Lass deinen Geist frei fließen,

…ohne bei irgend etwas zu verweilen." Bei diesem Satz soll Hui-Neng, der 6. Chan Patriarch die Erleuchtung erlangt haben. Er soll aus dem Diamant-Sutra (Vajracchedikā-Prajñāpāramitā-Sūtra) stammen, aber leider finde ich ihn dort nirgends. Könntet ihr mir vielleicht nennen, wo der Satz (womöglich nicht im genauen Wortlaut, aber ähnlich) im bereits erwähnten Sutra zu finden ist?

Ein herzliches Dankeschön im Voraus
und viele freundliche Grüße
Karl(son vom Dach2)

Hallo Karl,
die entsprechende Stelle findest Du in Sektion X. des Diamant-Sutra. In Übersetzungen aus dem Sanskrit ist sie freilich nicht so einfach zu lokalisieren - im ‚Plattform Sutra‘ (六祖壇經), das die wesentliche Quelle für Huinengs Biographie und Lehre ist, wird natürlich eine chinesische Übersetzung des Vajracchedikā zitiert, wobei die ‚gängigste‘ die von Kumārajīva (鳩摩羅什 / 鸠摩罗什, 343-413) ist. Übrigens findet sich die Passage mit dem Zitat nicht in der ältesten bekannten, 1912 in Dunhuang aufgefundenen Fassung des Plattform-Sutra (1967 von Philip Yampolsky übersetzt).

E. Conze übersetzt die in Frage stehende Passage aus dem Sanskrit (bei ihm mit Sektion 10c bezeichnet):

„Therefore then, Subhuti, the Bodhisattva, the great being, should produce an unsupported thought, i.e. a thought which is nowhere supported, a thought which is unsupported by sights, sounds, smells, tastes, touchables or mind-objects.“

Dieselbe Passage lautet in Kumarajivas Übersetzung:

是故須菩提﹐ 諸菩薩摩訶薩﹐ 應如是生清淨心。不應住色生心﹐ 不應住聲香味觸法生心﹐ 應無所住而生其心。

Nach der (mE sehr textnahen) Übersetzung von Y.S. Seong Do / Kurt Graulich:

„Deshalb, Subhuti, sollten alle Bodhisattvas-Mahasattvas ihren reinen Geist so erzeugen. Sie sollten ihren Geist erzeugen, ohne in irgendwelchen Formen zu weilen, und ohne in Geräuschen, Gerüchen, Geschmack, Berührungen und Dharmas zu weilen, sollten sie ihren Geist erzeugen. Ohne irgendwo zu weilen, sollten sie ihren Geist erzeugen.“

Von „frei fließen“ vermag auch ich im Original (d.h. in Kumarajivas Vajracchedikā-Übersetzung) nichts zu finden. Wie die Passage original in der Kōshōji-Fassung des Plattform-Sutras aussieht, die Dem von Dir benutzten Text zugrunde liegt, weiss ich allerdings nicht - also, ob dort wörtlich Kumarajiva oder evt. eine andere Übersetzung zitiert wird. Oder aber, ob das „frei fließen“ auf Ursula Jarands Übersetzung zurückzuführen ist.

Freundliche Grüße,
Ralf

Übrigens findet sich die Passage mit dem Zitat nicht in der ältesten bekannten, 1912 in Dunhuang aufgefundenen Fassung des Plattform-Sutra (1967 von Philip Yampolsky übersetzt).

… und ich wunderte mich, warum ich es in Yampolskys Text nicht fand.

Danke auch meinerseits für deine Ausführungen.

Gruß
Metapher

Hallo Metapher,
ich habe noch ein wenig recherchiert - die Passage erscheint nicht nur im Dunhuang-Manuskript der Aurel Stein Collection im British Museum nicht, sondern auch nicht im etwa gleich alten (9. Jahrhundert) Exemplar des Dunhuang District Museum (Publikation des Textes 1993/94). Beide Texte sind nahezu identisch.

Die hier in Frage stehende Erweiterung taucht vermutlich zuerst in der Edition Huixins (967) auf, auf die auch die klassische Einteilung in 2 Faszikel /11 Kapitel zurückgeht. Huixins Originaledition ist verloren; da sowohl die Edition Chao Jiongs (1036 - zu diesem genealogischen Zweig gehört auch die Koshoji-Edition) wie auch die Zhou Xigus (1012) das Diamantsutra-Zitat anführen und beide auf Huixin beruhen, darf man davon ausgehen, dass es sich auch bei Huixin gefunden hat.

Ich konnte übrigens verifizieren, dass es sich tatsächlich wie vermutet um ein Zitat der Kumarajiva-Übersetzung handelt. Das „frei fließen“ ist also U. Jarands Lesart von 應無所住而生其心. Interessanterweise bin ich hier auf eine Übersetzung dieses Zitats gestoßen, die in die gleiche Richtung geht („The mind moves freely without attachment“). Mir fehlt nun allerdings Interesse und Muße, den Originaltext genauer zu analysieren.

Der weitaus auffallendere Unterschied zwischen den Dunhuang-Texten und den auf Huixin beruhenden Editionen ist allerdings die berühmte Gatha, die Huineng als Antwort auf Shenxiu verfasste - erst bei Huixin lautet die dritte Zeile 本來無一物 - „im Grunde existiert nicht ein einziges Ding“. Aber darauf weist Yampolsky in seiner Übersetzung auch ausführlich hin (Fußnote 38).

Freundliche Grüße,
Ralf

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Vielen Dank Tychiades, du hast mir (schon wieder) sehr geholfen. Allerdings weiß ich nicht genau, was ich unter „den Geist erzeugen“ verstehen soll…

Hallo Ralf,

ich habe noch ein wenig recherchiert

sehr bescheiden, daß du das „ein wenig“ nennst :smile:
Danke sehr für die Recherche bzgl. Huixing.

„frei fließen“ ist also U. Jarands Lesart von 應無所住而生其心.
… in die gleiche Richtung geht („The mind moves freely without attachment“). Mir fehlt nun allerdings Interesse und Muße, den Originaltext genauer zu analysieren.

Ich kann tatsächlich ebenfalls weder etwas von „frei fließen“ noch von moves freely" erkennen. Allerdings ist es wegen der zahlreichen semantischen Funktionen von 而 und 其 heikel, wie alle Übersetzungen aus dem ancient chinese.

Mit
ying (u.a.) sollen
zhù verweilen/stoppen
shang erzeugen, entstehen und
心 xin Herz (entsprechend griech. kardia: Denken, Gefühl, Gesinnung, Geist)
sehe die von dir erwähnte Übersetzung:
„Ohne irgendwo (zu) weilen, soll(t)en (sie ihren) Geist erzeugen“
als die adäquatere an, ohne allerdings den Ausgangssatz der Sanskrit-Vorgabe beurteilen zu können.

… erst bei Huixin lautet die dritte Zeile 本來無一物 - „im Grunde existiert nicht ein einziges Ding“. Aber darauf weist Yampolsky in seiner Übersetzung auch ausführlich hin (Fußnote 38).

Ja, das Problem kannte ich. Wobei dann noch die Frage bleibt, da 本 ikonografisch „Baum mit Wurzel“ ist, ob hier, wie in der ersten Zeile, „Grund“ (wie griech aitia) oder „Ursprung“ (wie griech. arche) gemeint ist. Diese Frage hatte und habe ich gerne bei Huineng vor Augen, bis insbesondere in den Kern seiner 頓教-Lehre.

Danke und Gruß
Metapher

Hallo Karl,

was ich unter „den Geist erzeugen“ verstehen soll…

ich will Ralf nicht vorgreifen, der den zugehörigen Sanskrittext kennt und beurteilen kann: In der chinesischen Übersetzung steht hier, wie oben erwähnt, 生 shang/sheng. Dafür gibt es zahlreiche Varianten im Deutschen:

Als transitives Verb:
hervorbringen, erzeugen, (manchmal auch) gebären
Intransitiv:
hervorgehen, entstehen, wachsen, sich entwickeln
Und (zumindest im ancient chinese) als Substantiv:
Natur, und zwar mit dem großen Begriffsumfang des griech. physis, nicht nur wie das dt. „Natur“).

Zusammen mit dem oben erwähnten 心 xin (ikonografisch „Herz“) geht es also, wie in der von Ralf zitierten Sanskrit-Passage erwähnt, darum, Geist, Denken usw. ohne die genannten Dinge, die als Hindernis aufgefaßt werden, „sich entwickeln“ und „wachsen“ zu lassen. Die intransitive Deutung scheint mir eh besser als die transitive, FALLS das im Sankrittext ebenso gemeint ist.

Gruß
Metapher

Danke, für die schnelle Antwort, dann kann ich ja jetzt beruhigt weiterlesen :wink:

Hallo Karl,
zunächst einmal ergänzend zu Metapher - Conze gibt mit „should produce“ Sanskr. ‚utpadayitavyam‘ wieder, wobei ‚utpada‘ mit sheng 生 auch adäquat übersetzt ist. Insofern passt auch das „erzeugen“ in der von mir zitierten deutschen Übersetzung von Seong Do / Graulich sowohl auf den Sanskrit- wie auch den chinesischen Text. Obwohl ich persönlich stattdessen ‚hervorbringen‘ bevorzugt hätte - das passt auch besser zur Konnotation ‚gebären‘ (Sanskr. utpada) bzw. ‚geboren werden‘ (Chin. sheng, 生).

Was nun Deine Frage angeht

Allerdings weiß ich nicht genau, was ich unter „den Geist erzeugen“ verstehen soll…

  • so lässt sich diese Frage philologisch nicht wirklich erschöpfend beantworten, sondern nur durch praktischen Nachvollzug von Erfahrungen, die sich sprachlicher Vermittlung weitgehend entziehen. Dabei wiederum spielt es eine Rolle, in welchem Kontext eine solche Praxis erlernt und ausgeübt wird - vereinfacht: im Rahmen welcher speziellen Tradition oder buddhistischen Schule. Im Zusammenhang mit dem Zitat, nach dem Du letzte Woche gefragt hattest (und das durchaus in dieselbe Richtung zielt wie das hier diskutierte) hatte ich von einer „exegetischen Tradition“ gesprochen - und eben solche exegetischen Traditionen stehen in enger Wechselwirkung mit traditionell überlieferten Praktiken geistiger Schulung und den daraus resultierenden Erfahrungen.

Ein gutes Beispiel dafür ist hier der „nicht verweilende Geist“ - Conze gibt ‚apratistitham cittam‘ mit „unsupported thought“ wieder, was allerdings, so weit ich sehe, ausschließlich ‚Conze-Tradition‘ ist. Nun gibt es für diese Übersetzung natürlich gute Gründe - aber es ist nicht die einzig mögliche Übersetzung dieses vieldeutigen Terms. Conze selbst gibt 21(!) mögliche Alternativen an. Die Frage ist nun weniger, wie man ‚apratistitha‘ übersetzt als wie man es versteht. Wenn man aus Conzes ‚nicht-gestützem Denken‘ ein ‚Denken, das sich auf nichts stützt‘ macht, dann nähert man sich damit schon dem traditionellen chinesischen (und japanischen) Verständnis von ‚apratistitha‘. Ein Denken, dass sich nicht auf Objekte ‚stützt‘, haftet nicht an ihnen an und ‚verweilt‘ daher nicht bei / in ihnen.

Als jemand, der in der Traditon des Soto-Zen steht, verstehe ich für meinen Teil dieses „Hervorbringen eines nicht verweilenden Geistes“ auf der Folie von Dogens ‚hi shiryo‘ (‚Undenken‘), das keinesfalls mit ‚Nichtdenken‘ (fu shiryo) verwechselt werden sollte. Hi shiryo ist eine ‚Notationshilfe‘, die sich auf die geistige Haltung bei der Zazen-Übung (‚Sitzmeditation‘) bezieht. Dogens ‚hi shiryo‘ steht natürlich in einer sehr viel älteren Tradition, in der von Bodhidharmas ‚wuxin‘ (‚Nicht-Geist‘) und Huinengs ‚wunien‘ (‚Nicht-Denken‘). Am deutlichsten wird der Bezug zu dem 3. Zen-Patriarchen Sengcan, der in seinem bekannten Lehrgedicht Xinxinming von ‚fei siliang‘ 非思量 spricht, ‚undenkendem Ermessen‘. Wobei 非思量 Japanisch als ‚hishiryo‘ gelesen wird.

Nach diesem Verständnis wird der nicht-verweilende / nicht-anhaftende Geist auch nicht „produced“ oder „erzeugt“. Es ist derselbe Geist bzw. dasselbe Denken (citta) wie der ‚gestützte‘ oder ‚verweilende‘, nur erfüllt er hier nicht die Funktion des Ergreifens und Anhaftens (upadana). Der oben erwähnte Sengcan spricht von ‚ungeteiltem Geist‘, 契心, der die Haltung ‚fei siliang‘/ ‚hishiryo‘ einnimmt. ‚Ungeteilter Geist‘ ist ein anderer Kernbegriff im Chan / Zen, von Dogen noch um den somatischen Aspekt erweitert/ ergänzt. Dogen spricht von ungeteiltem ‚Geist-und-Körper‘, shinjin, der (als personale Geist-Körper-Einheit) sich im Prozess des hi shiryo löst und abfällt (shinjin datsuraku).

Hier wird vielleicht auch der Bezug zu dem letzte Woche diskutierten Zitat deutlich - denn ‚Erzeugen‘ ist eine Funktion des Geistes. Erzeugt werden mittels upadana (Ergreifen) die Trübungen / Befleckungen (klesha) des Geistes. Ohne klesha ist der Geist ungetrübt / lauter / klar - metaphorisch ausgedrückt „leuchtend“, „prabhasvara“.

„Erzeugt“ oder besser „hervorgebracht“(sic!) wird dieser nicht-verweilende Geist also nicht durch ein aktives Tun, sondern durch ein passives Lassen, durch Nicht-Tun - was wiederum etwas Anderes als das Einstellen geistiger Aktivität ist, das wäre ein aktives ‚Tun‘. Man kann sich das vielleicht mit dem Bild der Oberfläche eines Teiches vorstellen, die nach einem Regen wieder ihre unaufgerührte Gestalt annimmt, die ihr eigene von Einflüssen freie Form.

Hier lässt sich auch der Grund dafür vermuten, warum in Deinem Zitat von „frei fließen lassen“ die Rede ist. Wie schon gesagt, gibt eigentlich weder der Wortlaut des Sanskrittextes noch der der chinesischen Übersetzung das her - es ist eher eine Deutung aus der praktischen Umsetzung heraus. Der Geist ‚fließt‘, ohne bei irgendetwas zu verweilen oder an irgend etwas anzuhaften.

Abschließend möchte ich nochmals explizit darauf verweisen, dass diese Ausführungen selbstverständlich nicht mehr können, als eine vage Vorstellung davon zu vermitteln, was bei der Zazen-Praxis geschieht bzw. nicht geschieht. Sie sind auch nicht als eine Art Gebrauchsanleitung misszuverstehen - diese Praxis ‚erlernt‘ man, indem man sich gemeinsam mit einem Lehrer in sie einübt.

Freundliche Grüße,
Ralf

Hallo Metapher,
Danke für Deine Unterstützung bei der Sache.

Ja, das Problem kannte ich. Wobei dann noch die Frage bleibt,
da 本 ikonografisch „Baum mit Wurzel“ ist, ob hier, wie in der
ersten Zeile, „Grund“ (wie griech aitia) oder „Ursprung“ (wie
griech. arche) gemeint ist. Diese Frage hatte und habe ich
gerne bei Huineng vor Augen, bis insbesondere in den Kern
seiner 頓教-Lehre.

der Zeitbegriff im Buddhismus ist sicher ein hochkomplexes Thema und gerade im Zusammenhang mit dem zenbuddhistischen ‚Subitismus‘ ergeben sich interessante Problemstellungen. Den vielleicht originellsten Ansatz gibt Dogens Shobogenzo Uji - wo ‚Zeit‘ und ‚Sein‘ amalgamiert werden und damit mE auch der Gegensatz Subitismus-Gradualismus dialektisch ‚aufgehoben‘ wird.

Möglicherweise ist es auch ganz anders - ich schätze mal, ich brauche noch so zwei, drei Jahrzehnte um ‚Uji‘ einigermaßen zu verstehen … :wink:

Freundliche Grüße,
Ralf