Lesenlernen: Silben- vs. Buchstabenerkennen

Moin moin.

Habe vor kurzem folgendes von einem Freund gehört:
Sein jüngerer Bruder hat das Lesen derart gelernt, daß
er silbenweise Wörter erkennt. Im Gegensatz dazu haben
mein Freund, Ich und eigentlich alle anderen die ich
bisher darauf ansprach, das Lesen buchstabenweise
erlernt. Wollte mal hören, ob sich da in den Grundschulen
verschiedene Methoden entwickelt haben.

Grüße, René
PS: Die Frage bezieht sich auf die ersten Jahre, wo man bei
Null anfängt. Daß ich heute weder buchstaben- noch silbenweise
lese sollte klar sein.

Also der Bruder von meinem Freund hat auch Buchstabenweise gelernt. Er ist jetzt in der ersten Klasse.
Als ich in der ersten Klasse war, haben wir auch Buchstabenweise gelernt. Aber fast das ganze erste halbe Jahr, haben wir nur Dachzigel, oder Schafwolle gemalt ( um die Bewegungen zu lernen und die Hand zu kontrollieren ).
Aber hier lernen die jetzt total die komische SChreibschrift. Ich brauche da ne halbe Stunde um ein Wort lesen zu können. Das n, m und u kann man nicht unterscheiden.
Was mir aber noch auffällt ist, dass die Kinder wohl nicht genug Motivation in der Schule bekommen. Sören hatte vorher nie Lust zu lesen. Dann hab ich mal mit ihm zusammen eine Geschichte gelesen und seitdem kommt er immer an und will mit mir lesen üben ( er hängt auch sonst sehr an mir ). Ich habe ihn auch immer wieder bestärkt, dass er es bald genauso gut kann wie ich und es dann ganz leicht ist. SEitdem macht es ihm Spaß.

Aus der Praxis…
Moin René,

es haben sich in Grundschulen verschiedene Methoden des Leselernprozess entwickelt.

In Kürze:

  • Lautsynthese
  • Ganzwortmethode
  • Lesen durch Schreiben (vom Schweizer Jürgen Reichen).

Im Einzelnen:

Lautsynthese

Die Kinder lernen jeden einzelnen Buchstaben - korrekterweise ‚Laut‘ - für sich. Wichtig ist, dass die Kinder die Buchstaben als Laut bzw. Phonem aussprechen: Beim Buchstaben ‚g‘ also nicht [ge] sondern /g/ (hört sich dann manchmal wie ‚gö‘, wobei das ‚ö‘ fast schon stimmlos ist). Wenn die Kinder schon einige Laute beherrschen, kann man mit Silbenkombinationen arbeiten: da - de - di - do - du; ma - me - mi - mo - mu etc…
Ziel ist das ‚Zusammenschleifen‘ der Buchstaben zu ganzen Wörtern. Beispiel: ‚Dose‘ aus ‚/d/-/o/-/s/-/e/‘ (Lautieren) wird über ‚Do-se‘ (Zusammenschleifen von Buchstabenkombinationen) das Wort ‚Dose‘ (Synthetisieren).

_ Weiterführende Links: _
http://www.rechtschreib-werkstatt.de/rsl/les/anfang/…

http://de.wikipedia.org/wiki/Phonem

Ganzwortmethode

Über ausgewählte, sogenannte ‚lautgetreue‘ Wörter, können die Kinder auch lesen lernen. Dabei werden aber nicht die einzelnen Laute zusammengeschliffen, sondern auseinandergenommen (Analyse). Die Kinder lernen ein ‚Wortbild‘. Für diese Methode nimmt man einfache Nomen. Im Laufe des Schuljahres kommen mehr und mehr Wörter hinzu. Dabei erkennen dann die Schülerinnen und Schüler bekannte und neue Buchstaben.
Auch bei dieser Methode ist es wichtig, dass die Kinder die Laute und nicht die Buchstaben lernen (s. Dose-Beispiel).

_ Weiterführende Links: _

Buchempfehlung zur ‚Ganzwortmethode‘: Hiltraud Prem ‚Eine vergnügte Ballonfahrt ins Leseland.‘ (Damit habe ich auch schon erfolgreich gearbeitet).
http://www.amazon.de/exec/obidos/ASIN/3924322201/qid…

Ein weiteres Buch von Hiltraud Prem
http://www.amazon.de/exec/obidos/ASIN/3896044036/qid…

J.Reichen: Lesen durch Schreiben

Mit dieser Methode habe ich noch nicht gearbeitet, kann also auch nicht viel darüber sagen.

_ Weiterführende Links: _

http://www.amazon.de/exec/obidos/search-handle-url/i…

http://spzwww.uni-muenster.de/~griesha/eps/els/reich…

http://marvin.sn.schule.de/~am_sand/lesen_durch_schr…

Allgemein

Bei allen Methoden steht den Kindern eine sogenannte ‚Anlauttabelle‘ als Hilfsmittel zur Verfügung. Jeder Laut ist einem ‚Anlautbild‘ zugeordnet. Beispiel: Laut /M/ - Anlautbild ‚Maus‘. Der Sinn dahinter ist, dass der Laut ‚lebendig‘ bzw. anschaulich wird. Die Kinder können sich unter dem jeweiligen Laut etwas Konkretes vorstellen.

Beispiele für Anlauttabellen:

J. Reichen ‚Lesen durch Schreiben‘
http://www.artep.net/anlauttabelle/

http://www.salomon.cidsnet.de/Kubim/9110.html

Ein PDF-Dokument zum ‚Leselernprozess‘, dass ich für die Eltern verteilt habe:
http://www.volksschulbildung.ch/pages/infopool/Lehrp…

Es ‚googelt‘:
http://images.google.ch/images?q=Anlauttabelle&hl=de…

Kinder kommen mit den unterschiedlichsten Lesevoraussetzungen in die Schule. Das hängt von vielen Faktoren ab: ältere Geschwister; besondere Förderung im Elternhaus, Kindergarten; geringe Förderung daheim. In meiner kurzen Karriere als Lehrer habe ich schon Lesevoraussetzungen erlebt von ‚kann schon fliessend lesen‘ bis ‚kennt noch keinen einzigen Buchstaben, ausser die von seinem Namen‘. Mit diesen Voraussetzungen müssen wir Lehrer rechnen und arbeiten. Zauberwort ‚Kinder dort abholen, wo sie stehen.‘
Es gibt Schüler, die spricht eher die Anlauttabelle an, andere brauchen sie nach einer Weile nicht mehr.

Hoffe, dir einen kleinen Ein-, Überblick-, Durchblick gegeben zu haben.

Gruss aus 660 km Entfernung (gen Süden).

Matthias

Was mir aber noch auffällt ist, dass die Kinder wohl nicht
genug Motivation in der Schule bekommen.

ist das was Neues?

Sören hatte vorher
nie Lust zu lesen. Dann hab ich mal mit ihm zusammen eine
Geschichte gelesen und seitdem kommt er immer an und will mit
mir lesen üben

So, und nur so, haben Kinder früher Lesen gelernt. Ich übrigens auch. Als ich in die Schule kam, konnte ich Grimms Märchen vor und zurück.
Das durch die Schule verordnete Lesetraining ist historisch gesehen noch recht jung - und leider nicht vom selben Erfolg gekrönt wie das heimische entspannte Lesen. Auf welche Weise es erlernt wird, ist egal. Nur: locker bleiben.

Gruß

jo perrey (Lehrer)

Moin :smile:
Junge, da hab ich ja erst mal was zu stöbern. Ich hatte schon
befürchtet einer Ente aufgesessen zu sein, aber scheint
ja definitiv eine Wissenschaft (Lesen lernen bzw. beibringen]
für sich zu sein.

Lernen Lehrer eigentlich alle diese verschiedenen Methoden bzw.
hören wenigstens mal davon während des Studiums? Und entscheidet
jeder Grundschullehrer für sich selber, welche Methode er
letztenendes anwendet, oder gibt es da Richtlinien, z.B. von der
jeweiligen Schule?

Grüße, René

Hallo René,

das Lesenlernen ist echt eine Wissenschaft für sich! Auch, wie schnell Kinder lesen lernen und von welchen Faktoren dies abhängt…

Lernen Lehrer eigentlich alle diese verschiedenen Methoden
bzw.hören wenigstens mal davon während des Studiums?

Ja, sie sollten es. Vor allem lernt man mit Begriffen wie Morphem , Graphem und Phonem zu jonglieren :smile:) Die Theorie ist ziemlich kompliziert, aber in der Praxis einleuchtend.

Und entscheidet jeder Grundschullehrer für sich selber, welche Methode er letztenendes anwendet, oder gibt es da Richtlinien, z.B. :von der jeweiligen Schule?

Es gibt im Grunde keine Richtlinien… es gibt Methoden. Dabei entscheidet der Lehrer selber, welche er anwendet. Es ist, wie bei vielen Dingen, eine Sache der Handhabung und Organisation.

Wie gesagt, man kann auch mischen und sollte letztendlich „die Kinder dort abholen, wo sie stehen.“ :smile:))

Ich habe schon mit beiden Methoden gearbeitet.

Gruss

Matthias