Psychologie…und
Wirtschaftswissenschaften, die hohe Kunst der Elimination von Randbedingungen, die nach wie vor fast ausschließlich unter der Annahme rationaler Entscheidungen ihre Theorien entwirft und Daten erhebt. Das passt einfach nicht zusammen. Aber wie dem so ist, in der SZ kann und darf der neue Stern am neoliberalen Kapitalismushimmel, Max Roser (MR), gerne für einen Wohlfühlartikel verwendet werden, alldieweil keine Kommentarfunktion den Frieden stören kann. Ich bin sicher, dass diese „Alles nicht so schlimm-Essenz“ des Artikels in vielen Punkten durch fachliche Kommentare deutliche Einschränkungen und Widersprüche verpasst bekommen hätte. Nicht zuletzt, weil der Artikel verkürzt und gar ohne einige kritische Anmerkungen von MR veröffentlicht wurde.
Armut
„It is important to notice that the International Poverty Line is extremely low.“ schreibt MR auf seiner Seite ourworldindata.org (ich nehme Bezug im Nachfolgenden auf diese Daten).
MR bezieht Armut auf einen rein monetären geldwerten Ansatz. Das machen viele Ökonomen so. Völlig verzichtet wird auf andere Aspekte wie Soziales oder Gesundheit oder Lebensqualität allgemein, wie es in verschiedenen Ansätzen zur Definition von Armut erfolgt. Es gibt unterschiedliche Ansätze des geldwerten Ansatzes, der sich lediglich in der Höhe des Ansatzes unterscheidet, beispielsweise: 1$/day bzw. 2 $/day (Bourguignon and Morrison, Zeitraum 1820 - etwa 1990) oder 1,90 $/day (Weltbank, seit 1981). Unterschiede bezüglich der tatsächlichen preislichen Zustände und Veränderungen in verschiedenen Ländern wurden berücksichtigt (PPP adjustement). Beide Berechnungen (sie haben unterschiedliche Berechnungsbasis) bestätigen einen Rückgang der Armut nach dieser Definition.
Alles gut? Mitnichten.
Über Jahrhunderte vor der industriellen Revolution waren nahezu 99% aller Menschen nach heutigem Berechnungsmaßstab gleichermaßen arm. Erst seit Beginn der industriellen Revolution sind Einkommen, Vermögen, Wohlstand drastisch gestiegen.
Bemerkenswerterweise allerdings sehr ungleich verteilt. Es haben sich, hier nur bezogen auf die Industrieländer, deutliche Unterschiede innerhalb der vorher gleichwertigen Gruppe „Arm“ gebildet, während der 1%-Feudalkropf an der Spitze unverändert blieb.
Die ungleiche Verteilung innerhalb der ersten Gruppe ist kein Fortschritt!
Eine bleibende Gruppe „Arm“ hätte es nicht geben dürfen, es gibt sie aber heute noch. Dieser Effekt ist in nahezu allen Industrieländern zu verzeichnen, obgleich hier ein Vermögen entstanden und vorhanden ist, welches bei etwas höherer Verteilungsgerechtigkeit eine Untergrenze ergeben müsste, die deutlich oberhalb der Armutsgrenze liegen würde.
Ergänzend der Blick in Industrieländern auf den für sozialen Zusammenhalt und Gerechtigkeit wichtigen Aspekt der relativen Armut anhand eines Beispiels aus den empirischen Erfassungen von MR, hier Kinderarmut: In D 9,8%, Luxemburg 12,35%, USA 20,46%, und Türkei 25,27%. Trotz absolut vorhandenen Reichtums ergeben sich bezüglich relativer Armut in den einzelnen Industrieländern erstaunlicherweise sehr hohe Armutszahlen. Offensichtlich steigt mit Zunahme allgemeinen Wohlstands die relative Armut an. Das ist kein Erfolg! Ein Nachweis aber für Auseinanderdriften der bekannten Schere.
Armut im globalen Vergleich:
Aus den Erhebungen von MR geht hervor, dass es zwischen den Staaten/Nationen erhebliche, vielerorts steigende Unterschiede gibt. Die Schere zwischen armen und reichen Nationen steigt an. Negativ betroffen sind u.a. insbesondere Indien und Zentralafrika. In Staaten wie Nigeria werden Menschen aufgrund der Tatsache, dass die Statistiken rein monetär geführt werden, nicht als unterhalb der Armutsgrenze befindlich geführt, weil sie monetäre Zuwendungen für den Kauf von PET-Flaschenwasser bekommen. Faktisch steht ihnen aber aufgrund fehlender Infrastrukturmaßnahmen, in anderen Ländern wegen Boden- und Wasserverseuchung, kein sauberes Brunnen- oder Quellwasser zur Verfügung. Sie leben dauerhaft in Abhängigkeit, bei fehlender Stromversorgung sind die Verhältnisse ebenso weit verbreitet in vielen Staaten. Die Statistik unterschlägt absolute Armutsbetroffene aufgrund ihres rein monetären Ansatzes. Und sie unterschlägt Lebensqualität.
Eine andere Definition von Armut liefert die UN. Über Hunger anstelle Geldwert. Bezüglich der Defizite und Täuschungsversuche dieser Betrachtungsweise verweise ich der Einfachheit halber hierauf:
Änderung der Berechnungsbasis?! Wow!
Abschließend noch ein Hinweis auf die einleitende Feststellung von MR zu Beginn: Die Höhe der monetären Ansätze von 1$/day bis 2$/day ist willkürlich. Trotz Preisanpassung ist zum ersten die Konstanz der Höhe nicht gerechtfertigt, weil die allgemeine Erhöhung des Wohlstands nicht berücksichtigt wird. Zum Zweiten ist die Höhe äußerst fragwürdig, vermutlich beabsichtigt, um die absolute und relative Zahl Betroffener gering zu halten.
Der Preis
Darauf muss ich kurz auch noch eingehen. Erstaunlich, dass Ökonomen wie MR diese zentrale ökonomische Kenngröße bei ihren Betrachtungen (ich meine hier Interviews beispielsweise) völlig außen vor lassen.
Nichts ist umsonst, so haben auch Wohlstand und Armut ihren Preis, der sich wie folgt in größtmöglicher Kürze darstellen lässt:
Trotz sinkender Wachstumsrate Zunahme der Weltbevölkerung, daraus die Notwendigkeit, mehr Lebensmittel zu produzieren, mehr Flächen zu roden, extensive Tier- und Flächennutzung, Enteignung von Kleinbauern und „Vertreibung“ in billigste Lohnarbeit bis hin zur Sklavenwirtschaft, anhaltende Kinderarbeit (bis hin zum Sammeln auf Müllhalden), Aussterben von Arten, Boden-, Luft- und Gewässerverschmutzung, Fluchtursachen und Flüchtlingswanderungen (Entwurzelung), nicht zuletzt Klimawandel.
Fazit
Meines Erachtens ist der Artikel an die „Wohlstands-Mitte“ gerichtet. An diejenigen, die (noch) dieses Gefühl der Stabilität verinnerlicht haben. Für sich. Keine negativen Erfahrungen oder Erwartungen haben. Und wenig an die und das andere da draußen denken.
Aber er, der Artikel, spiegelt sicherlich nicht die Realität wider, wie es es in der Überschrift nennst. Eine stark verzerrte Realität, angesichts anhaltender und zunehmender Ausbeutung, vermehrter Reichtumskonzentration, und anstehender zukünftiger Folgen und Folgekosten, die vermutlich „sozialisiert“ werden.
Der Artikel suggeriert ein falsches Wohlfühlklima, weil er einzelne Daten herauspickt und ohne Darstellung von Basiswerten, Berechnungsverfahren, Kausalitäten, Abhängigkeiten und Zusammenhängen falsch interpretiert. Egel ob vom Autor beabsichtigt oder mit großer Nachlässigkeit dahingeschmiert: Ich schiebe den Artikel vorsichtshalber in meine Schublade „Versuche der Propaganda und Manipulation“.
Franz
PS
Max Roser: Hatte mal empirische Untersuchungen angedacht zu Veränderung von Einkommens- und Vermögensverteilung. Geknickt. Er verweist da gerne auf Picketty. Der konnte sich das Thema leisten. MR in dem relativ neuen Ökonomieinstitut in Oxford, finanziert von Soros - Balsillie - Janeway, kann da wohl nicht so recht tätig werden. Zumindest bestätigt er aber auch eine Zunahme der Einkommensschere in den letzten ca. zwei Jahrzehnten in seinem umfassenden Datenwerk.