Lessing: Über die Wahrheit

Guten Tag zusammen,

Ich habe vor kurzem Gotthold Ephraim Lessings Text „Über die Wahrheit“
gelesen (zu finden auf http://gutenberg.spiegel.de/?id=5&xid=1606&kapitel=1…), nachdem ich mich auch mit seinem Werk „Nathan der Weise“ beschäftigt habe.
Nun frage ich mich aber trotz mermaligem Lesen, was Lessing denn als Hauptaussage/Hauptthesen in diesen Text reingebracht hat, und was er, wenn man es in Kurzform formulieren würde, damit aussagen will.

Lautet die Hauptthese etwa so, dass man nach der Wahrheit suchen soll, ohne einfach seinen eigenen Standpunkt (oder seine eigene Religion etc.) als „wahr“ anzusehen?

Sagt dann also dieser kurze Text quasi dasselbe aus wie die Ringparabel in „Nathan der Weise“ ?

Hallo,

ich verstehe den Text so, dass Menschen, die aufrichtig die Wahrheit suchen, in seinen Augen edler, mehr Wert sind als Menschen, die sich irgendwann einmal auf ihren Standpunkt festlegten und nicht mehr darüber nachdenken. Sie glauben einfach, dass sie die Wahrheit kennen. D.h., sie hinterfragen nichts mehr. Menschen, die ihre Wahrheit oder noch besser, sich selbst immer wieder in Frage stellen, sind seiner Meinung nach für die Gesellschaft konstruktiver, bringen sie voran.

Lautet die Hauptthese etwa so, dass man nach der Wahrheit
suchen soll, ohne einfach seinen eigenen Standpunkt (oder
seine eigene Religion etc.) als „wahr“ anzusehen?

Man kann seinen eigenen Standpunkt schon als wahr ansehen, sollte aber so ehrlich zu sich selbst sein, dass man andere Standpunkte vorbehaltlos prüft und nicht von vornherein ablehnt. Nach der Prüfung anderer Gesichtspunkte kann man seine Meinung behalten, revidieren oder total umkrempeln, je nachdem, was bei der Prüfung herauskam.

Die Wissenschaft muss ihre Annahmen ständig dem neuesten Stand anpassen. Stelle dir mal vor, sie würde auf einen Standpunkt beharren, obwohl er überholt ist. Es gäbe keine Entwicklung mehr.

Liebe Grüße
Ina

Danke, Ina, eine gute Antwort!

Liebe Grüße, Lichtpionier

Hi nochmal,

ein Dankeschön auch von mir, eine gelungene Interpretation ! :smile:

Mfg

Hallo,

ich verstehe den Text so, dass Menschen, die aufrichtig die
Wahrheit suchen, in seinen Augen edler, mehr Wert sind als
Menschen, die sich irgendwann einmal auf ihren Standpunkt
festlegten und nicht mehr darüber nachdenken. Sie glauben
einfach, dass sie die Wahrheit kennen. D.h., sie hinterfragen
nichts mehr. Menschen, die ihre Wahrheit oder noch besser,
sich selbst immer wieder in Frage stellen, sind seiner Meinung
nach für die Gesellschaft konstruktiver, bringen sie voran.

eigentlich heisst es etwas genau gegenteiliges:

jemand, der versucht eine luege durchzusetzen, um etwas positives zu erreichen - wenngleich ihn seine luegerei stoert - ist mehr wert als jemand, der unter allen umstaenden und ueber leichen gehend die wahrheit verbreiten will.

1 Like

Hallo,

ich habe die ersten beiden Absätze als Vorspann zum dritten Absatz genommen. Wenn du nur die ersten beiden Absätze interpretierst, kommst du natürlich zu deinem Ergebnis.
Er meint halt, dass er den Menschen ihre Lügen nicht verübeln kann, die sie für einen - in ihren Augen - guten Zweck einsetzen. Aber was für den einen gut ist, muss es nicht für den anderen sein.

Wann wird denn gelogen? Wenn ich lüge, um jemand anderen zu schonen, weil ich meine, die Wahrheit ist zu hart für ihn, dann benehme ich mich in diesem Moment wie eine Mutter, die ihr Kind schonen will. Dessen muss ich mir dabei schon bewusst sein.

Gelogen wird ja aus vielerlei Gründen. Interessantes Thema, über das ich gleich einmal intensiver nachdenken werde.

Danke für deinen Hinweis!

Liebe Grüße
Ina

Inständige Anempfehlung
„Ein Mann, der Unwahrheit unter entgegengesetzter Überzeugung in guter Absicht ebenso scharfsinnig als bescheiden durchzusetzen sucht, ist unendlich mehr wert als ein Mann, der die beste, edelste Wahrheit aus Vorurteil, mit Verschreiung seiner Gegner, auf alltägliche Weise verteidigt.“ - So beginnt Lessings Notiz „Über die Wahrheit“, und in diesem ersten Satz steckt auch seine Hauptthese. Diese betrifft die Art und Weise, wie Menschen ihre Überzeugungen kommunizieren. Dabei kommt es Lessing entschieden auf Toleranz, die Grundtugend der Aufklärung an. Auch wenn das einem von seinen Erkenntnissen Überzeugten noch so schwer fallen mag: er sollte zumindest so tun, als bestünde in jedem Falle ein Unwahrheitsvorbehalt, und zwar schlicht deswegen, weil es sich bei unseren Erkenntnissen ausnahmslos um menschlich-allzumenschliche Erkenntnisse handelt, so gut abgesichert - nach unserem besten Wissen und Gewissen - sie auch sein mögen. Das muss niemanden hindern, anderen mitzuteilen, was alles für die eigene Auffassung spricht. Wenn er nur dessen eingedenk bleibt, dass zu jedem Plädoyer ein Gegenplädoyer möglich ist und erlaubt sein muss. In den großen Fragen von Religion, Wissenschaft und Weltanschauung ist natürlich jedesmal die Verlegenheit groß, wo Pro und Contra zusammentreffen. Denn es fehlt am Ende - anders als im Rechtsstreit - der allgemein verbindliche Richterspruch. Dass in den Grundfragen des Daseins ein solches „Gottes-Urteil“ wohl bis zum „jüngsten Tag“ auf sich warten lässt, gehört zu Lessings Hilfskonstruktion bei der inständigen Anempfehlung seines „nathanianisch“-weisen Toleranzprinzips.