Liebe/-r Experte/-in,
ich habe vor einiger Zeit in einem Kinderheim (Namen nenne ich nicht) ein Praktikum gemacht. Das Kinderheim ist NICHT geschlossen, sondern eine offene Einrichtung. Jetzt bin ich im 5. Semester Pädagogik an einer öst. Universität (Bachelorabschluss, kein Lehramt!). Im Kinderheim arbeite ich nicht mehr.
Ich habe inzwischen doch die eine oder andere erziehungsrelevante Theorie gehört. Meine Frage soll einige Fallgeschichten spotlightartig schildern, die ich nicht „päd. durchdringen“ kann; was ich suche, sind rein aus Interesse Vorschläge in Bezug auf mögliche THEORIEGELEITETE erzieherische Reaktionen UND möglichst auch Hinweise darauf, ob es sich hier ÜBERHAUPT noch um Erziehungssituationen handelt oder um Situationen des Jugendstrafrechts, wo also eigentlich die Polizei eingeschaltet werden sollte und Erziehung an die Grenze stösst:
Situation a) D.R. hält sich an keine Regeln. Er fällt trotz normalen IQs in der Grundschule 2 * (!!) in der 3. Klasse durch, es „droht“ Förderschule, er muss eh schon sehr hohe Dosen von starken Psychopharmaka nehmen. Er versucht, andere Kinder des xxxxxx-Kinderheims zu Mutproben zu verleiten. Letztlich begeistert er T.O. zu einer Brandstiftung. Anmerkung: Das xxxxxx-Kinderheim ist ein alter Fachwerkbau, brennt also sehr leicht. Der Brand wird bemerkt und niemand (ausser Sachen) kommt zu Schaden. D.R. kommt 5 Monate in eine geschlossene Kinderpsychiatrie und wird u.a. neu (med.) eingestellt. Danach darf er trotz des Feuerlegens ins alte Kinderheim UND die alte Schule zurück. Inzwischen ist bekannt geworden, dass er (ältere + schwächere + weibliche) Erzieherinnen körperlich bedroht (wegen seines Alters / Statur inzwischen auch ernst zu nehmen).
War die Wiederaufnahme Eurer Meinung nach gerechtfertigt? Wie sollte eine ältere Erzieherin reagieren, wenn sie eindeutig NICHT „im Spaß“ mit einem Messer bedroht wird? Wie sollte (mit dem inzwischen strafrechtlich belangbaren) D. R. verfahren werden, Zurechnungsfähigkeit ausdrücklich angenommen? Hatten Sie als w-w-w-Expertin auch schonmal eine solche Situation?
Was halten Sie von der Einstellung „das ist schlimm, aber wir sind Pädagogen, wir regeln das intern, keine Polizei, das ruiniert den Ruf vom xxxxxxx-Kinderheim und wir zerstören den Lebenslauf der Kinder durch einen frühen Führungszeugniseintrag“?
Situation b) B.Z. ist Teil einer ca. 12 - 15jährigen Mädchenclique (peer group) im Kinderheim. Sie ist Kind in der „großen“ Gruppe von Erzieherin J.L. Erzieherin J.L. gilt als unbeliebt, soll hier aber nicht als unfair oder aggressiv vorgestellt werden. J.L. provoziert Kinder NICHT. B.Z. wird von einem anderen Mädchen zu einer Mutprobe herausgefordert, die darin besteht, Erzieherin J.L. zu verletzen, was auch in der Form einer mittelschweren Handverletzung gelingt. B.Z. brüstet sich danach beim Gemeinschaftsessen, „wie scheiße die fette Sau“ (gemeint ist die verletzte Erzieherin J.L) „doch geguckt habe“. Die Heimleitung entscheidet für die Angreiferin B.Z. auf Streichung des heimüblichen 3-wöchigen Erholungsurlaubs zu Gunsten eines Aufenthaltes bei der Mutter von B.Z., die das Mädchen B.Z. bekanntermaßen ausbeutet (idFv Putzdiensten, Einkäufen, etc.) Das Mädchen darf im Heim bleiben. Erzieherin J.L. hat aus ihrer eigenen Kindheit Gewalterfahrungen. Sie muss - nicht zuletzt wegen des tätlichen Angriffs der B.Z. eine ambulante Psychotherapie wegen einer reaktiven Depression besuchen. Die Erzieherin arbeitet danach in einer anderen Untergruppe des xxxxxx-Kinderheims. Frage: Wäre ein Täter-Opfer-Ausgleich sinnvoll? War es von der Heimleitung gut, der geschlagenen Erzieherin J.L. mit Kündigung zu drohen, wenn sie den Vorfall (Anmerkung: Täterin B.Z. ist 15, ganz klar voll zurechnungsfähig und somit jugendstrafmündig) bei der Polizei anzeigte? Sollte B.Z. überhaupt im xxxxxx-Kinderheim weiterwohnen dürfen?
Situation c) J.R. ist 12, keine Intelligenzminderung, Elternhaus zerrüttet im Sinne von Drogen, Gewalt, Krankheit, etc., provoziert selbst für Verhältnisse des xxxxxx-Kinderheims auffallend viel. Für ihr noch kindliches Alter verfügt sie über hervorragende Kenntnisse im dt. Jugendrecht / SGB. Sie hat herausgefunden, dass ihr vom dt. Jugendamt im Alter von 16 Jahren eine eigene EINZEL-Wohung gestellt werden muss, wenn sie bis dahin nicht anderweitig (Dauerpflege, Heim, Jugend-WG) vermittelbar ist. Ihr Ziel IST GENAU eine solche Wohnung. Zum Zeitpunkt meines Praktikums war für J.R. erkennbar, dass KEINE Gründe vorliegen, die einen Wechsel aus dem xxxxxx-Kinderheim in eine andere Unterbringungsart begründen würde, sie wollte aber dort raus (Zitat „die Sau rauslassen“). Als Gründe für einen erzwungenen Wechsel sind ihr Gewalt im Kinderheim, Sachbeschädigung, etc. bekannt (damit liegt sie rechtlich auch 100 % korrekt). Nachdem sie von der Möglichkeit, so aus dem Kinderheim zu kommen, erfuhr, ging sie durch den Hauptgang im Heim, riss ältere Bilder von der Wand, zerbrach eine Blumenvase, das Wasser beschädigte das Parkett, ging dann nach draussen und zertrat einen CD-Player, mit dem ein Kind aus der Kleinkindergruppe gerade eine Kinder-CD abspielte (J.R. hatte ausdrücklich KEIN PROBLEM mit dem Kind, dem der CD-Player gehörte) und beschimpfte danach einige Erzieher (rein willkürlich). In der Nacht ging sie mit der oben genannten Clique heimlich ausser Haus und wurde bis 5 Uhr morgens von der Landespolizei gesucht. Die Kosten für die Suchaktion trug das Kinderheim und letztlich die Gruppenkassen der betr. Gruppen durch Umlage. Soweit mir bekannt, „tingelt“ J. R. derzeit durch verschiedenste lokale Jugendfürsorgeeinrichtungen mit immer dem gleichen Verhaltensmuster. Ihr Ziel, mit 16 vom dt. Jugendamt eine Wohnung gestellt bekommen zu MÜSSEN, scheint sehr wahrscheinlich aufzugehen: Auch hier meine Frage: Was ist ein sinnvolles Vorgehen in solchen Fällen? Ist auch hier Pädagogik am Ende und die Justiz am Zug oder gibt es legale Mittel, die wirksam sind? Gibt es Literatur, die sich konkret mit solchen besonderen Härtefällen befasst?
Situation d) (ähnelt prinzipiell c))
S.M. ist „ganz frisch“ 14 geworden und für sein Alter extrem kräftig und äußerst sportlich. Die komplette Heimbelegschaft incl. Psychotherapeuten, Diplompädagogen, Sozialpädagogen, Heilpädagogen geht davon aus, dass er ADHS (was das aggressive Verhalten plausibler machte) hat. Er hat regelmäßige Stimmungsschwankungen, die meist KEINEN leicht nachvollziehbaren Auslöser haben. In einer Situation wo ich und die ältere Erzieherin B.K. eingeteilt waren, missachtete er eine der Heimregeln (die für alle gleich sind). Als er deswegen zur Rede gestellt werden sollte, flüchtete er auf das als labil bekannte Dach des Kinderspielzeugschuppens. Vorher nahm er noch 2 Dreiräder aus Metall mit sich. Als die Vorgesetzte und ich ihn zum Herunterkommen bewegen wollte, provozierte er mit „Du Scheißpraktikant, fick doch die alte Schlampe“. Als wir ihm näher kamen, warf er mit den Metalldreirädern nach uns, wobei er klar auf den Kopf zielte.
Ähnliche Vorfälle wiederholten sich; auch gegenüber Kindern in seinem Schlafzimmer war er rüde. Letztlich wurde ein Termin in der …-Psychiatrieambulanz einer Kinderstation ausgemacht, um auf evtl. Artefakte in einem EEG / CRT zu schließen. Es stellte sich - auch durch psychodiagnostische Tests - heraus, dass S.M. (er ist Sonderschüler in der schwächsten Leistungsgruppe!!!) normal intelligent ist, keinerlei ADHS-Merkmale hat, keinerlei Entwicklungsstörungen hat und sein komplettes Verhalten (kam wohl durch Lügenfragen in einigen Testskalen raus) eine langjährig durchgehaltene Dyssimulation ist. Letztlich war der „Erfolg“ bei ihm, dass es nicht einmal der als bei allen Kindern als sehr tolerant bekannte geistig behinderte Epileptiker mit ihm in einem Zimmer aushielt und er sich durch sein Verhalten ein Einzelzimmer „verdiente“. Auch hier wieder zuletzt die Frage: Wie vorgehen?
Würde mich freuen, wenn Ihr in Eurer Antwort schreiben könntet, was Ihr seid… (SozPäd, Erzieher, Kinderpfleger, Päd-Studi oder so …)
Danke und Gruß, H. R.