Kritken an Carl Gustav Jungs Theorien

Liebe/-r Experte/-in,

ich hoffe Sie können mir weiterhelfen.
Ich bin in einer Oberstufe der höheren Berufsfachschule für Sozialwesen und muss im Fach Psychologie zusammen mit einigen Mitschülern ein Referat über Carl Gustav Jung halten. Ich bin für den Bereich „Kritiken“ zuständig, aber leider muss ich sagen sind die Information aus den Internet sehr dürftig oder sehr schwer zu verstehen zu wie auch in den Fachbüchern die ich zu rate ziehen konnte. Nun wende ich mich an w.w.w um in Erfahrung zu bringen ob jemand Seiten bzw. Bücher kennt oder selbst etwas über Jung bzw. die Kritiken an seinen Theorien, erzählen kann.
Ich bedanke mich schon mal im Voraus
Mfg Sabrina L.

Hallo Sabrina,

das ist zugegebenermaßen ein schwieriges Thema, wenn man sachgerecht und unpolemisch daran gehen will. Zunächst einmal ein Link zu einem Buch von Tilman Evers
„Mythos und Emanzipation“
Eine kritische Annäherung an C. G. Jung.
Es kann kostenlos als PDF-Datei heruntergeladen werden unter: http://www.opus-magnum.de/index.php?area=vbcmsarea_c…

Es hat allerdings 339 Seiten und ist ziemlich anspruchsvoll geschrieben. (Schlimmstenfalls könntest Du es als GRUNDLEGENDE Quelle zitieren, sofern niemand nach exakten Seitenangaben fragt).

Hier der Link zu Wikipedia, wo auch ein Absatz „Kritik“ enthalten ist:
http://de.wikipedia.org/wiki/Carl_Gustav_Jung

Und im Folgenden versuche mal eine knappe und möglichst einfache Zusammenfassung der Kritiken an Jungs Theorien:

Während Freuds Vorstellung vom Unbewussten davon ausgeht, dass dieses stets nur EINEM Menschen zuzuordnen ist und außer den „animalischen Instinkten“ und Trieben lediglich DAS enthält, was dieser Mensch vorher erlebt, erfahren aber VERDRÄNGT hat, statt es bewusst zu akzeptieren („Nichts ist im Unbewussten, was nicht vorher in den Sinnen war“) ist C.G.Jungs Anschauung des Unbewussten sehr viel weiter gefasst.

Für Jung (und die heutigen „Jungianer“) hat jeder einzelne Mensch natürlich ein PERSÖNLICHES Unbewusstes. Aber schon das unterscheidet sich völlig von dem Freudschen, denn es enthält bereits vor der Geburt des Menschen alle Anlagen und Eigenschaften, die dieser Mensch im Lauf seines Lebens verwirklichen soll. Es ist also genau umgekehrt: Bei Jung ist das Unbewusste kein Behälter für den „seelischen Müll“, den das bewusste Ich nicht haben will, sondern die Quelle aller kreativen und aller Lebensimpulse. Wenn der Mensch auf die Welt kommt, ist seine Struktur, sind seine Fähigkeiten und auch seine „eigentlichen Lebensaufgaben“ in groben Zügen schon als „seelisches Muster“ im persönlichen Unbewussten vorhanden. Der Mensch, dem es gelingt, seine inneren Anlagen zu entwickeln und zu leben ist „ganz er selbst“. Leider wirken „gesellschaftliche Konventionen“, Erziehungs- und (Aus-)Bildungs-Einflüsse dem oft entgegen. Dann entwickelt sich ein Mensch, der gegen seine wahre Natur lebt und spätestens mit Erreichen der Lebensmitte (auch Lebenswende genannt) so etwa zwischen 30 und 45 Jahren das Gefühl hat, etwas Wesentliches versäumt zu haben.

Schon diese Vorstellung, dass das Unbewusste der eigentliche Lebensquell und Lebenstreiber sei, wird von der Freudschen und von den meisten anderen „tiefenpsychologischen Schulen“ als unwissenschaftlich und unbewiesen abgelehnt. Er selbst rechtfertigte sich immer damit, dass seine Wissenschaft eine „empirische Wissenschaft“ sei, die zwar nicht mess- und nachweisbar, aber vom Einzelnen erfahrbar sei.

Aber es kommt noch dicker: Für Jung (und die Jungianer) gibt es außer dem persönlichen Unbewussten, das jeder Mensch hat, auch noch ein KOLLEKTIVES UNBEWUSSTES, in dem die Erfahrungen der gesamten Menschheit - und darüber hinaus wahrscheinlich auch die unserer tierischen Vorfahren - enthalten sind. Dieses kollektive Unbewusste gehört allen Menschen und verbindet alle Menschen. Seine Inhalte sind archetypischer Natur, bzw. Archetypen (Urbilder). Archetypen sind zum Beispiel „Das Große Weibliche (bzw. Mütterliche)“, „Das Große Männliche (bzw. Väterliche)“, „Geist“, „Körper“, „Himmel“, „Erde“, „Gut“, „Böse“, „Hell“, „Dunkel“, „Das Friedliche“, „Das Kriegerische“, „Das Aufbauende“, „Das Zerstörende“ und unzählig viele andere mehr. Im Grunde kann man sich Archetypen als die jeweils entgegengesetzten Extrempole einer gedachten Achse vorstellen, als „Gegensatzpaare“, die einander ergänzen.
All diese Urbilder haben Einfluss auf die einzelnen Menschen. Dabei ist es zeitströmungsabhängig, welche Archetypen gerade besonders starken Einfluss auf unser menschliches Handeln ausüben. Die Einflüsse wechseln, wenn ein Umkehrpunkt, eine „Enatiodromie“ erreicht wird. Beispiel: Erst, wenn ein Krieg genug Zerstörung und Leid angerichtet hat, kippt im kollektiven Unbewussten der betroffenen Menschen etwas um, und der Archetyp des Friedens gewinnt an Energie, während der kriegerische Archetyp sich sozusagen „ausgepowert“ hat und sich in die Tiefen des kollektiven zurückziehen kann - um zu anderer Zeit oder an anderem Ort erneut mehr Gewicht zu bekommen und andere Menschen in Kriegshandlungen hineinzureißen.

Je unbewusster ein Mensch ist, desto größer ist für ihn die Gefahr, archetypisch zu handeln, statt bewusst und individuell. Bewusstheit schützt davor, als Marionette an den unsichtbaren Fäden der Archetypen zu agieren.

Insbesonders diese Theorie vom kollektiven Unbewussten wird als unwissenschaftlich und rein philosophisch spekulativ abgelehnt. Jung wird vorgeworfen, er betreibe eher Philosophie als Psychologie. Ein solches kollektives Unbewusstes sei reine Fantasie, denn es enthalte ja quasi auch göttliche Eigenschaften.

Dieses Zusammenspiel von kollektivem und persönlichem Unbewussten ermöglicht es - nach Jung - einem Menschen auch Träume zu erleben, die sich auf Zukünftiges beziehen, sogenannte Déjà vu-Träume. Und es ermöglicht sogenannte „Synchronizitäten“. Das sind Ereignisse, die in gewisser zeitlicher Nähe oder gleichzeitig stattfinden und einen SINNgemäßen Zusammenhang aufweisen. Das heißt zum Beispiel: Du träumst von einer wunderschönen Libelle, die Dir etwas mitteilen will. ALs Du erwachst und das Fenster öffnest fliegt eine wunderschöne Libelle herein und umkreist Dich immer wieder. Du bist fasziniert. Dir laufen wohlige Schauer über den Rücken. Und Du denkst: Das ist ein Zeichen, das mir etwas sagen will!

Carl Gustav Jung behauptet: Genau so ist es! Das (kollektive) Unbewusste will Dir sowohl mit dem Traum als auch mit dieser „sinngemäßen Koinzidenz“ des Auftauchens einer echten Libelle etwas mitteilen!

Du kannst Dir vorstellen, dass nicht nur Jungs Kritiker sagen: „Da spinnt er vollkommen!“ „So etwas gibt’s doch gar nicht! Das wäre ja Zauberei!“
Jungianer sagen: „Nöö, keine Zauberei, bloß ein fein abgestimmtes Zusammenspiel zwischen dem kollektiven und dem persönlichen Unbewussten.“ (Auch Tiere sind an das kollektive Unbewusste angeschlossen). Spürst Du, dass dsa für rational denkende Menschen eine „Ungeheuerlichkeit“ ist? Ein (kollektives) Unbewusstes, das in der Lage ist, solche Situationen fein abzustimmen (Jung sagte immer „zu konstellieren“) muss doch offenbar intelligent sein und Absichten haben. Und von diesem gedanken ist es dann nicht mehr weit, und man spekuliert darüber, wo denn dann der Unterschied zwischen „Gott“ und diesem „kollektiven Unbewussten“ mit seinen offenbar so mächtigen Archetypen ist.

Diesen ungeheuren Affront lässt sich ein Rationalist nicht bieten (Männer noch mehr als Frauen). Er wehrt solche Ideen von einem kollektiven Unbewussten radikal ab und lehnt sie ab. Solche Anschauungen haben Jung auch die Kritik eingebracht, ein „religiöser Spinner“ zu sein.

Soviel zur Kritik an seinen Theorien/Anschauungen des Unbewussten. Aber er wurde auch persönlich kritisiert:

Seine eigene Begegnung mit dem Unbewussten nannte er „Auseinandersetzung mit dem Unbewussten“. Sie dauerte viele Jahre, in denen er manchmal sehr belastende und ängstigende Träume, Fantasien und Visionen hatte, die er im sogenannten „Roten Buch“ aufschrieb und mit vielen Zeichnungen schmückte. (C.G.Jungs „Rotes Buch“ ist letzes Jahr gedruckt worden, kostet aber leider 198 Euro, denn es ist ein aufwändiger, großformatiger Bildband). Aber worauf ich hinauswill: Wenn man sich kritisch mit seiner „Auseinandersetzung“ beschäftigt, dann muss man einräumen, dass C.G.Jung in dieser Zeit dem Unbewussten SO NAHE war (ja eigentlich MITTENDRIN stand), dass man anerkennen muss, er habe an der Grenze zur Psychose und zeitweilig sogar selbst darin gestanden.

Ja! So muss es gewesen sein! Jung hat ein geniales Werk vollbracht. Und das wäre ihm nicht gelungen, wenn das Unbewusste ihn selbst nicht so sehr durchdrungen hätte, dass er zeitweilig so etwas wie eine Psychose hatte. Manche Kritiker führen dies ins Feld, um ihn unglaubwürdig zu machen.

Aber wer verlangt von einem Arzt, dass er selbst nie an den Krankheiten leiden darf, die er heilt? Und - ich gehe einen Schritt weiter - wer wirklich begreifen will, was im Unbewussten geschieht, und was in einem psychisch Kranken geschieht, der muss es schon an sich selbst erfahren haben. Allerdings sollte er da auch wieder herausgekommen sein. Und das ist Jung ganz offensichtlich, sonst hätte er weder seine therapeutische Arbeit noch sein umfangreiches Werk schreiben können.

Ein weiterer Kritikpunkt an der Person Jungs ist, dass er während der Nazizeit vorübergehend Sympathien für das Nazigedankengut entwickelte. Da gibt’s keine Beschönigung: Ja, das hat er gemacht - und das war Scheisse! Ich habe nicht vor, ihn zu entschuldigen, denn da gibt es nichts zu entschuldigen, aber es gibt eine Erklärung: Zu der Zeit hat sich Carl Gustav selbst so sehr dem „Wotan“-Archetyp (so nannte er den Archetyp, der die Nazis und ihre Anhänger an seinen Marionettenfäden führte) angenähert, dass er selbst von ihm angesogen und gleich mitgeführt wurde. Mitgefangen, mitgehangen, könnte man dazu sagen. Oder aber: Nobody is perfect - selbst Gott nicht, wenn’s ihn denn geben sollte. Auch das größte Genie hat seine dunklen Seiten - sonst wäre es gar kein Genie geworden!
NIchts desto trotz: Die Nazisympathie ist ein sehr berechtigter Kritikpunkt an der Person Jungs.

Der Gute hat ja keine Bange vor nix gehabt - sozusagen. Er hat sich mit Mystik, mit Okkultismus, mit Astrologie und dem ganzen esoterischen Brimborium beschäftigt, insbesondere mit der Symbolik der Alchemie. Wenn er sich dann auch noch mit dem Verlauf der platonischen Weltzeitalter (Äonen) befasst, das Fische-Zeitalter mit dem Zeitalter des Christentums gleichsetzt und große Hoffnungen in das kommende „Äon des Wassermanns“ (Age of Aquarius) setzt und die sogar in Stein meißelt, dann macht er sich als „Vorreiter des New Age“ besonders bei konservativ eingestellten Menschen sehr unbeliebt.

Also: Konservativ-religiöse Menschen werfen ihm vor, einer der „Verführer der Jugend“ zu sein, für die in den 70er-Jahren das Musical „Hair“ ein Signal des Aufbruchs in die neue Ära des Wassermanns - und damit in einen Wandel der religiösen Anschauungen war.
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So, jetzt muss erst mal gut sein. Der Ärmste dreht sich bestimmt schon im Grabe herum, wenn er das alles mitgekriegt hat, was ich hier geschrieben habe. Jetzt soll er wieder seine verdiente Ruhe finden.

Liebe Grüße
Fatzikowsky

Hallo Fatzikowsky,

vielen Dank für die ausführlichen Infos, die haben mir schon sehr geholfen!
lg