Hallo Taju
Es geht kaum darum, wie lange jemand tot ist, sondern darum, in
welchem Kontext er gelebt hat.
Hat nicht auch Goebbels in einem anderen Kontext gelebt als wir? Oder Gobineau? Oder Marr? Quod licet Jovi …
… aber genau darum geht es letzten Endes nicht. Es geht um Antisemitismus und Rassismus hier und heute und es geht darum, die Wurzeln dieser sozialen Krankheit zu sehen. Ein Einordnen in den historischen Kontext trägt sicherlich bis zu einem gewissen Grad zum Verständnis solcher Phänomene bei. Nicht aber, wenn dieses ‚Einordnen‘ auf ein Relativieren, Historisieren und damit letzlich auf Verharmlosen hinausläuft. Dann haben wir nur noch apologetische Augenwischerei. Und genau das lese ich hier aus diversen Postings heraus – auch wenn dabei beteuert wird, es ginge nicht darum, die ‚Lichtgestalt‘ Luther zu entschuldigen (um was zum Teufel geht es denn sonst).
Was bei diesem ganzen Relativieren aus den Augen verloren wird, ist die historische Rolle, die Luthers Antisemitismus gespielt hat. Und das ist das einzig Interessante. Nicht, ob er Auschwitz befürwortet hätte (was eine müßige und rein spekulative Diskussion wäre) – sondern ob er zu Auschwitz beigetragen hat. Also durchaus eine Einordnung in den historischen Kontext – aber nicht nur horizontal, in den zeitgenössischen Kontext, sondern vertikal, in die historische Entwicklungslinie. Wollten wir uns auf Ersteres beschränken, dann wäre das keine ernstzunehmende Auseinandersetzung mit Geschichte mehr, sondern nur das Erzählen alter Geschichten mit nicht mehr Relevanz als sie die z.Z. so beliebten „historischen“ Romane und Filmchen haben.
Zunächst vorweg, nur zur Klärung: Antisemitismus ist rassistisch,
Antijudaismus ist religiös. Jedem hier sollte klar sein, daß es zwischen
dem christlichen, sehr alten Antijudaisums und dem Antisemitismus
der Neuzeit eine direkte Verbindung gibt.
Und genau hier ist einer der Punkte, bei denen Luther eine bedeutende Schlüsselrolle in der Geschichte des modernen Antisemitismus spielt. Nicht nur, dass er persönlich mit dafür verantwortlich war, dass die von ihm reformierte Religion aus dem Fundus der alten den Antijudaismus übernahm – er ist einer der Ersten, bei denen sich der Wandel vom religiös inspirierten Antijudaismus hin zum modernen rassistischen Antisemitismus als Paradigmenwechsel andeutet; wo der „Makel“ jüdischer Abstammung nicht mehr durch die christliche Taufe „heilbar“ ist:
„Wenn ich einen Juden taufe, will ich ihn an die Elbbrücke führen, einen Stein an den Hals hängen und ihn hinabstoßen und sagen: Ich taufe dich im Namen Abrahams.“
(Tischreden, Nr. 1795)
Nicht umsonst sagt Hitler 1923:
„Luther war ein großer Mann, ein Riese. Mit einem Ruck durchbrach er die Dämmerung, sah den Juden, wie wir ihn erst heute zu sehen beginnen.“
(Dietrich Eckart, Zwiegespräche zwischen Adolf Hitler und mir, München 1924, S.34)
Wer Johannes liest und die Geschichte der Menschheit bis heute kennt,
wird sagen, das er ein Antisemit ist. Das ist trotzdem falsch … Können
wir also Johannes vorwerfen, daß man dies getan hat, oder sind nicht die
verantwortlich, die seine Schriften mißbraucht haben?
Wenn jemand eindeutig in die antisemitische Tradition einzuordnen ist, wenn sich Antisemiten auf ihn als Autorität berufen, dann habe ich keine Bedenken, ihn auch einen Antisemiten zu nennen. Wie eben im Falle Luthers und seiner modernen Nachfolger - um etwa die ‚Alldeutschen‘ Franz Stein und Karl Hermann Wolf oder Georg Schönerer, den Leiter der Gustav-Adolf-Vereine, zu nennen, die ihrerseits starken Einfluss auf Hitlers Antisemitismus hatten. Dies ist die direkte historische Verbindungslinie, der ‚vertikale Kontext‘, von dem ich gesprochen habe – von Luther zu Hitler (Empfohlene Literatur: Brigitte Hamann, Hitlers Wien - Lehrjahre eines Diktators, Piper Verlag München 1996).
BTW (Hitler in Wien) - da fällt mir Barbaras Bemerkung ein:
der junge Luther hat über Juden andere Dinge gesagt als der alte Luther
Auch der junge Hitler hat über Juden andere Dinge gesagt als der alte. Schwacher Trost, irgendwie macht’s das nicht besser …
Und dann gab es ja auch später nicht nur die ‚Bekennende Kirche‘ - auch wenn man heute auf Grund des publizistischen Lärms glauben könnte, Bekennende Kirche und Evangelische Kirche seien im Nationalsozialismus Synonyme gewesen. Es gab in den evangelischen Kirchen vor allem die ‚Deutschen Christen‘ und den Reichsbischof Ludwig Müller, es gab die ‚Reichsbewegung Deutschland‘ bzw. (ab 1938) die ‚Lutherdeutschen‘. Auch die konnten sich mit vollem Recht auf Luther berufen und haben dies auch getan.
Wenn Luther schreibt (natürlich alles aus dem Zusammenhang gerissene Zitate):
Man soll ihre „Synagogen oder Schulen mit Feuer anstecken“, „daß man ihre Häuser desgleichen zerbreche und zerstöre … Dafür mag man sie etwa unter ein Dach oder einen Stall tun“, "daß man den Juden das Geleit und Straße ganz und gar aufhebe ", „nehme ihnen alle Barschaft und Kleinod an Silber und Gold“, „daß man den jungen und starken Juden und Jüdinnen in die Hand gebe Flegel, Axt, Karst, Spaten, Rocken, Spindel und lasse sie ihr Brot verdienen im Schweiß der Nasen“, „Summa: … daß ihr und wir alle der … teuflischen Last der Juden entladen werden“
– kann man dann wirklich noch ernsthaft fragen:
sind nicht die
verantwortlich, die seine Schriften mißbraucht haben?
Ist das, was Luther da fordert, nicht genau das, was in der Reichspogromnacht (vielleicht nicht ganz zufällig am Vorabend von Luthers Geburtstag) und in den KZ’s (nicht das Vergasen, aber doch die ‚Vernichtung durch Arbeit‘) geschah? Kann man da wirklich von Missbrauch reden und Luthers Aussagen damit verharmlosen, er habe eben nicht gewusst, dass man seine Vorschläge eines Tages in die Wirklichkeit umsetzen könnte – er habe ja nur geredet und geschrieben? Ich zumindest habe keine Bedenken, Luther einen antisemitischen Schreibtischtäter übelster Art zu nennen.
Sicher gibt es neben dem Antisemiten Luther auch den genialen Übersetzer Luther und den Theologen Luther – ich will den Mann und sein Wirken gar nicht auf diesen einen Punkt reduzieren und ihn kleinreden. Aber es ist nur allzu bedenklich, wenn in Machwerken wie dem Luther-Film anscheinend solche Züge (wie vermutlich auch die widerlich opportunistische Haltung zum Bauernkrieg) zugunsten kritikloser Heldenverehrung ausgeklammert und verschwiegen werden. Wenn wir den Antisemitismus – und das heisst nicht nur seine psychologischen, sondern auch seine historischen Wurzeln – nicht schonungslos offenlegen, riskieren wir eine Wiederholung der Geschichte.
Und – schließlich geht es in diesem Brett um Ethik und ich hatte Luther charakterliche Defizite vorgeworfen – wenn wir nicht erkennen, dass all unser Handeln, unser Denken, Reden und Schreiben, Konsequenzen hat, für die wir verantwortlich sind, wird diese Welt nie ein besserer Ort zum Leben werden. Diese ethische Lehre könnte man aus einer nicht allzu einäugigen Biographie Luthers ziehen. Der Fernsehfilm dagegen war wohl nur seichte Abendunterhaltung - und Rudolf hatte völlig recht, darauf hinzuweisen, wie sehr man das Bild Luthers dort geschönt hat. Gerade, weil nach der historischen Glaubwürdigkeit des Filmes gefragt war.
Freundliche Grüße,
Ralf