Literatur z. Thema Stigmatisierung/Ventil-Funktion

Guten Tag/Abend,

kürzlich las ich ein Buch, in der eine Soziologin über Stigmatisierung und Ventil-Funktion von AIDS-Kranken geschrieben hatte.

Weltweit werden eine ganze Reihe von Personengruppen (seit mehr als zweitausend Jahren z.B. die Juden, seit vielen hundert Jahren die Farbigen, oder auch solche Menschen, die einmal als psychisch krank oder geistig krank diagnostiziert worden sind) stigmatisiert.

Außerdem werden diese und andere Personen aus solchen Gruppen immer wieder als Ventil benutzt, das heißt : Menschen lassen an diesen Personen Aggressionen (aufgestauten Hass, unverarbeitete Frustrationen, Neidgefühle) aus, obwohl diese Personen ihnen nichts, aber auch gar nichts Böses, getan haben.

Zu diesem Thema suche ich Fachliteratur (durch Soziologen, Sozial-psychologen, eventuell Kriminologen und Psychoanalytiker verfasst).

Wer kann mir gute Fachliteratur zu dem Thema nennen ?

Gruß
Angelika

Hallo Angelika,

ob das, was ich Dir schreiben will, Deine Frage genau genug trifft,weiß ich nicht, aber mir hat es schon Aufschlußreiches zur „Sündenbockfunktion“ gesagt. In meiner Anregung geht es um die des Individuums - Deine Frage betrifft glaube ich auch das Verhalten und die Reaktionen von Massen?
Ich fand den Psychoanalytiker Helm Stierlin immer sehr interessant und fundiert; in einem seiner Bücher (ich glaube, in „Individuation und Familie“)bringt er die Dinge so auf den Punkt:
Jede Familie hat ein (ihr oft, meist, fast immer unbewußtes) „Thema“.
Das kann in der einen Familie Geld sein (auch z. B. als Symbol für Liebe, Anerkennung; oder für „wer hat die Macht“), in der anderen Prestige, Ruhm, sich-auszeichnen; in der dritten bestimmte Arten von Glauben, Weltanschauung, usw… Dieses jeweilige Thema verbindet die Familienmitglieder zwar, stellt zugleich aber auch eine Art Zwangsklammer dar, die eine Weiterentwicklung der Familie behindert und den Einzelnen einschränkt. Es sei (in der Regel) das sensibelste und integerste Mitglied der Familie, das imstande sei, „eine neue Münze auf den Tisch der Familie zu legen“ (das innere, unbewußte Schema zu ändern und zu erneuern). Ein solches Mitglied bringe fast jede Generation einer Familie hervor - zumindest jede zweite bis dritte. Die Familie habe dann die Wahl, Veränderungen zuzulassen oder abzulehnen. Im zweiten Fall komme es u.U. zur Ablehnung des Mitglieds, das Änderungen anstrebt, bis zu seiner völligen Verbannung aus dem Familienverbund. In diesem Zusammenhang benutzt Stierlin dann auch den Begriff „Sündenbock“ - der, mit allen ungewünschten Anteilen der Fasmilie belastet, in die Wüste geschickt wird.
Vielleicht liest Du selbst einmal bei ihm nach, hoffentlich hilft es Dir etwas weiter! Viele Grüße, Si

Hallo SI,

danke für Deine Antwort.

Ja, es interessiert mich zur Zeit mehr das Verhalten der „Breiten Masse“.

Es gibt übrigens einen wesentlichen Unterschied zwischen „Sündenbock-Funktion“ und „Ventil-Funktion“.

Sündenbock-Funktion : es ist was passiert, die Schuld dafür wird dem „Sündenbock“ gegeben, auch dann, wenn er es nicht war.

Ventil-Funktion : Es ist nichts passiert, aber Menschen werden bösartig gegen eine bestimmte Person (oder Personengruppe). Meistens oder immer reagieren die Menschen an bestimmten Personen Aggressionen (aufgestauten Hass, aber auch Frust und tiefe Neidgefühle etc) ab - stellvertretend für die tatsächlichen Bösewichter (z.B. der grausame übermächtige Vater, der Chef), der nicht mehr greifbar ist … bzw. die Opfer dieser bösartigen, mächtogen Menschen trauen sich nicht, ihre Aggressionen an diesen mächtigen Personen auszulassen. Sie lassen aufgestaute Aggressionen stattdessen an anderen Menschen (Juden, Farbigen, Ausländern, Emigranten, psychisch Kranken, AIDS-Kranken u.a.) aus, weil die Gesellschaft (selbst die Autoritäten in einer Gesellschaft dieses aggressive Verhalten gegenüber diesen Personen zuläßt, weil es viele Menschen so machen.

Freundliche Grüße
Angelika