Hallo Taju,
keine Sorge, ich gebe mir schon Mühe, Postings die ich beantworte, auch genau zu lesen
Jedenfalls habe ich nicht auf die Bekennende Kirche hingewiesen, um
irgenwie irgendwas oder -jemand zu entschuldigen. Gerade im Gegenteil
habe ich auf die Theologen der 30er Jahre hingewiesen, die zu gerne einen
theologischen Überbau für die nationalsozialistische gegeben habe.
Nun, da wollte ich Dir auch nichts unterstellen. Ich habe die ‚Deutschen Christen‘ u.a. in die Diskussion eingebracht um zu belegen, dass Luther nicht nur prägend für Hitlers persönlichen Antisemitismus war, sondern dass das evangelische Christentum in Deutschland insgesamt stark antisemitisch geprägt war. Sicher ist dafür nicht Luther alleine verantwortlich, aber er gab als höchste Autorität dem Antisemitismus der ‚Deutschen Christen‘, der ‚Lutherchristen‘, der ‚Gustav-Adolf-Vereine‘ usw. seine Legitimation und höhere Weihe. Es ist mir schon klar, dass Dir das bewusst ist – in der öffentlichen Wahrnehmung allerdings scheint mir ‚EKD im dritten Reich‘ weitgehend auf die ‚Bekennende Kirche‘ reduziert, was eine arge Verzerrung der tatsächlichen Verhältnisse ist. Ich habe also für das un- oder fehlinformierte Publikum gesprochen, das die EKD womöglich für eine Art antifaschistische Widerstandsbewegung hält - nicht für Dich speziell.
Der Bezugspunkt des Kontexts ist: Trägt jemand für Ereignisse die Schuld
bzw. unmittelbare Verantwortung.
Was heisst „unmittelbare Verantwortung“? Unmittelbar verantwortlich ist der KZ-Scherge, der den Gashahn aufdreht, der den Genickschuss aufsetzt, der den Häftling totprügelt. Wie sieht es mit der Verantwortlichkeit von „Bruder Eichmann“ aus, mit Hitlers Verantwortlichkeit, überhaupt mit der Verantwortlichkeit derjenigen, die sich nicht selbst die Hände schmutzig bzw. blutig gemacht haben? Muss man nicht hier schon strenggenommen von einer „mittelbaren Verantwortung“ reden? Und wie sieht es mit den Begründern des rassistischen Antisemitismus aus (ich hatte beispielhaft Gobineau und Marr genannt)? Hier aber doch sicher *nur* mittelbare Verantwortung – oder muss man sie sogar schon gänzlich freisprechen? Schließlich war – kontextbedingt – auch zu ihrer Zeit der Antisemitismus gesellschaftlich durchaus respektabel. Wo war er das vor 1933 nicht?
Nein, natürlich ist Luther nicht unmittelbar für den Holocaust verantwortlich. Die Frage ist, wie weit er mittelbar dafür verantwortlich ist.
Kann man jemanden persönlich vorwerfen, so zu denken, wie es zu seiner
Zeit „normal“ ist?
Ich möchte nun keine philosophische Grundsatzdiskussion über Willensfreiheit beginnen – daher gebe ich hier also unbegründet meiner Meinung Ausdruck, dass es immer eine Freiheit zum Guten wie zum Schlechten gibt. Du und Barbara, Ihr suggeriert, Luther hätte sich auf Grund der Zeitumstände, des historischen Kontextes, gar nicht anders als antisemitisch äußern können. Andererseits widerlegt Ihr Euch selbst, indem ihr auf die Haltung des frühen Luther gegenüber den Juden hinweist. Wie ist das zu verstehen? Konnte sich der frühe Luther nun wiederum aufgrund des anderen, des früheren historischen Kontextes nur judenfreundlich äußern? Läuft das auf Luthers eigene These vom „geknechteten Willen“ (servo arbitrio) hinaus? Dann allerdings kann man gleich die ganze Menschheitsgeschichte als nebulöses Verhängnis deklarieren.
Der geifernde Judenhass des alten Luther jedenfalls ist selbst für die Maßstäbe seiner Zeit nicht „normal“. Nur nebenbei - es waren ja auch beileibe nicht alle Humanisten auch Judenfeinde, auch Grotius und Thomasius ein halbes Jahrhundert nach Luther sind nicht einfach vom Himmel gefallen. Was ist z.B. mit Johannes Reuchlin?
Es geht um Sachlichkeit. Was Du tust, ist eigentlich nachfolgende
Generationen zu entschuldigen.
Wie kommst Du denn auf diese abstruse Idee? Zunächst einmal – es geht mir absolut nicht um „Schuld“. Der Begriff Schuld hat seinen Platz im kaufmännischen Bereich und meinetwegen in einer jüdisch-christlich geprägten Ethik. Mit letzterer habe ich nichts am Hut. Ich ziehe es vor, von Verantwortlichkeiten zu sprechen – von Ursachen und Wirkungen. Wenn ich einer bestimmten Wirkung eine Ursache zuordne, hat das absolut nichts mit „entschuldigen“ zu tun. Dass Einstein die Relativitätstheorie entwickelt hat, entschuldigt nicht den Abwurf von „Little Boy“ auf Hiroshima – auch wenn beides in einer kausalen Verbindung miteinander steht.
Antisemitismus eine „soziale Krankheit“? Und Luther hat die Welt nach
ihm „angesteckt“? Was mit solchen Äußerungen getan wird, ist die
historische Entwicklung des Antisemitismus zu verschleiern, als hätte diese
böse Krankheit nicht anders gekonnt, als irgendwann zu ihrer Krisis zu
kommen. Wie einfach wäre es, wenn Luther an allem Schuld wäre… d.h. wir
erlauben Luther zwar keinen historischen Kontext, aber den nachfolgenden
Generationen eine überzeitliche Schuldverstrickung
Da überstrapazierst Du die Metapher von der sozialen Krankheit aber reichlich. Das gleitet ins Unsachliche ab. Weil ich Luthers Judenhass als eine der Wurzeln des nationalsozialistischen Antisemitismus denunziere, verschleiere ich die die historische Entwicklung des Antisemitismus? Das müsstest Du aber mal näher erläutern.
Im übrigen wirst Du aus keinem meiner Postings – weder in diesem noch in anderen Threads zu den Themen Rassismus und Antisemitismus - herauslesen können, dass ich den modernen Antisemitismus monokausal (etwa durch Zurückführung auf Luther) erkläre. Es hätte den modernen Antisemitismus natürlich auch ohne Luther gegeben (auf den russischen Antisemitismus hat er z.B. keinen Einfluss gehabt). Aber ohne Luther wäre der Antisemitismus des dritten Reichs ein anderer gewesen. Es ist müßig, zu spekulieren, ob er mehr oder weniger blutrünstig gewesen wäre, ob er in der Bevölkerung (zumal der evangelischen) mehr oder weniger Unterstützung gefunden hätte – Fakt ist, dass man Luther aus der Geschichte des Antisemitismus nicht herauskomplimentieren kann, ohne ein wesentliches Element zu unterschlagen.
Es mag sein, daß Dich nur interessiert, welche Wirkungsgeschichte Luthers
Äußerungen haben. Andere interessiert, wie seine Äußerungen im Rahmen
seiner Zeit zu interpretieren ist.
Mich interessiert beides. Sich lediglich auf Letzteres zu beschränken, hat allenfalls Relevanz als persönliches Steckenpferd. Ich hatte es schon gesagt – das wären Geschichtchen, keine Geschichte.
Da Du von „persönlicher Schuld“ sprichst, kann systematisch historisches
Denken nur kontextuell fragen.
Ich habe nirgendwo von „persönlicher Schuld“ gesprochen – auch wenn Du es wie ein Zitat in Anführungszeichen setzt. Ich habe von charakterlichen Defiziten einerseits und von Verantwortlichkeiten andererseits gesprochen. Um es nochmals eindeutig klarzustellen: mit ‚verantwortlich‘ meine ich wirkende Ursache sein. Ob Luther mit seinen Äußerungen gegen die Gebote oder gegen den Geist seiner Religion gehandelt und zum Schuldner seines Gottes geworden ist, interessiert mich weniger. Ich denke allerdings schon, dass man es so sehen kann – zeitgenössischer Kontext hin oder her.
Auch Barbara hat ebensowenig wie ich die
Wirkungsgeschichte bestritten geschweige denn relativiert. Ich denke, wir
haben beide deutlich gemacht, daß es uns um die Person, nicht um ihre
Wirkungsgeschichte ging.
Zugestanden - allerdings scheint mir eine solche Reduktion in Anbetracht des ernsten Themas zu kurz gegriffen - s.o. Genau aus diesem Grund habe ich nach Barbaras Posting in die Debatte eingegriffen.
Ein Paradigmentwechsel setzt voraus, das es ein Paradigma gibt, oder das
es geschaffen worden ist. …
Rassismus ist ein Kind der Moderne.
Und Antijudaismus ein Kind der Antike und des Christentums. Der Antijudaismus ist der alte ehrwürdige Vater und der Rassismus die junge moderne Mutter des Antisemitismus. Geschenkt. Den Paradigmenwechsel sehe ich schon bei Luther sich anbahnen, weil er die Juden als unheilbar verstockt ansieht – da sie nicht missioniert werden können, sollen und dürfen sie vernichtet werden. Dass das entscheidend Neue bei ihm die „Unheilbarkeit“ des Judentums ist, hatte ich ja bereits gesagt. Das ist das Bindeglied zwischen der Auffassung vom Juden als einem Menschen mit der falschen Religion zur Auffassung vom Juden als einem auszurottenden Schädling, als Untermenschen.
Ich weiß, meine Beteuerungen nützen nichts, es sei trotzdem gesagt, daß
ich Verfolgung anderer aus religiösen Gründen für ebenso verwerflich halte wie
aus irgendwelchen anderen.
Würde mir nicht im Traum einfallen, Dir einfach wegen einer anderen Wertung der historischen Rolle Luthers militante Intoleranz vorzuwerfen …
Nun, hätten sich die Christen, zumindest die „Elite“ unter ihnen, die unter
Berufung auf Luther der Naziideologie gefolgt sind, ihren Luther wirklich
durchgelesen, wäre ihnen aufgefallen, daß sie sich eigentlich nicht auf ihn
berufen können.
Wenn Du es sagst …
nicht mit allen emotionalen Haß aus „Lichtgestalten“ „Dämonen“ machen.
Das verschließt den Blick.
Ich frage mich ernsthaft, warum einem bei kritischen Äußerungen gegenüber Christentum / Kirche / christlichen Leitfiguren immer gleich Hassgefühle unterstellt werden. Ob das eine tieferliegende psychologische Ursache hat? Aber das nur nebenbei. Ich wehre mich gegen eine Glorifizierung Luthers (wie sie z.B. durch den zur Diskussion stehenden Film betrieben wurde), weil sie den Blick auf die unheilvollen Aspekte seines Wirkens verstellt. Das heisst nicht automatisch, dass ich ihn dämonisiere.
Zu oft wird „Antisemitismus“ als religiös und damit irrational verstanden, was
gefährlich ist, denn damit ist einem „Glaube“ an die ratio Tür und Tor geöffnet,
die genauso antisemitische und rassistische Denkweisen kennt und rational
(sic!) begründet hat.
Die Vernunft, die ratio, ist kein einfach zu handhabendes Werkzeug und sie hat auch ihre Grenzen. Aber das, was sich als „rationale“ Begründung von rassistischen Ideologien geriert, ist nie mehr als bloße Scheinvernunft gewesen. Ich bin in der Tat der Überzeugung, dass Rassismus und Antisemitismus aus ihrer irrationalen Grundhaltung heraus sehr viel mehr mit Religion als mit Wissenschaft zu haben. Man könnte sie mit einem gewissen Recht als „Religion des Bösen“ und ihre pseudowissenschaftlichen Begründungen als eine „Theologie des Bösen“ bezeichen. Keine schmeichelhafte Nachbarschaft, aber auch kein Verdammungsurteil für die Religion.
man bedenke … welch geringen Stellenwert das Thema „Juden“ im Gesamtwerk
Luthers überhaupt hat
Nun, das mit dem Stellenwert ist eine sehr subjektive Angelegenheit. Ein evangelischer Christ wird den Stellenwert sicher anders ansetzen als ein Atheist, den am „Gesamtwerk Luthers“ eher die politischen, sozialen und kulturellen Auswirkungen interessieren als theologische Spekulationen. Und ein Jude wird mit Sicherheit – und zu recht – wieder eine andere Auffassung davon haben, welchen Stellenwert dieses Thema hat.
Freundliche Grüße,
Ralf