Kulturgeschichte: Begriffswandel?

Liebe Konsodalen,

die zwei unmittelbar vorhergehenden Anfragen zeigen, daß die Bedeutung von Verkehrszeichen und irgendwelchen Überwachungsinstallationen offenbar zentraler Bestandteil des Begriffes „Kultur“ ist. Anscheinend habe ich einen Begriffswandel (eventuell mit der Jahrtausendwende) verschlafen.

Jetzt frage ich mich, ob

  • die Funktion eines Nothaltknopfes an einer Rolltreppe
  • die Bedeutung eines Münzautomaten am Eingang zu einer Bahnhofstoilette („WC-Center“)
  • der Sinn einer Preisauszeichnung an einer Tankstelle in Zehntelcent

unter dem Begriff „Kultur“ zu subsummieren sind oder nicht.

Für Hinweise, idealerweise aus einer geeigneten Definition des Begriffes „Kultur“ abgeleitet, dankt

MM

'Der Versuch, Kultur zu definieren…
… gleicht dem Unterfangen, Pudding an die Wand zu nageln" - diese im Rahmen meines Studiums aufgeschnappte Professorenbemerkung halte ich für recht treffend.

Hallo -

Deine Frage berührt den schon recht alten Diskurs, ob Kultur etwas ‚Hochgeistiges‘, dem Alltag Enthobenes zu sein habe - die klassischen Bereiche von Kunst, Philosophie und so fort berührend -, oder ob auch - oder gerade? - die Elemente unseres Alltags Bestandteil unserer Kultur seien.

Die Tendenz geht sicherlich derzeit dahin, auch Alltagselemente - bis hin zu technischen Objekten wie Fahrkartenautomaten - als Kulturelemente anzusehen, da man längst erkannt hat, dass eine Unterteilung in ‚Hochkultur‘ und ‚Alltagsnichtkultur‘ stets nur künstlich und pseudoelitär geraten kann.

Im Hinblick auf Installation, Verbreitung, Handhabungs- und Designideale, Anwendungskonflikte und derlei sind solche Objekte durchaus häufig (wenngleich nicht immer) gute Ausgangspunkte für kulturwissenschaftlich relevante Analysen. Das bedeutet natürlich nicht, dass aus jedem Hemdknopf eine neue Kulturtheorie erwachsen kann. Es macht auch Weber oder Geertz und Kollegen nicht überflüssig, aber es demokratisiert letzten Endes die Kulturwissenschaft, indem es den Blick auf den alltäglichen Kultur’vollzug’ des normalen Menschen in den Vordergrund stellt.

Meine persönliche Lieblings’definition’ von Kultur stammt übrigens von Philip K. Bock und lautet schlicht „Culture is what makes you a stranger when you’re away from home.“. Und wer ist nicht schonmal im Ausland an fremden Bedienelementen gescheitert und kam sich dabei sehr fremdkultiviert vor?

Gruß,
Pengoblin

Hallo, lieber Martin,
jetzt gebe ich halt auch noch meinen Senf dazu.
Weitgehend schließe ich mich den Vorrednern an - Kultur ist alles, was vom Menschen gemacht wird und ist.

Wenn wir colere als Wurzel nehmen und uns das erste Nomen, das ich als Lateinschüler gelernt habe - agri_cola_ anschauen, dann dürfen wir davon ausgehen, dass derselbige wohl eher den Acker gepflegt hat, als Dichtkunst, Musik und Malerei. Dass dann andere diese Felder beackert und bestellt haben, hat wohl diesen Begriff erweitert.

Aber deshalb sind eben die Kästen zur manuellen Ampelsteuerung, Toilettenpapier und das unsägliche Fernsehen genauso Teil unserer Kultur, wie Mona Lisa, Hamlet oder La Traviata.

Gruß
Eckard

Meinen Gruß zuvor, lieber Martin,

und viele kulturelle Freuden wünsche ich dir!

Der Herr Bausinger (=> http://www.uni-tuebingen.de/kultur/02…), der Erfinder und Begründer der Empirischen Kulturwissenschaften sagte einmal sinngemäß: Kultur ist alles, was die Menschen tun!

Damit ist zum Beispiel der Schwarzwald keineswegs ein Stück Natur, sondern - da eindeutig vom Menschen manipuliert - ein Kulturdenkmal; sieht man von den zwei drei Bannwaldgebieten ab.

Ein anderes, kulturell hochinteressantes Forschungsthema ist die „Form der Gabel“! Die ersten, die Gabel beim Essen - also nicht beim Kochen oder Vorlegen, sondern zum Essenstückchen-in-den-Mund-Führen - vewendeten haben, sollen Venetianische Hetären und die zierlichen Gäbelchen aus Edelmetall hatten nur zwei Zinken. Unsere heutigen Gabeln sind meist Zwitter zwischen Schaufel und richtiger Gabel.

Das alles gehört zur Kultur.

Das kannst du denn auch den Arbeiten, die von ihm und seinem Umkreis im Tübinger Schloss und anderswo ausgingen, ersehen.

Daneben gibt es natürlich noch die „richtige Kultur“, also Dante und Shakespeare, Bach, Händel, Haydn, Mozart und Beethoven, Schiller und Goethe, C.D. Friedrich und Cézanne.

Gruß Fritz

Servus Fritz,

zwischen „hoher“ und „niederer“ Kultur vermag ich nicht mehr zu entscheiden, seit ich mich das erste Mal mit meinem Vater selig über die Frage in die Hörner gekriegt habe, ob Mickey Mouse etwas sei, was ich lesen dürfe, oder eher nicht.

Wenn ich jetzt aber einmal hergehe und als ursprüngliches Werkzeug der Kultur den bäuerlichen culter nehme, ist Kultur das, was im Tun und Treiben von Menschen beschnitten, in eine Form gebracht ist - in der Regel durch irgendeine Form von typischerweise nicht kodifizierten Übereinkünften, aber in der sog. „hohen“ Kultur auch durch das Anrennen gegen selbige, z.B. vermittels überraschend gesetzter Dissonanzen und solcher Sachen.

Das würde in den vorliegenden Fällen etwa bedeuten, daß die früher im XX. Jahrhundert gepflegte Gewohnheit, auf Rolltreppen rechts zu stehen und links zu gehen, unter „Kultur“ zu subsummieren wäre. Nicht aber die Funktion des Nothaltknopfes.

Auf die Bedeutung von Verkehrszeichen angewendet, täte es bedeuten, daß der Grad von deren Befolgung oder auch gewissen Manien, die Welt mit Verkehrszeichen ein wenig übermäßig zu schmücken, unter dem Begriff „Kultur“ betracht- und diskutierbar wären. Nicht aber ihre rein technische Bedeutung, die sinnvollerweise mit den Mitteln der Iuristerei angegangen wird.

Schöne grüße

MM

Mion Martin,

vermutlich wären das typische Fragen für das Brett „Sonstiges“. Da es dieses aber nicht mehr gibt, sucht sich der Mensch ein anderes Brett. „Kultur allgemein“ klingt nun dermaßen schwammig, dass der ein oder andere dies wie „sonstiges“ versteht.

Gruß
Marion