Massenhaft auftretende Krankheiten in Deutschland – wo könnten die Gründe liegen?

Hallo F.,

als meine Mutter in meiner Obhut verstarb, litt ich unter der Vorstellung, ich sei für ihren Tod verantwortlich, weil ich sie in das falsche Krankenhaus hatte bringen lassen. Im Anschluss entwickelte sich bei mir eine schwere Depression, mit massiven Angstzuständen. Es war eine der schlimmsten Krisen in meinem Leben. Eine der „Volkskrankheiten“ kenne ich also aus eigener Anschauung.

Aber diese Statements

sind ganz bestimmt keine Begründung dafür, dass es uns schlecht geht.

Ich hoffe, ich muss hier nicht erläutern, warum der Prozentsatz der Kranken bei gut funktionierenden Sozialsystemen steigt. Auch die hohe Zahl kindlicher Tablettenkonsument*innen spricht für ein gut versorgtes Gesundheitssystem. Ebenso signalisieren die chronischen Rückenleiden, dass wir in einer hochentwickelten Gesellschaft leben, bei der im Berufsleben keine körperlichen Arbeiten mehr nötig sind. Die Wirbelsäule ist nicht zum Sitzen gemacht. Es mag mehr Trinker geben aber viel weniger Säufer. Schließlich: Die 16 Milliarden Therapiebedürftigen finde ich so seriös wie die Abgaswerte von VW.

Aber kommen wir doch mal zum Kern Deiner Argumentation: Warum ist ein Teil von uns trotz allem unzufrieden mit seinem Leben? Das gilt es mal auszuloten. Fehlt etwa der Vergleich? Brauchen wir den Existenzkampf in seiner ganzen Härte, um glücklich zu werden? Ist der Krieg der Vater aller Dinge?

Ich kann das auf Anhieb nicht beantworten, aber darüber sollten wir diskutieren. Ich lebe in einer Familie, in der von zwanzig bis über achtzig jedes Alter vertreten ist. Auch jede Gesellschaftsschicht bis auf die Unterschicht. Eine der Frauen (Generation Praktikum) hat zweimal das Studienfach gewechselt, zweimal den Job und ist heute Regierungsdirektorin, die irgendwie mit 81/2k im Monat zurechtkommem muss. Sie hat sich merkwürdigerweise mehr um die Entwicklung ihres Gehirns als ihrer Oberweite beschäftigt. Aber lassen wir das.

Was ist essentiell für eine Zufriedenheit mit dem Leben?

Denken wir erst mal nach. Im Moment kann ich nur sagen, wie ich mit meiner Depression zurechtkam. Mein Psychiater machte mir klar, dass ich an einer schweren Depression litt. Setzte alle Medikamente ab und verschrieb mir neue. Bereitete mich darauf vor, dass es dauern könne, bis die passende Medikation gefunden sei. Ich aber konnte nach Monaten zum erstenmal wieder einschlafen.

Diese Gewissheit, abends einschlafen zu können, macht mich (neben anderem) zu einem zufriedenen Menschen.

Gruß, Hans-Jürgen Schneider

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  1. Bescheidenheit (individuell)
  2. Freiheit (individuell)
    und dann noch ein wenig Anerkennung (die gesellschaftliche Komponente).

Mehr braucht’s ned.

Franz

Doch, ich bitte darum.
Habe ehrlich gesagt nicht ganz verstanden, was du sagen willst.
Natürlich ist Depression eine Krankheit, und die Betroffenen stellen sich nicht „einfach nur an“.
Aber warum steigen die Diagnosen in unserer Gesellschaft?
Wird einfach besser diagnostiziert als früher? (Ich glaube, das spielt sicher eine Rolle).
Fallen Depressionen eher auf, wenn die Grundbedürfnisse gedeckt sind?
(ein Mensch der nicht genug zu Essen hat, wird sich nicht wegen Depression in Behandlung begeben…)
Sind die beruflichen Anforderungen zu hoch (aber Arbeitslose bekommen auch Depressionen…)
Warum steigt der Prozentsatz der Kranken also?

Ich mag ja ne lange Leitung haben, aber was sind bitte einundachtzig halbe K im Monat?

Ich wünschte, er wäre Fellini-Fan und wir würden über den Film Otto e mezzo diskutieren, der sich ebenfalls mit Lebenskrisen (oder besser gesagt: Einer Lebenskrise) befasst.

Er hat indes nur das Leerzeichen vergessen und die Abkürzung „k“ (für das Tausendfache) adaptiert. Mithin rechnet er der Regierungsdirektorin ein Gehalt (wir müssen korrekt sein: Bezüge) von 8.500 Euro zu. Und eine kleine Oberweite.

Was will er uns damit sagen? Wahrscheinlich, dass auch Frauen mit ihrem Gehalt prahlen, denn so viel wird jemand mit A15 nicht bekommen…

Hallo Hans-Jürgen!

Ich hab bis heute die irrationale Vorstellung, ich wäre am Tod meiner Mutter schuld, weil ich ein paar Wochen vorher als 11jährer ausgelassen über Gräber gesprungen bin.
So funktionieren wir Menschen halt. Im Zweifel geben wir lieber uns selbst die Schuld angesichts einer Katastrophe als keinem die Schuld geben zu können.
(Das ist übrigens eine der sichersten Erkenntnise der Traumaforschung; Traumatisierte haben fast immer ein Selbstschuld-Problem, obwohl das gerade bei denen besonders unsinnig erscheint.)

Nein, da dachte ich in erster Linie an AD(H)S und Ritalin.
Oft sehr kontrovers diskutiert, das möchte ich hier nicht aufwärmen, aber das hat sicherlich mit mehr als nur mit dem Gesundheitssystem zu tun, sondern auch mit Strukturen des Bildungssystems und mit gesellschaftlichen Erwartungen.

Richtig, dieser Schmerz (und die anderen Zivilisationskrankheiten) sind einer der angesprochenen „Preise“ für unseren Wohlstand. Und komme mir jetzt bitte keiner mit „die sollen einfach mehr Sport machen“. Ich will deskriptiv argumentieren und nicht normativ.

Zum anderen halte ich insbesondere (mit viel Evidenz) chronisches Leiden des unteren Rückens in vielen Fällen für einen körperlichen Ausdruck psychischen Leids. Da könnte ich massig Studien und Meta-Studien als Beleg dafür angeben.

Ich denke, es reicht, wenn man einsieht, dass „Lebensglück“ etwas ziemlich „dialektisches“ ist. Schwer, Höhen ohne Tiefen zu bekommen. Deshalb muss man die Tiefen nicht glorifizieren. Dass permanenter Existenzkampf oder Krieg nicht glücklich machen kann, versteht sich von selbst, aber Gefühle der „Hoffnung auf Besseres“, Gefühle des „Entronnenseins“ und des sozialen Aufstiegs (auch über die Generationen) usw. sind schon starke Glücksquellen.

Gruß
F.

Das ist recht simpel. Die Stigmatisierung ist heute kaum noch vorhanden. Zum Teil ist „krank geschrieben wegen Burnout“ ja sogar irgendwie cool weil es mit Leistung in Verbindung gebracht wird.

Das es nur höhere Zahl von Diagnosen aber keine steigende Zahl von Fällen gibt zeigt ja bereits ein Blick in die Selbstmordrate (extrem stark gesunken).

Ich glaube, es ist ein multivariates Problem aus äußeren und inneren Bedingungen.

Die Entwicklung unseres Gehirns hinkt der gesellschaftlich-technischen Entwicklung hinterher.
Wir sind eigentlich nicht gemacht für ein Leben, langzeitsitzend in einem Raum und starrend auf bewegte BIldschirmbilder, dabei ständig kommunizierend und flirrende Informationen ungefiltert aufnehmend.

Beatrix

Hallo,
wenn jemand Hoffnung hat, sein Status koenne sich verbessern, schaut er mit weniger Depression oder Zweifel in die Zukunft. Dabei ist es egal, auf welchem Level er derzeit steht, ausser ganz oben. Wer aufs Haeuschen spart und das anstrebt, wird zufriedener mit seiner bloeden Mietwohnung sein als jemand, der die gleiche Mietwohnung hat und keine Aussicht auf eine bessere. Auch im Zwischenmenschlichen, wenn die Kinder vorankommen … Uns fehlen allg Ziele und die Hoffnung / Ehrgeiz / Moeglichkeiten, irgendwie in die Richtung zu kommen. Das liegt an sehr vielen Parametern. Einmal sind Veraenderungen bei unseren Gesetzen schwer moeglich, Fortschritt wird im SiliconValley gemacht. Einige Studierte gehen ins Ausland. Dazu kommt, wenn alles einigermassen weiteraeuft, hat man den Eindruck es wuerde schlimmer. Durch niederziehende Medien-Meldungen-Auswahl, durch Zugriff der Preise, Steuern, Kosten ueberall steigend. Tatsaechlich sind die Angestelltengehaelter vielfach weniger gestiegen als die Inflation, da greift jemand zu, ohne dass der Angestellte, der Waehler, der Buerger das verhindern kann. Jedenfalls fuehlen viele die Hilflosigkeit, manchmal noch nichtmal bei sich selber, sondern vom Hoerensagen, doch schon dies reicht fuers eigene Runterziehen, je nach Veranlagung.
Medizinisch kommen wir nicht voran mit all den vielen Langzeiterkrankungen, die nach langer Zeit dr Einwirkung dann kommen und lange bis nie wieder gehen. Rheuma, Krebs, Bluthochdruck, Infarkte, Uebergewicht und weitere. Weil niemand offen sagt, wo die Ursachen sind und niemand gross Anreize setzt, diese zu meiden. Arthritis hat Bircher schon um 1900 geheilt, das geht heuete noch nicht, allein die Ursachen darf man nicht nennen (als Nicht-Mediziner). Die Schadwirkungen von zuviel Eiweiss werden nicht in Schulen gelehrt und vieles mehr. Aber die Folgen werden umsatzwirksam, wachstumsfoerdernd, gewinnsteigernd ausfuehrlichst behandelt. Wachstum brauchen wir. Ich warte seit Jahren auf ein Gesetz, jeder muss alle 3 Jahre sein Auto gegen einen Brueckenpfeiler donnern, fuer Wachstum beim Hersteller und Wachstum im Krankensektor. Ganz so schlimm ist es noch nicht, sie gehen nur mit „Diesel und Stuttgart“ gegen Haltedauern vor. Krankhalten ist das Ziel, gesundhalten ist keines, Umsatz statt Zufriedenheit. Jder der das unbewusst fuehlt, kann in die Unzufriedenheit verfallen. Bis er mehr erkennt, die Betroffenheit noch mehr steigt, jedoch seine Ohnmacht im Grossen in sehr persoenliche Verbesserungen umsetzt und ansonsten schweigt. Dabei die Politik laufen laesst, wohin sie will, egal was sie gegen das Volk unternimmt, in der Hoffnung, ssooo schlimm wird es schon nicht kommen.
Gruss Helmut

Hallo wegfish,

Mein Argument war, dass die Anzahl der Kranken (nicht nur der Depressiven) steigt. Einige Gründe:

In einem gut funktionierendem Sozialstaat und Gesundheitssystem werden die Menschen älter und damit auch anfälliger für Krankheiten.

Ein Gesundheitssystem auf der Höhe des wissenschaftlichen Fortschritts verwendet optimale Diagnosegeräte, die Krankheiten sichtbar machen, welche in vielen Teilen der Welt nicht bemerkt werden.

Heute kann man auch mit sehr ernstzunehmenden Krankheiten (z.B. Aids, verschiedene Krebsarten) leben, bleibt aber ein Kranker. Ein Fortschritt der Pharmaindustrie.

Gruß, Hans-Jürgen Schneider

Hör doch auf, Dinge als simpel darzustellen, die alles andere als simpel sind.
Es ist nämlich im Fachdiskurs ziemlich unklar, wieviel die gestiegenen Depressionszahlen mit a) weniger Stigmatisierung, b) anderer Diagnostik, c) mehr Depressionen zu tun haben.

Gruß
F.

Hallo Helmut,

in manchem hast Du recht.

Aber in anderen Dingen? Dass die Preise nicht nennenswert steigen, kannst Du an der inflationsrate sehen. Sehr viele Deutsche zahlen überhaupt keine Steuern. Außerdem werden diese in absehbarer Zeit schon wieder gekürzt.

Wir liegen weltweit an zweiter Stelle bei Patentanmeldungen in der EU:

Jungen Mittelstandsfamilien mag es an machem fehlen. An Geld meist nicht. Die Familie meines Sohnes (zwei Söhne), bis auf die Frau (mittlere Reife) Hauptschulabschlüsse fahren nicht zwei oder drei Autos sondern jeder hat eins. Haus wird auch noch abbezahlt. Alle führen ein hochzufriedenes Leben und verdienen Geld. Die wissen aber auch, dass zu einer beruflichen Karriere lebenslanges Lernen gehört.

Warum es mehr Kranke gibt, habe ich a. a. O. schon erklärt.

Umsatz bedeutet, dass die Ware oder Dienstleistung, die eine Firma anbietet, gefragt ist. Daher kann die Firma hohe Gehälter und Prämien zahlen. Eine Aktiengesellschaft kann auch Belegschaftsaktien ausgeben. Damit kann der Angestellte seinen Wunsch nach einem Eigenheim früher realisieren, seine Kinder studieren lassen oder seinen Lebensabend sichern.

Umsatz schafft Zufriedenheit

Es ist jetzt gerade 17.30 Uhr und die Schlussglocke der Börse bimmelt. Ich habe heute knapp über 2.000 Euro Gewinn gemacht. Quod erat demonstrandum.

Gruß, Hans-Jürgen Schneider

…in der Firma Krankenhaus, bei der Wirtschafts-GMBH Krankenkasse. Je mehr und laenger krank, desto Umsatz desto mehr wuenschbares Wachstum fuer Arbeitsplaetze.
Roth:
„Was bringt den Doktor um sein Brot?
a) Die Gesundheit, b) der Tod.
Drum hält der Arzt, auf daß er lebe,
uns zwischen beiden in der Schwebe.“
Und die Politik schreitet nicht ein,
sieht generell Wachstum als foerderungswuerdig an.

Steigende Anzahl von Depressionen bei gleichzeitig drastisch gesunkener Selbstmordrate? Wohl kaum…

(Fast) statt eigener Wort … ich hebe nur die Kernpunkte fett hervor, die sowohl meine Punkte a) bis c) sowieso meine frühere These dir gegenüber, dass Depressionen und Suizid kein einfacher Zusammenhang sind, wiederholen. Vielleicht magst du Herrn Hegerl, einem der bekanntesten psychiatrischen Suizid- und Depressionsexperten dieses Landes, ja Vertrauen schenken.

Albath: Sie sagten eingangs schon, dass es oft weniger gesellschaftliche Gründe habe, dass es so viele Depressionen gibt. Aber nun heißt es ja von der Weltgesundheitsorganisation, dass Depressionen in den Industrieländern ungeheuer angestiegen sind und dass das bis zum Jahr 2020 sogar die zweithäufigste Krankheit weltweit sein soll. Haben Sie denn dafür eine Erklärung, wenn es nicht die Gesellschaft ist?

Hegerl: Bei uns ist die gleiche Entwicklung festzustellen. Man sieht, dass die Zahl der Diagnosen ansteigt und der Grund dafür ist schwer zu sagen. Ob tatsächlich die Zahl der Depressionen zunimmt [Punkt c)], wird Ihnen keiner beantworten können, am allerwenigsten die WHO. Die weiß das auch nicht, die basiert da immer mit ihren Berechnungen auf Zahlen, die ihr geliefert werden von den Ländern. Die Gründe dafür können zum Beispiel sein, dass mehr Menschen den Mut haben, weil es Aufklärungskampagnen gibt, sich Hilfe zu holen [Punkt a)]. Es kann sein, dass die Ärzte besser Depressionen erkennen [Punkt b) erster Teil] und nicht nur die Kopfschmerzen und Rückenschmerzen - das sind ja meistens die Beschwerden, mit denen die Menschen kommen - nun diagnostizieren und behandeln, sondern merken, dahinter steckt eigentlich eine Depression.

Und weiter kommt hinzu, dass man Depression heute häufiger auch Depression nennt [Punkt b) zweiter Teil] und nicht Burn Out oder Chronique Fatigue-Syndrom oder Fibromyalgie [wie gehört], denn das sind so Ausweichdiagnosen, hinter denen sich nicht selten eine Depression versteckt. Das sind alles Gründe, die dann zum Ansteigen der Zahl der Depressionen führt. Wenn man einmal die Zahl der Suizide nimmt, so gehen die ja zurück in Deutschland und übrigens am allersteilsten in den östlichen Bundesländern. Da gab es nach der Wiedervereinigung den steilsten Rückgang, obwohl sich die sozialen Verhältnisse für viele ja verschlechtert haben […]
Hegerl: Ich muss noch einmal den Punkt, den bemerkenswerten Punkt doch noch einmal betonen, dass wir in ostdeutschen Bundesländern nach der Wiedervereinigung den steilsten Rückgang der Suizidraten in ganz Europa hatten. Wenn die Suizide, die ja sehr eng verknüpft sind mit Depressionen, ein Ausdruck der sozialen Verhältnisse primär sind, dann ist es zumindest nicht so, dass sie mit der Arbeitslosigkeit in Verbindung stehen, denn die hat ja plötzlich zugenommen, von null auf 20 Prozent. Und viele andere Dinge haben sich so verändert, dass Menschen ja doch in große Schwierigkeiten geraten sind. Trotzdem gingen die Suizidraten zurück und jetzt nicht, weil hier die Antidepressiva massiv mehr verschrieben wurden, das glaube ich nicht, dass das der Grund ist. Sondern ich wollte damit nur zeigen, dass es nicht so einfach ist, eine Beziehung herzustellen zwischen den äußeren Lebensbedingungen und Depressionen und Suizidalität. Das ist ein sehr komplexes Gebilde [weshalb steigende Depressionsraten und fallende Suizidraten nicht ansatzweise ein Widerspruch sein müssen]

Gruß
F.