Lernfähig

Hallo,

eine Nachricht von gestern, die mich freute: Lern- und Einsichtsfähigkeit zeigten Minister der Elbe-Anrainerbundesländer unter Vorsitz von Trittin, als sie verkündeten, es solle keine neuen Industrie- und Wohnansiedlungen in Elbnähe geben und Deiche zur Schaffung von Überflutungsflächen rückverlagert werden.

Das war genau die Nachricht, die ich bisher vermißte, weil andernfalls Wiederaufbau, überhaupt die Beseitigung von Flutschäden unsinnig wäre, denn das nächste durch Flußbegradigungen und enge Eindeichung hervorgerufene Hochwasser kommt bestimmt.

Gruß
Wolfgang

Hallo Wolfgang,

die vermeldete ministerielle Lernfähigkeit ist zwar eine schöne Sache, allerdings ergeben sich daraus sofort einige naive Fragen:

  1. Wann wird mit der Rückverlagerung der Deiche begonnen? - Vor oder nach dem nächsten Hochwasser?

  2. Wenn ich davon ausgehe, das alle Deiche in ihrer heutigen Lage sinnvollerweise das unmittelbare Hinterland schützen sollten (Industrie- und Wohngebiete, landwirtschaftlich genutzte Flächen), was machen die betroffenen Leute dann bei einer geplanten Deichrückverlagerung? Packen die ihren „Krempel“ ein und ziehen widerspruchslos ab? - Oder stellt sich das Problem gar nicht, und es gibt ausreichend Überschwemmungsflächen, die bisher wirtschaftlich ungenutzt sind, aber überflüssigerweise in der Vergangenheit eingedeicht wurden?

Was, denkst Du, würde ein Minister darauf antworten?

Es gibt sicher noch ein paar mehr Fragen, aber fangen wir mal mit den einfachsten an.

Gruss,
Andreas

…allerdings ergeben sich daraus sofort einige
naive Fragen:

  1. Wann wird mit der Rückverlagerung der Deiche begonnen? -
    Vor oder nach dem nächsten Hochwasser?

Hallo Andreas,

es liegt nun einmal in der Natur der Sache, daß niemand diese Frage beantworten kann. Immerhin aber ist diese Art ministerieller Lernfähigkeit der günstigere aller möglichen Fälle. Es hätte ja auch zu einem Beschluß in Richtung Ausbau- und Deicherhöhungsprogrammen kommen können, also weitermachen wie gehabt, wie schon seit Jahrhunderten. Immerhin vertrat noch vor wenigen Wochen während des Elbe-Hochwassers der bayerische Umweltminister die Auffassung, daß man mit Flußbegradigungen und Deichbau auf dem neuesten Stand sei und sich nichts vorzuwerfen hätte.

Zum Glück sind die Schäden zu massiv, um einfach zur Tagesordnung zurück zu kehren. Jedes weitere Hochwasser wird die Entschlußfreudigkeit von Bürokraten, Bedenkenträgern, Bremsern und Uneinsichtigen fördern. Im übrigen wurden tatsächlich im Zuge von Begradigungen unbewohnte und ungenutzte Flächen in großem Umfang per Deich trocken gelegt. Es ist hauptsächlich eine Frage von Einsicht und Wollen, solche Flächen zu renaturieren und ungeschützt als Überschwemmungsflächen zu belassen. Zu Umsiedlungen muß es dabei nur im Ausnahmefall kommen. Übrigens läßt es sich mit nur wenigen Anpassungsmaßnahmen auch in einem Überschwemmungsgebiet durchaus gut leben. Zu den Anpassungsmaßnahmen in solchen Gegenden gehört der Verzicht auf Keller sowie auf Öltanks mit der Gefahr des Auslaufens oder Aufschwimmens. Es läßt sich nur nicht hinter einem gebrochenen Deich oder an einem wegen zu engen Flußbetts reißenden Strom aushalten. Ausreichend große Überschwemmungsflächen mit genügend Waldflächen schlucken neben den Wassermassen problemlos auch Schlamm und Schlick. Man kann solche Flächen einfach der Natur überlassen oder sogar eingeschränkt landwirtschaftlich nutzen.

Die Überschwemmungsflächen - ausreichende Größe und Verteilung entlang des gesamten Flusses vorausgesetzt, braucht man sich nicht als plötzlich entstehende riesige Seen vorzustellen. Es wird einfach nur richtig feucht und in nirgends versiegelter Fläche wird das Wasser im wesentlichen durch die Vegetation gebunden. Wie solche Gegend aussieht, kann man sich im Naturpark Eltalauen bei Boizenburg ansehen. Das ist so ein Überschwemmungsgebiet, aber leider bisher ziemlich einmalig. Dort vergammeln zwar die Kartoffeln auf den Äckern, weil die Erntemaschinen einfach versacken, aber ansonsten bekommt man nicht einmal nasse Füße. Wenn es entlang des Flußlaufs genügend solcher Überschwemmungsgebiete (Naturparadiese) gäbe, könnten wir das Wort „Hochwasser“ im Binnenland aus unserem Wortschatz streichen. Ein paar Leute müssen gelegentlich Gummistiefel tragen, aber Mensch und Tier ertrinken nicht und Gebäude werden nicht mehr durch reißendes Wasser zerstört.

Die schlichte Wahrheit, daß Wasser, das in die Fläche kann, nicht mehr steigt, predige nicht nur ich seit vielen Jahren. Der Unfug des Deichbaus unmittelbar am Flußbett wird von Naturschutzverbänden seit jeher beklagt, z. B. hier: http://www.umwelt.org/robin-wood/german/magazin/arti… . Bisher stieß man aber mit der Idee, dem Fluß Fläche zu lassen, oft genug auf geradezu hassige Ablehnung und auf dummerhaftige Sprüche der Art „wer nicht deichen will, muß weichen“. Deshalb finde ich die Einsichten auf politischer Ebene bemerkenswert.

Gruß
Wolfgang

einsetzen oder umsetzen
Hallo Wolfgang,

Deshalb finde ich die Einsichten auf politischer
Ebene bemerkenswert.

die Einsicht ist gar nicht so neu, es krankt an der Umsetzung. Wir Rheinanlieger wissen sehr gut, wo das Wasser herkommt. Die Verhandlung insbesondere mit Baden-Württemberg waren aber m.W. nicht ganz so erfolgreich. Schließlich müßte die zu unserem Schutz Land aufgeben, ohne daß sie was davon hätten.

Die Einstellung kann ich umso besser verstehen, wenn man sich vor Augen führt, daß es noch nicht einmal innerhalb NRW´s möglich ist, die Ideen zum Deichrückbau konsequent durchzusetzen. Einige Gemeinden um Köln herum und irgendwo nördlich von Krefeld weigern sich nachwievor, ausgewiesene Ausweichflächen zu realisieren. Und die Landesregierung will ja niemandem mit Weisungen vor den Kopf stoßen, wenn es sich vor Ort um Parteifreunde handelt. Mal abgesehen davon, daß es irgendwann wieder Wahlen geben wird.

Wenn es schon nicht innerhalb des eigenen Bundeslandes nicht klappt, wie kann ich dann erwarten, daß andere Bundesländer - geschweige denn andere Staaten - für mich Vorsorge auf eigene Kosten treffen?

Gruß
Christian

Die Verhandlung insbesondere mit Baden-Württemberg waren aber :m.W. nicht ganz so erfolgreich.
Schließlich müßte die zu unserem Schutz Land aufgeben, ohne daß :sie was davon hätten.
Einige Gemeinden um Köln herum weigern sich…
…niemandem mit Weisungen vor den Kopf stoßen…
…irgendwann wieder Wahlen geben wird.

Hallo Christian,

so läuft es vielerorts seit ewigen Zeiten. Dann müssen eben mehr Menschen ertrinken oder alles verlieren, dann müssen die Schäden eben so exorbitant hoch werden, bis der letzte Trottel begriffen hat, wohin die Reise geht.

Das Elbehochwasser hat aber etwas verändert, es hat nämlich einen Präzedenzfall geschaffen: Der Fiskus greift tief in die Geldschatulle. So tief, daß sich der Griff nicht beliebig wiederholen läßt. Beim nächsten Hochwasser mit größeren Schäden werden sich die Betroffenen darauf berufen. Das Kanzlerwort, wonach kein Geschädigter schlechter gestellt sein soll, als vor der Flut, war gewiß irgendwo zwischen unüberlegt und dümmlich angesiedelt. Der gute Mann hat offenkundig keine Vorstellung, wie weit ein Gewerbebetrieb mit 15 T€ oder 50 T€ kommt. Manches etwas edlere Meßinstrument und jede Werkzeugmaschine ist teurer. In jeder Ecke, in jedem Schrankfach mit Waren und Halbfertigprodukten liegen zig tausende herum. In einem kleinen Laden, der schon ein paar Jahre existiert, hat man schnell eine halbe oder ganze Mio an Anlagegütern stehen, zwar nicht Buchwert, aber wenn man alles neu beschaffen muß, ist i. d. R. der Neuwert entscheidend, vom Warenbestand eines mittleren Einzelhandelsgeschäfts ganz zu schweigen. Das kann der Staat nicht leisten. Aber selbst dieser -Entschuldigung- feuchte Furz von bis zu 50 T€ pro betroffenem Betrieb überfordert den Staat, läßt sich jedenfalls nicht alljährlich wiederholen.

Deshalb sehe ich jetzt Handlungszwang für die Politik. Wer das Problem weiter verdrängt, dem fliegt es spätestens nach dem nächsten Hochwasser um die Ohren. Ich wurde bei der häufig gebrauchten Wortschöpfung „Jahrhunderthochwasser“ hellhörig, verleitet es doch manchen Zeitgenossen (Politiker inbegriffen) zur naiven Vorstellung, jetzt erst einmal 100 Jahre Ruhe zu haben.

Gruß
Wolfgang

Ich wurde bei der häufig gebrauchten Wortschöpfung
„Jahrhunderthochwasser“ hellhörig, verleitet es doch manchen
Zeitgenossen (Politiker inbegriffen) zur naiven Vorstellung,
jetzt erst einmal 100 Jahre Ruhe zu haben.

… sehe ich jetzt Handlungszwang für die Politik. Wer das
Problem weiter verdrängt, dem fliegt es spätestens nach dem
nächsten Hochwasser um die Ohren.

Hallo Wolfgang,

so neu ist die Wortschöpfung nicht. Schon 1997 beim Oderhochwasser wurde sie gern und häufig bemüht, und ich frage mich, welchen „Lernprozess“ die damalige Katastrophe eigentlich ausgelöst hat. In der Frankfurter Lokal- und Regionalpresse ist übrigens in den letzten Wochen oft die Vokabel „Jahrtausendhochwasser“ aufgetaucht. - Ich bin schon heute auf die nächste Steigerung gespannt.

Im Übrigen teile ich zwar Deine Ansichten zur Verhinderung zukünftiger Hochwasserkatastrophen. Ebenso Deine Meinung zur (unsinnigen) Höhe der heutigen staatlichen Finanzhilfen für die Flutwassergeschädigten. - Aber Deinen erfrischenden Optimismus, der die Politiker jetzt unter Handlungszwang stehen sieht, kann ich nicht nachvollziehen.

Ich sehe da eher Christians Einwände und Beispiele als realistischer an, wie es auch in den nächsten Jahren weiter geht. M.E. dauert die politische Zukunftsplanung und die ggf. damit verbundene Androhung von Aktivität bei diesem Thema von heute an noch genau 16 Tage. Wenn überhaupt.

Über die Folgen und die Kosten zukünftiger Überschwemmungen unterhält sich der Politiker erst dann, wenn es wieder soweit ist. Bis dahin fliesst noch viel Wasser den Rhein runter. Und Elbe und Oder auch.

Ach ja: Welche Konsequenzen hat es für einen Politiker persönlich , wenn ihm „irgend etwas um die Ohren fliegt“? - Ein paar Tage Wirbel in der Presse. - Na und?

Gruss,
Andreas