ganze aber nicht
wirklich.
Wilbers Werk ist derart komplex, dass ein Zugang zu ihm für Neueinsteiger nur sehr schwer möglich ist. Ich halte die Themen „Bewusstseinsebenen“ und „Quadranten“ für die zentralen Punkte seines Werks, während die Holontheorie, die er für sehr wichtig hält, mir nicht so zwingend erscheint. Vielleicht macht es Sinn, dass ich hier ein Spotlight auf die „Bewusstseinsebenen“ werfe, da sie meines Erachtens das sind, was für Wilbers Werk am charakteristischsten ist und den Welterfolg schon seiner ersten Bücher begründete.
Wilber geht davon aus, dass der menschliche Geist komplexer strukturiert ist, als es die konventionelle westliche Psychologie annimmt. Er orientierte sich dabei an der Bewusstseinsebenen-Theorie des modernen hinduistischen Philosophen Sri Aurobindo. Von C.G. Jungs Archetypenlehre, die Wilber noch in seinem ersten Buch ebenfalls als Vorbild nimmt, hat er sich später distanziert. Er entwirft ein Modell, das die Entwicklung des menschlichen Geistes vom Stadium des Säuglings bis zum vollends Erleuchteten beschreibt. Er betont, dass diese Kontinuität der Geistesstufen in jedem Menschen angelegt, also kein Privileg besonderer Genies ist, dass die Realisierung aber von der Begabung und dem Willen der Individuen abhängt.
Im einzelnen sind die Stufen die präpersonalen (sensomotorisch, magisch-mythisch, konkret-operational), die personalen (formallogisch-reflexiv, schaulogisch) und transpersonal (psychisch, subtil, kausal, nondual).
Im folgenden verwende ich diverse Passagen aus einem umfangreichen eigenen Text, den ich vor Jahren schrieb zu Zeiten der alten Rechtschreibung. Ich denke, ein Einsteiger muss erst mal diesen Tobak schlucken, bevor er/sie sich mit dem Quadranten-Thema befasst, von dem das hier behandelte Bewusstseinsebenen-Thema nur ein Aspekt ist (von vieren). Alle Wilber-Zitate stammen aus „Eros, Kosmos, Logos“.
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Sensomotorisch: Diese Stufe umfaßt die ersten zwei Lebensjahre. Das Kind beginnt seinen Körper von Fremdgegenständen zu unterscheiden. Nach etwa anderthalb Jahren hat das Kind ein Körper-Ich entwickelt, aber noch kein annähernd ausgereiftes Ich-Gefühl. Es kann nämlich oberhalb der Ebene seiner Selbst- und Fremdkörperwahrnehmung, also auf der Ebene der geistigen Interpretation der Objektwelt immer noch nicht hinreichend Selbst und Anderes auseinanderhalten.
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Magisch-mythisch: Ab dem fünften Lebensjahr geschieht ein Wandel vor allem im magischen Verhältnis zwischen dem kindlichen Subjekt und seiner Objektwelt: ausgehend von der Einsicht, dass die Dinge doch nicht dem eigenen Ich untertan sind, verlagert das Kind die magische Dominanz in eine andere Person. Es beginnt jetzt Mythen zu bilden, was zeigt, dass es im wesentlichen in die intersubjektive Struktur hineingewachsen ist: es versucht, die objektive Welt unter den magischen Schirm einer dominanten (realen oder fiktiven) Gestalt zu stellen, deren Ego nicht mit dem eigenen zusammenfällt.
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Konkret-operational: Auf solcher Grundlage beginnt nun in Wilbers bzw. Piagets Entwicklungstheorie die konkret-operationale Stufe, die im Regelfall spätestens mit dem dreizehnten Lebensjahr abgeschlossen sein wird. Auf ihr macht das Kind den wichtigen Schritt vom egozentrischen zum - wie Wilber es nennt - soziozentrischen Denken. Es lernt nun über Rollenidentitäten zu verfügen und, was Voraussetzung dafür ist, auch den Standpunkt anderer Subjekte einzunehmen.
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Formalreflexiv: Auf der konkret-operationalen Stufe kann aber noch keine Rede von einer voll ausgebildeten, d.h. eigenverantwortlichen moralischen Kompetenz sein, denn eine Gruppenmoral ist etwas ganz anderes als das Vermögen, in differenzierter und relativ unabhängiger Weise moralische Entscheidungen zu treffen. Während die Gruppenidentität erfordert, die Handlungen strikt nach den Kriterien der Gruppennormen auszurichten, vermag auf der nächsthöheren Stufe, der formalreflexiven (ab dem 12. Lebensjahr), das Individuum aus dieser Begrenzung herauszutreten und Standpunkte einzunehmen, die sowohl jenseits des Persönlichen als auch jenseits des sozialen Umfeldes liegen, aus welchem die verinnerlichten Gruppennormen herrühren.
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Schaulogisch (auch „visionäres Denken“ genannt: Charakteristisch dafür ist im Unterschied zur pluralistischen Formalreflexivität die Uneingeschränktheit der globalisierenden Tendenz. Der schaulogische Mensch empfindet sich als Mitglied einer Weltgesellschaft, er denkt kosmopolitisch und leitet all seine Überlegungen vom Ideal einer geeinten Menschheit ab, die nicht durch rechtliche, moralische und politische Grenzen in sich gespalten ist. Ist das formalreflexive Subjekt international orientiert (also relativ global), so das schau-logische transnational und kosmopolitisch (also absolut global).
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Psychisch: Charakteristisch für diese Stufe ist, dass ‘Erkennen’ hier bedeutet, die `Spiegelung des universellen Geistes in den Dingen´, in den Formen der Natur wahrzunehmen, wobei das erkennende Subjekt - als Bewusstsein - die Öffnung oder Lichtung ist, in welcher das gespiegelte universelle Licht aufscheint; es scheint auf an den Dingen, ist aber viel mehr als diese Dinge. Die Natur ist Symbol, verweist auf ein Transzendentes, das zugleich schon, als allesdurchdringendes Licht, sichtbare Wirklichkeit ist für das gewahrende Subjekt.
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Subtil (=feinstofflich): Die subtile Stufe hat ein stark orgiastisches Moment; das in diesen Modus eingetretene Subjekt erfährt eine unermessliche Kraftsteigerung und eine ungeahnte Intensivierung des Lebensgefühls. Notwendige Voraussetzung dafür ist das Loslassen des Subjekts von seiner Ichheit, von der hartnäckigen Illusion, eine autonome, in sich eingekapselte Ich-Identität zu besitzen. In Goethes Gedicht über die ‘selige Sehnsucht’ kommt zum Ausdruck, dass dieses Loslassen zugleich ein Sterben ist: „Sagt es niemand, nur den Weisen, /Weil die Menge gleich verhöhnet! /Das Lebend’ge will ich preisen, /Das nach Flammentod sich sehnet.“
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Kausal: Das reine Selbst als der reine universale Geist, als die ‘Seele’ des Universums - dies ist Bewusstsein auf der kausalen Stufe. Kausales Bewusstsein ist das Sein, das different ist von den vergänglichen Formen der Gedanken-, der Gefühls- und der Sinnenwelt, es ist unvergängliches Sein versus vergänglich Seiendes, ist das Ufer, an dem die Dinge vorüberströmen, ist das Bett, in dem sie strömen, nicht zuletzt aber auch die Quelle, der dieses Strömen entspringen. Um diese Struktur von der nächsthöheren und höchsten, der nichtdualen, abzuheben, zitiert Wilber einen prägnanten Spruch von Sri Ramana Maharshi: „Die Welt ist illusorisch;/ Brahman allein ist wirklich;/ Brahman ist die Welt.“ Dazu schreibt Wilber: „Die ersten beiden Zeilen stehen für das rein kausale Bewusstsein, das Aufgegangensein im reinen oder formlosen Geist. Die dritte Zeile umschreibt die letzte, nichtduale Vervollständigung, die Einheit des Formlosen mit aller Form.“
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Nondual: Auf dieser höchsten Ebene sind die manifesten Formen (die Dinge, die Erscheinungen) nicht mehr das, was sie in der Optik des verblendeten personalen Subjekts noch zu sein schienen. Sie sind auch nicht die lichtdurchdrungenen Symbole oder Ausdrucksformen des universalen Geistes wie auf der psychischen Stufe. Auch keine halluzinatorischen Erscheinungen wie auf der subtilen Stufe, wenngleich diese einen Wirklichkeitsgrad innehaben, der die alltäglichen Phänomene weit in den Schatten stellt. Auch nicht, aus der Perspektive der kausalen Erleuchtung, die irrealen Gestalten in den Traumkulissen der Welt des Jivatman, der um seine Identität mit Brahman nicht weiß. Vielmehr sind sie - und der Ausdruck ‘nichtdual’ kann nur dies besagen - der Geist, wie er ist. Nichts anderes. In Wilbers Worten: „Wenn das Bewusstsein den Zustand … der kausalen Absorption ohne Manifestation voll durchlaufen hat, soll es endlich wieder zu seiner ursprünglichen und ewigen Wohnstätte als absoluter Geist erwachen, strahlend und alles durchdringend, eins und vieles, einziges und alles - die vollständigen Intergration und Identität manifester Form mit dem unmanifestierten Formlosen … Streng genommen ist das Absolute nicht eine Ebene unter anderen, sondern die Realität, Bedingung oder Soheit aller Ebenen.“
Gruß
Horst