ist eine alte Tugend, die versucht, sein Gegenüber mit Argumenten zu überzeugen…
Hallo,
Luther mit Goebbels oder Streicher auf eine Stufe zu stellen,
finde ich absolut angebracht. Auch Goebbels hat sich auf
Volksverhetzung beschränkt und sich nicht selbst die Hände mit
Blut besudelt.
Wie lange muss Deiner Ansicht nach jemand tot sein, dass er
Anspruch darauf hat, dass solche Äußerungen „etwas
differenzierter zu betrachten“ sind? Wann dürfen wir anfangen,
die antisemitischen Tiraden Hitlers und Konsorten „etwas
differenzierter zu betrachten“?
Es geht kaum darum, wie lange jemand tot ist, sondern darum, in welchem Kontext er gelebt hat.
Zunächst vorweg, nur zur Klärung: Antisemitismus ist rassistisch, Antijudaismus ist religiös. Jedem hier sollte klar sein, daß es zwischen dem christlichen, sehr alten Antijudaisums und dem Antisemitismus der Neuzeit eine direkte Verbindung gibt.
Na denn, nehmen wir mal denjenigen heraus, den unwissenden Menschen gerne als Antisemiten bezeichnen: den Evangelisten Johannes. Wer Johannes liest und die Geschichte der Menschheit bis heute kennt, wird sagen, das er ein Antisemit ist. Das ist trotzdem falsch. Johannes schreibt in einer Situation, in der er einer verfolgten und ausgegrenzten Minderheit angehört. Er hatte sicherlich nicht vor, um das Jahr 100 etwas zu schreiben, was man noch Jahrhunderte später als Entschuldigung für Massenmord benutzt. Können wir also Johannes vorwerfen, daß man dies getan hat, oder sind nicht die verantwortlich, die seine Schriften mißbraucht haben?
Das Argument „aus dem Zusammenhang gerissen“ mag greifen, wenn
dadurch die Aussage eines Zitates in ihrem Sinn entstellt
wird. Das ist bei den hier vorgebrachten Zitaten durchaus
nicht der Fall. Der „Zusammenhang“ den Du herstellst,
entschuldigt nicht - da hast Du recht - aber er „erklärt“ auch
nicht. Nicht in dem Sinne, dass er diese Ausbrüche des Hasses
bei einem „Gottesmann“ in irgendeiner Weise nachvollziehbar
macht.
Die Frage ist aber doch wohl, wessen Luther schuldig ist? Doch bitte nicht des Holocaust. Er ist zunächst „schuldig“ religiöser Intoleranz (mit den „Papisten“ ist er verbal auch nicht besser umgegangen). Dazu ist - und damit unterscheidet er sich WESENTLICH von all den Theologen, die sich Hitler angedient haben - festzustellen, daß es zu seiner Zeit den Gedanken religiöser Toleranz nicht gab. Er ist auch von selbst nicht drauf gekommen, ok. Es sei hier darauf hingewiesen, daß der große Humanist Erasmus so wie die anderen Humanisten seiner Zeit auch ebenfalls extrem judenfeindliche und haßerfüllte Äußerungen machten (so lobte er in einem Brief an Richard Bartholinus vom 10.03.1517, daß Frankreich „judenrein“ sei, es außerdem auch keine böhmische Schismatiker u.ä. gebe). Es waren eher die konservativen Fürsten jener Zeit, die Juden eine gewisse Rechtssicherheit garantierten (und das das nun auch nicht christliche Motive waren, kann man sich ja denken). Eine „politische“ Welle der antijüdischen Politik ergab sich zur Zeit Luthers, als es hieß, Juden würden in Böhmen Mission betreiben (die Historizität ist bis heute umstritten).
Luther ist also vorzuwerfen, daß er nicht auf eine Idee kam, auf die auch sonst keiner kam.
Ihm Antisemitismus vorzuwerfen, geht aber am Kern vorbei und entschuldigt zu leicht diejenigen, die religiöses mit nicht religiösem vermischt haben. Die Religion mißbraucht haben.
Was bleibt, ist ein unübersehbares charakterliches Defizit.
Luthers „charakterliches Defizit“ bestand darin, daß er es den Juden übel nahm, seine jahrelange Fürsprache für sie nicht zum Anlaß genommen zu haben, Christen zu werden. Darüber beklagt er sich immer wieder, daß sich niemand so sehr für sie eingesetzt hätte wie er. Und warum hat er es getan. Eben nicht, weil er religiös tolerant war, sondern weil er meinte, daß man sie missionieren sollte. Im Kontext seiner Zeit kann ihm kein Mensch ernsthaft übel nehmen, daß er missionieren wollte, aber was man ihm übel nehmen kann, ist seine verletzte Eitelkeit, die ihn, als er erfährt, die Juden missionierten in Böhmen (s.o., dies ist die Schrift, aus der der Threadgeber zitiert hat), zu derartigen Haßtiraden veranlaßt.
Diese Äußerungen sind selbstverständlich abzulehnen. Und dennoch ist Luther nicht auf einer Stufe mit Goebbels zu stellen. Sein „Lebensziel“ war nicht die Vernichtung der Juden, er hat sie nicht auf Volksversammlungen propagiert, er hat nicht unser Wissen und unsere historische Erfahrung gehabt und wollten wir ihn so beurteilen wie Goebbels, müßten wir fragen, was er in 1938 gesagt hätte, nicht 1540.
Und erfreulicher Weise hat Luther die kleine Weisheit besessen, nachfolgenden Generationen mit auf dem Weg zu geben, daß nicht die Tradition entscheidend ist, also auch nicht, was er gesagt hat, sondern „was Christum treibet“.
Grüße,
Taju