Kleine Erinnerung an die Realität: Wie sieht die globale Entwicklung aus?

Hallo,

das Brett Finanz- und Wirtschaftspolitik pervertiert immer mehr zur Klagemauer der Westentaschen-Schwarzmaler und Provinzkassandras. Das Wort „Krise“ wird vor allem von jenen inflationär verwendet, deren Horizont eher beschränkt ist. Der falsche Blick auf die Welt wird giftig verteidigt.

Ein Verhalten, das an einen Mann erinnert, der auf dem Feld mit einer Sichel Getreide erntet. Kommt ein anderer Mann vorbei und meint: „Hallo, warum benutzt du keine Sense, geht doch viel leichter?“ Meint der Erste: „Mein Großvater hat mit der Sichel geerntet, mein Vater hat mit der Sichel geerntet, jetzt ernte ich mit der Sichel.“ Meint der Vorrübergehende wieder: „Aber du kriegst ja einen ganz krummen Rücken!“ Meint der Erste: „Mein Vater hatte einen krummen Rücken, mein Großvater …“

Diese negative Art der Weltauffassung ist sehr verbreitet. Positive Entwicklungen sind unspektakulär, sie verlaufen oft unterhalb der oberflächlichen Wahrnehmungsspäre. Das Böse dagegen (z.B. ein Terroranschlag) wird weltweit wahrgenommen.

Daher finde ich es heilsam, hin und wieder von Pressebeiträgen wie diesem an die Realität erinnert zu werden.

Gruß, Hans-Jürgen Schneider

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sorry, bitte bitte jede zweite Krise ist dort eine Kriese

Das ist schon der erste Irrtum deinerseits. Die Wahrnehmbarkeit von Veränderungen, sowohl positiver als auch negativer Art, hängt ab von deren Intensität und Zeitraum/Dauer. Dein Vergleich hinkt. Frau Merkel, Schülerin von Kohl im Aussitzen, ist da übrigens eine sehr gute Kennerin, wenn es darum geht, negative Veränderungen schleichend und für viele unter der Wahrnehmbarkeit liegend, durchzuführen.

Was den Horizont anbelangt, so ist dieser immer beschränkt. Guckst du morgen draußen mal nach. Aber nicht nach oben :grin:. Da ist keiner.
Kritisch wird es, wenn er verschwimmt und sich eine gewisse Orientierungslosigkeit breit macht. So wie in dem von dir verlinkten Wohlfühlartikel für Orientierungslose. Ich denke, morgen eventuell eine Antwort zu diesem Artikel zu geben.

Franz

Hallo,

wie die globale Entwicklung aussieht? Wir Menschen werden immer mehr, geschätzt bis zu 10 Mia um 2050 - ab da lt. Vorhersagen wieder weniger. Leider wird nicht erläutert, was diese Kehrtwendung verursachen wird. Hunger, Kriege und Seuchen sind wohl wahrscheinlicher als global gute Bildung - letztere wird es in den kommenden 30 Jahren kaum geben.

Die Ausbeutung sowohl der Ärmsten als auch der Natur nimmt zu (nachweislich, siehe z.B. Überfischung, Urwaldrodung), die Rohstoffreserven reichen nicht für ewig und alle.

Wer derzeit gut lebt (ich zähle mich selbst dazu), profitiert im Wesentlichen von der Nutzung fossiler Rohstoffe (damit heize ich und kaufe damit gedüngtes Gemüse) und der Abhängigkeit armer Menschen von irgendeiner Arbeit - egal, wie schlecht der Lohn oder giftig die Umgebung ist (auch ich trage Jeans, die zwar nicht billig waren, aber verm. billigst produziert wurden).

Noch 3 Mia Menschen mehr macht es für wenige ev. noch billiger und lukrativer - die Reichen werden noch reicher, der Rest und die Natur noch ärmer.
Das alles hört sich so Scheiße an, dass man sich gern eine rosa Brille aufsetzen möchte. Kann ich verstehn. Ich verdränge es mit: das ist Evolution, da hilft eh nichts.
Außer Aussterben vielleicht.

Gruß, Paran

Hallo Paran,

folgt man den Thesen des Club of Rome sollten viele Rohstoffe bereits bis zum Ende des 20. Jahrhunderts erschöft sein. Wir könnten hier nicht mehr argumentieren, weil wir tot wären.

Statistiken nimmt man immer kritisch zur Kenntnis. Aber glaubst Du wirklich, Ergebnisse wie diese

https://ourworldindata.org/a-history-of-global-living-conditions-in-5-charts/#education

wären nur der rosaroten Brille der Wissenschaftler geschuldet? Jede positive Entwicklung entspringt nur dem Wunschdenken der Forscher, jede negative Entwicklung ist real?

Ich entnehme den Schaubildern, dass sich das Schicksal der Menschheit auf einigen Gebieten zum Besseren gewendet hat. Noch nicht zum Guten. Aber die Tendenzen sind eindeutig.

Dass die Weltbevölkerung in absehbarer Zeit wieder abnimmt, wird übrigens aus der Tatsache abgeleitet, dass bereits heute weniger Kinder zur Welt kommen.

Im Gegensatz zu vielen anderen Zeitgenossen machst Du Dir Gedanken um das Schicksal unseres Planeten. Aber Du kannst nur schwarz sehen. Du möchtest gerne, so verstehe ich Dich, neben Hunger, Krieg und Seuche als vierter apokalyptischer Reiter durch eine holzschnittartige Welt reiten und Dich so richtig tief in Selbstvorwüfen zu suhlen.

Aber das bist Du nicht. Wenn ich Deine vielen Beiträge richtig interpretiere, gehörst Du zu den Menschen, die etwas hin zum Positiven bewegen möchten.

Gruß, Hans-Jürgen Schneider

Psychologie…und
Wirtschaftswissenschaften, die hohe Kunst der Elimination von Randbedingungen, die nach wie vor fast ausschließlich unter der Annahme rationaler Entscheidungen ihre Theorien entwirft und Daten erhebt. Das passt einfach nicht zusammen. Aber wie dem so ist, in der SZ kann und darf der neue Stern am neoliberalen Kapitalismushimmel, Max Roser (MR), gerne für einen Wohlfühlartikel verwendet werden, alldieweil keine Kommentarfunktion den Frieden stören kann. Ich bin sicher, dass diese „Alles nicht so schlimm-Essenz“ des Artikels in vielen Punkten durch fachliche Kommentare deutliche Einschränkungen und Widersprüche verpasst bekommen hätte. Nicht zuletzt, weil der Artikel verkürzt und gar ohne einige kritische Anmerkungen von MR veröffentlicht wurde.

Armut

„It is important to notice that the International Poverty Line is extremely low.“ schreibt MR auf seiner Seite ourworldindata.org (ich nehme Bezug im Nachfolgenden auf diese Daten).
MR bezieht Armut auf einen rein monetären geldwerten Ansatz. Das machen viele Ökonomen so. Völlig verzichtet wird auf andere Aspekte wie Soziales oder Gesundheit oder Lebensqualität allgemein, wie es in verschiedenen Ansätzen zur Definition von Armut erfolgt. Es gibt unterschiedliche Ansätze des geldwerten Ansatzes, der sich lediglich in der Höhe des Ansatzes unterscheidet, beispielsweise: 1$/day bzw. 2 $/day (Bourguignon and Morrison, Zeitraum 1820 - etwa 1990) oder 1,90 $/day (Weltbank, seit 1981). Unterschiede bezüglich der tatsächlichen preislichen Zustände und Veränderungen in verschiedenen Ländern wurden berücksichtigt (PPP adjustement). Beide Berechnungen (sie haben unterschiedliche Berechnungsbasis) bestätigen einen Rückgang der Armut nach dieser Definition.

Alles gut? Mitnichten.

Über Jahrhunderte vor der industriellen Revolution waren nahezu 99% aller Menschen nach heutigem Berechnungsmaßstab gleichermaßen arm. Erst seit Beginn der industriellen Revolution sind Einkommen, Vermögen, Wohlstand drastisch gestiegen.

Bemerkenswerterweise allerdings sehr ungleich verteilt. Es haben sich, hier nur bezogen auf die Industrieländer, deutliche Unterschiede innerhalb der vorher gleichwertigen Gruppe „Arm“ gebildet, während der 1%-Feudalkropf an der Spitze unverändert blieb.
Die ungleiche Verteilung innerhalb der ersten Gruppe ist kein Fortschritt!

Eine bleibende Gruppe „Arm“ hätte es nicht geben dürfen, es gibt sie aber heute noch. Dieser Effekt ist in nahezu allen Industrieländern zu verzeichnen, obgleich hier ein Vermögen entstanden und vorhanden ist, welches bei etwas höherer Verteilungsgerechtigkeit eine Untergrenze ergeben müsste, die deutlich oberhalb der Armutsgrenze liegen würde.

Ergänzend der Blick in Industrieländern auf den für sozialen Zusammenhalt und Gerechtigkeit wichtigen Aspekt der relativen Armut anhand eines Beispiels aus den empirischen Erfassungen von MR, hier Kinderarmut: In D 9,8%, Luxemburg 12,35%, USA 20,46%, und Türkei 25,27%. Trotz absolut vorhandenen Reichtums ergeben sich bezüglich relativer Armut in den einzelnen Industrieländern erstaunlicherweise sehr hohe Armutszahlen. Offensichtlich steigt mit Zunahme allgemeinen Wohlstands die relative Armut an. Das ist kein Erfolg! Ein Nachweis aber für Auseinanderdriften der bekannten Schere.

Armut im globalen Vergleich:
Aus den Erhebungen von MR geht hervor, dass es zwischen den Staaten/Nationen erhebliche, vielerorts steigende Unterschiede gibt. Die Schere zwischen armen und reichen Nationen steigt an. Negativ betroffen sind u.a. insbesondere Indien und Zentralafrika. In Staaten wie Nigeria werden Menschen aufgrund der Tatsache, dass die Statistiken rein monetär geführt werden, nicht als unterhalb der Armutsgrenze befindlich geführt, weil sie monetäre Zuwendungen für den Kauf von PET-Flaschenwasser bekommen. Faktisch steht ihnen aber aufgrund fehlender Infrastrukturmaßnahmen, in anderen Ländern wegen Boden- und Wasserverseuchung, kein sauberes Brunnen- oder Quellwasser zur Verfügung. Sie leben dauerhaft in Abhängigkeit, bei fehlender Stromversorgung sind die Verhältnisse ebenso weit verbreitet in vielen Staaten. Die Statistik unterschlägt absolute Armutsbetroffene aufgrund ihres rein monetären Ansatzes. Und sie unterschlägt Lebensqualität.

Eine andere Definition von Armut liefert die UN. Über Hunger anstelle Geldwert. Bezüglich der Defizite und Täuschungsversuche dieser Betrachtungsweise verweise ich der Einfachheit halber hierauf:


Änderung der Berechnungsbasis?! Wow!

Abschließend noch ein Hinweis auf die einleitende Feststellung von MR zu Beginn: Die Höhe der monetären Ansätze von 1$/day bis 2$/day ist willkürlich. Trotz Preisanpassung ist zum ersten die Konstanz der Höhe nicht gerechtfertigt, weil die allgemeine Erhöhung des Wohlstands nicht berücksichtigt wird. Zum Zweiten ist die Höhe äußerst fragwürdig, vermutlich beabsichtigt, um die absolute und relative Zahl Betroffener gering zu halten.

Der Preis

Darauf muss ich kurz auch noch eingehen. Erstaunlich, dass Ökonomen wie MR diese zentrale ökonomische Kenngröße bei ihren Betrachtungen (ich meine hier Interviews beispielsweise) völlig außen vor lassen.

Nichts ist umsonst, so haben auch Wohlstand und Armut ihren Preis, der sich wie folgt in größtmöglicher Kürze darstellen lässt:
Trotz sinkender Wachstumsrate Zunahme der Weltbevölkerung, daraus die Notwendigkeit, mehr Lebensmittel zu produzieren, mehr Flächen zu roden, extensive Tier- und Flächennutzung, Enteignung von Kleinbauern und „Vertreibung“ in billigste Lohnarbeit bis hin zur Sklavenwirtschaft, anhaltende Kinderarbeit (bis hin zum Sammeln auf Müllhalden), Aussterben von Arten, Boden-, Luft- und Gewässerverschmutzung, Fluchtursachen und Flüchtlingswanderungen (Entwurzelung), nicht zuletzt Klimawandel.

Fazit

Meines Erachtens ist der Artikel an die „Wohlstands-Mitte“ gerichtet. An diejenigen, die (noch) dieses Gefühl der Stabilität verinnerlicht haben. Für sich. Keine negativen Erfahrungen oder Erwartungen haben. Und wenig an die und das andere da draußen denken.

Aber er, der Artikel, spiegelt sicherlich nicht die Realität wider, wie es es in der Überschrift nennst. Eine stark verzerrte Realität, angesichts anhaltender und zunehmender Ausbeutung, vermehrter Reichtumskonzentration, und anstehender zukünftiger Folgen und Folgekosten, die vermutlich „sozialisiert“ werden.

Der Artikel suggeriert ein falsches Wohlfühlklima, weil er einzelne Daten herauspickt und ohne Darstellung von Basiswerten, Berechnungsverfahren, Kausalitäten, Abhängigkeiten und Zusammenhängen falsch interpretiert. Egel ob vom Autor beabsichtigt oder mit großer Nachlässigkeit dahingeschmiert: Ich schiebe den Artikel vorsichtshalber in meine Schublade „Versuche der Propaganda und Manipulation“.

Franz

PS
Max Roser: Hatte mal empirische Untersuchungen angedacht zu Veränderung von Einkommens- und Vermögensverteilung. Geknickt. Er verweist da gerne auf Picketty. Der konnte sich das Thema leisten. MR in dem relativ neuen Ökonomieinstitut in Oxford, finanziert von Soros - Balsillie - Janeway, kann da wohl nicht so recht tätig werden. Zumindest bestätigt er aber auch eine Zunahme der Einkommensschere in den letzten ca. zwei Jahrzehnten in seinem umfassenden Datenwerk.

Hallo,

naja, jeder irrt sich mal, selbst oder vielleicht besonders, wenn er in Rom hockt.

Nichts desto trotz sind die Rohstoffe endlich, ebenso wie die Erde, die Menge Wasser darauf etc. Es kommt nicht darauf an, ob das Öl/Gas heute oder in 50 / 100 Jahren ausgeht. Es wird ausgehn und bis dahin immer teurer werden, da die Förderung teurer wird. Damit wird Nahrung immer teurer (nat. auch wegen steigender Nachfrage). Ackerflächen und Wald sind heute schon deutlich im Preis gestiegen, wer derzeit langfristig investieren will kauft Land.

Die Menschen in vielen Regionen leiden schon jetzt und werden höchstwahrscheinlich weiterhin leiden, eher mehr als weniger, Armut wird sich weiter ausbreiten, weil mehr Menschen und teurere Nahrung / Wasser.
Wir modernen Menschen sind so.

Ich suhle mich in garnichts, dafür ist mir mein Leben zu schad. Aber deswegen muss ich mir nicht in die Tasche lügen und kann wahrnehmen, dass andere auch ein Leben haben, um das es schad ist.
Natürlich verdränge ich die Desaster der Welt (wie pakistanische Kleinkinder auf dem Müll) in meinem Alltag, wie die meisten anderen halt auch. Was soll man sonst machen? Selbst Mutter Theresa hat letztlich nichts Wesentliches geändert und die Milliardenspenden der reichen Amerikaner sind auch nur Tropfen auf heißen Steinen.

Und nach Geologie/Paläontologiestudium weiß ich: unsere Spezies wird den nächsten Faunenschnitt höchstwahrscheinlich nicht überleben (zu groß, keine Winterschlaffunktion, zu hoher Energiebedarf wegen Hirn).
Da ist doch Hoffnung.

Gruß, Paran