Mein letzter Beitrag zu diesem Thema:
Die Reaktionen auf die Eingangsfrage begannen mit einem Kardinalfehler - pauschalen, einfachen Antworten in einem sehr komplexem Thema. Ja, diesen Schuh ziehe ich mir an, weil unter anderem von mir eine simple Antwort kam.
Statt dessen hätte man als erstes die Begrifflichkeit der „Wohnungsnot“ klären müssen, wie man am weiteren Verlauf der Diskussion sieht. Die Definition sollte klare Kennzahlen nennen, an denen man die Gültigkeit des Begriffs festmachen kann.
Dann hätte man nach Argumenten suchen können, ob die Voraussetzungen, auf die man sich in Schritt eins geeinigt hat, in Deutschland ingesamt oder an einem oder mehreren Orten erfüllt sind.
Dann hätte man die Frage beantworten können.
Ich habe gerade mal versucht, mich an Punkt eins heranzutasten. Als erstes ploppte bei der Suche nach einer Definition des Begriffs „Wohnungsnot“ der Wikipediaartikel zum „Wohnraummangel“ auf. Link Im Artikel selbst werden dann beide Begrifflichkeiten praktisch synonym ohne Unterscheidung verwendet. Dortige Definition:
Wohnraummangel (auch Wohnungsmangel , Wohnungsnot ) liegt auf dem Wohnungsmarkt vor, wenn das Angebot an Wohnungendeutlich geringer ist als die Nachfrage. Folge ist die Steigerung der Mietpreise bzw. der Kaufpreise für Wohnimmobilien. Gegensatz ist die Situation des Leerstands von Wohnungen.
Die „Wirtschaftswoche“ versuchte im Jahr 2020, mit Zahlen den Mangel, die Not oder gar die Krise (Zitat aus dem Artikel) zu belegen WiWo.
Die synonyme Verwendung beider Begriffe („Wohnungskrise“ habe ich nicht weiter recherchiert) scheint doch Gang und Gäbe zu sein - bei gewinnorientierten Medien aber auch bei den öffentlich rechtlichen. Wenn man sich die Zahl der Suchtreffer ansieht (163 T für „Wohnungsmangel“ und gut 1,5 Mio für „Wohnungsnot“) könnte man auf die Idee kommen, dass der zweite vielleicht einfach nur eine populistische Zuspitzung des sachlicher klingenden ersten ist.
Soweit also zur Definition des Begriffes und einer äußerst schwierigen Trennmöglichkeit.
Wie sehen nun die Kennzahlen aus, an denen man den „Wohnraummangel“/ die „Wohnungsnot“ festmacht?
Eingangs des Wikipediaartikels gibt es die recht einfache Definition: Mangel ist, wenn die Nachfrage das Angebot übersteigt. Zur Verdeutlichung wird der Leerstand als Gegenteil genannt.
Am Endes Wiki-Artikels wird noch ein weiteres Indiz für Wohnraummangel angeführt: der Verhältnis des Wachstums der Bevölkerungszahl zur Anzahl der neu gebauten Wohnungen.
Die Wirtschaftswoche benennt ebenfalls Kennzahlen, die auf eine Verschärfung oder Lockerung der Wohnraumsituation hindeuten. Wie bei Wiki wird der Mietpreis als Indiz angeführt und auf den Mietspiegel als Maßstab verwiesen.
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Also, Definition und ein paar wichtige, leicht recherchierbare Kennzahlen haben wir:
Dass es derzeit an vielen Orten einen Mangel an Wohnraum gibt und sich die Zahl der Städte und Gemeinden, an denen es einen veritablen Leerstand gibt, in Grenzen hält, will sicher niemand bestreiten. Ich erlaube mir auf den Beitrag von @anon44275120 zu verweisen, der eine Karte des „Deutschlandatlas“ zum Thema verlinkt hat.
Ebenso unstrittig, und leicht belegbar, scheint es zu sein, nachzuweisen, dass in vielen Ballungszentren der Mietpreis laut Mietspiegel mit kleinen Abwärtsbewegungen hauptsächlich einen Aufwärtstrend verzeichnet.
In der erwähnten Tabelle bei Wiki zum Verhältnis Bevölkerungsentwicklung / neu gebaute Wohnungen ist ersichtlich, dass es viele Großstädte gibt, bei denen es ein Missverhältnis gibt. Die Bevölkerungszahl der Städte steigt schneller, als neuer Wohnraum geschaffen wird.
Bei meiner Recherche fand ich dann noch eine wissenschaftliche Ausarbeitung von 2020, veröffentlicht vom Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung. Link Dort heißt es eingangs:
Eine allgemeine Wohnungsnot für die ganze Bevölkerung lässt sich in der Bundesrepublik nicht feststel- len. Aber sie zeigt sich räumlich und sozial polarisiert. Ins- besondere in den Ballungszentren und den umliegenden Agglomerationsräumen, aber auch in Universitätsstädten fehlt es an Wohnraum (Waltersbacher/Schürt 2018: 40), und zwar für untere und mittlere Einkommensgruppen. Für sie wird es zunehmend schwieriger, Wohnraum zu fin- den, dessen Kosten noch einen auskömmlichen Anteil des Haushaltseinkommens zum Lebensunterhalt übrig lassen, der für sie also in diesem Sinne „bezahlbar“ ist. Deutlich zeigt sich dies im Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung 2017: Die Wohnkostenbelastung spreizt sich immer weiter und liegt bei den unteren Einkommensgruppen derzeit weit über den als „bezahlbar“ erachteten 30 %
Nachdem die Geschichte der Wohnungspolitik und des Mangels seit der Kaiserzeit betrachtet wird, fassen die Autoren am Ende des Artikels zusammen:
Um stabile gesellschaftliche Schichtungen zu erhalten, werden wohnungspolitische Interventionen jenseits des Markts lediglich dann als notwendig erachtet, wenn absolute oder teilmarktbezogene Wohnungsnot ein Maß erreicht haben, das eben jene gesellschaftliche Stabilität gefährdet und gesellschaftliche Bewegungen und Auseinandersetzungen politische Kompromisse erzwingen […] – so wie dies just in der Legislaturperiode 2013 bis 2017 wieder geschah. Eine dauerhafte Lösung der Wohnungsfrage würde es erfordern, dieses grundlegende Verständnis von Wohnungspolitik zu überdenken.
Einstweilen geschieht dies vor allem auf kommunaler Ebene – dort, wo die sozialen Versorgungsengpässe unmittelbar sichtbar werden und soziale Bewegungen seit Jahren auf die Sicherung des Rechts auf Wohnen pochen. Trotz staatlich verordneter Austeritätspolitiken suchen zahlreiche Kommunen Wege, durch Planungsrecht, Rekommunalisierung von Wohnraum oder Wohnungsunternehmen oder durch den Ankauf kommunaler Grundstücke wohnungspolitische Handlungsfähigkeit wieder herzustellen und diese in die Stadtentwicklungspolitik zu integrieren […]. Dass dies angesichts kommunaler Defizite ohne bundes- und landespolitische Unterstützung in hinreichendem Maß gelingt, darf bezweifelt werden. Gleichwohl ist es ein wesentlicher Baustein zur Lösung der Wohnungsfrage.
Man könnte also zusammenfassen:
1.) An vielen veröffentlichten Stellen werden die Worte Mangel und Not synonym verwendet. Als Kennzahl für Mangel / Not werden die Mietpreisentwicklung, das Verhältnis Bevölkerungsentwicklung / Zuwachs an Wohnungen sowie das Verhältnis Angebot / Nachfrage (Respektive Leerstand) angeführt.
2.) Wenn man diese Marker als maßgeblich betrachtet, gibt es in einigen lokal und auf Einkommensschichten begrenzten Bereichen einen Wohnungsmangel. Einen absoluten, deutschlandweiten Mangel scheint es dagegen nicht zu geben.
3.) Eine weitere Zuspitzung des relativen Mangels scheint nach Meinung einiger Wissenschaftler und Journalisten abwendbar, allerdings wird in vielen Veröffentlichungen befürchtet, dass der politische Wille, bzw. die Kraft derzeit nicht vorhanden ist.
Damit will ich den Kreis schließen und die Eingangsfrage erneut beantworten:
Es gibt derzeit bereits eine lokal und sozial begrenzte Wohnungsnot. Und es steht zu befürchten, dass sich diese, wiederum begrenzt auf Teilmengen in Ort und Schicht, weiter verschärfen wird, weil sich eine grundlegende Änderung der Wohnungspolitik in Deutschland derzeit nicht abzeichnet. Wobei die in der Eingangsfrage genannten Gründe offenbar nur einen kleinen Teil zur wahrscheinlichen Verschärfung beitragen werden.
Schönen Abend
Pierre