Hallo!
Um diese Frage zu beantworten muss ich ein wenig ausholen, aber ich fasse mich möglichst kurz: Es ist nicht etwa so, dass es damals schon einen „Vatikan“, wie heute gab, und da saß einer und sagte „Kindheitsevangelium? Nach Thomas? - Kommt auf keinen Fall rein!“
Zu Anfang des Christentums gab es einzelne Gruppen, die jeweils für sich versuchten, sich an das Vorbild Jesu anzulehnen, seine Aufforderungen zu befolgen und die Erinnerung an ihn wach zu halten. Und dazu gab es Menschen wie Petrus und vor allem Paulus, die versuchten eine gewisse Übereinstimmung zwischen den Gruppen zu gewährleisten. Ohne jetzt einzelne Entscheidungen diskutieren zu wollen - aber es muss ja auch für eine Gruppe wie das Christentum Grenzen geben, die man nicht überschreiten kann, ohne damit per Definition eben NICHT mehr Christ zu sein. Wenn man etwa sagen würde ‚Jesus ist gar nicht gestorben, und er war auch nicht Gottes Sohn und in Wirklichkeit ist ein Double für ihn eingespßrungen, aber dem konnte nix passieren, weil der eh von einem anderen Planeten war…‘ Dann ist das zwar bestenfalls auch eine irgendwie in sich stimmige Idee - aber jedenfalls kein Christentum mehr.
Eigentümlich für das Christentum in der frühen Zeit ist eine durchaus hohe Anzahl an Schriften. Und ganz typisch und innovativ war tatsächlich, dass diese in Foprm eines „Kodex“, das meint erstmal nur: In Form eines „Buches“, also blätterbar, und nicht rollbar (Papyrus) festgehalten wurden. Falls Dich das tiefergehend interesiert ist das von Klaus Berger und Christiane Nord herausgegebene Buch „Das neue Testament und frühchristliche Schriften“ mit Vorsicht zu empfehlen. Es zeigt -bildich gesprochen- was damals so auf dem theologischen Schreibtisch alles herumlag, und eben auch was NICHT in das neue Testament hineinkam. Ob seine zeitlichen Zuordnungen von einzlenen Schriften immer stimmen sei mal dahingestellt.
Die Entscheidungen darüber, was nun in das Neue Testament übernommen wurde, kann man tiefgehend untersuchen, beim Kindheitsevangelium des Thomas empfehle ich jedoch einfach mal es zu lesen:
Jesus wird von einem Jungen angerempelt - und Jesus wird wütend und sagt „Du sollst deinen Weg nicht weitergehen!“, der Junge fällt um und ist tot. Ein anderes Mal zieht er ein kurzes Brett in die gewünschte Länge, zudem soll er in der Schule „erst Griechisch, dann Hebräisch“ lernen - und ein Nachbarsjunge heißt ‚Zenon‘ - wohl eher ein griechischer als ein hebräischer Name und damit zumindest sehr unwahrscheinlich.
Will sagen: Bei dem Kindheitsevangelium handelt es sich um -für heutige Ohren oftmals schon komische Episoden- für damalige Ohren vermutlich um einen nachträglichen „Beweis“ der Größe Jesu, der der damligen Logik folgte: Große Männer waren schon in ihrer Kindheit groß. Dazu wurde gerne erfunden - denn am Ende des zweiten Jahrhunderts war die Quellenlage für die berichteten Geschichten tatsächlich nicht mehr glaubwürdig. Das erste Evangelium entstand 30 Jahre nach Jesu Tod (und ist damit unglaublich historisch, wenn es einmal mit den Quellen über andere historische Persönlichkeiten vor zweitausend Jahren vergleicht), das letzte vermutlich 60 Jahre - also noch vor Ende des ersten Jahrhunderts (hier entscheidet Berger noch anders…) Das Kindheitsevangelium des Thomas hingegen liegt gut 100 Jahre später.
Natürlich ließe sich nun trefflich streiten ob die Berichte der Evangelien auch alle historisch sind (Auferstehung, Gang auf dem Wasser usw.) - Tatsache bleibt aber, dass zur Zeit der Zusammenstellung des Kanons der Schriften des Neuen Testaments keiner geglaubt hat mit diesem Kindheitsevangelium eine gute Überzeugungsarbeit zu leisten, während die ausgewählten Evangelien diesen Zweck doch zu erfüllen versprachen…