Mathearbeit ohne Punktanzahl??? - Sehr gut!
Hallo.
An einem Dienstag im Frühling 1966 mußte ich gegen Ende der 12. Klasse die schriftliche Reifeprüfung in Mathematik ablegen, d.h. innerhalb von 5 Stunden eine Prüfungsarbeit anfertigen.
Die Aufgaben wurden größtenteils in geschlossener Textform gestellt, wie z.B. so
_Die beigegebene Zeichnung zeigt den Achsenschnitt eines Pollers, an dem beim Anlegen eines Schiffes die Haltetaue befestigt werden. Die seitlichen Bögen des Achsenschnittes sind Hyperbeläste. Den oberen Abschluß bildet eine halbe Ellipse und der untere zylindrische Teil wird in die Hafenmauer eingelassen. Die Form des Pollers ergibt sich durch Rotation des Achsenschnittes um die y-Achse.
Berechnen Sie den Rauminhalt des Hyperboloids, des halben Ellipsoids unter Benutzung eines zweiten, hierfür besonders geeigneten Koordinatensystems und des Zylinders. Wie groß ist das Gewicht des gußeisernen Pollers?_
Am 1. Juli 1951, 15h45m MEZ wurden Azimut a und Höhe h der Sonne gemessen. Man fand a = 75° 28’, h = 40° 54’. An welchem Ort geschah das, wenn die Zeitgleichung +3,8m und die scheinbare Deklination der Sonne 23° 8’ betrug? (Das Azimut wird von Süden nach Westen gemessen.)
Punktezahlen? Wurden nirgends gegeben. Warum? Die pädagogischen Verantwortlichen des Bildungssystems vertraten die Ansicht, daß das Zeigen der Punkteverteilung unweigerlich zu Dünnbrettbohrerei führt. Anstatt sich einfach hinzusetzen und die gegebenen Problemstellungen zu erfassen, zu durchdenken und Lösungsversuche zu unternehmen, würden die Schüler blindwütig irgendwelche Rechenschemata durchziehen und nur zusehen, wie sie möglichst leicht, möglichst viele Punkte kriegen können. Des weiteren würde der Schwierigkeitsgrad reduziert, da selbst schwache Schüler mit relativ geringer Vorbereitung abschätzen können, wo sie ihre Anstrenungen konzentrieren sollten. Das wollten die Pädagogen nicht. Die Schüler sollten die Prüfungssituation so gut wie möglich vernachlässigen und die polytechnischen, naturwissenschaftlichen und innermathematischen Probleme alle gleichermaßen versuchen, und zwar nach bestem Wissen und Gewissen.
Von den damaligen Prüfungen ausgehend gab es zu den heutigen noch wesentlich mehr Unterschiede, doch das würde hier zuweit gehen. (Um es vorsichtig auszudrücken: Heutige Prüfungen sind für Gehirnamputierte bemessen.)
Als Elternteil solltest Du die Art und Weise der Lehrerin gutheißen, weil Dein Kind frühzeitig lernt, sich auf die Aufgaben zu konzentrieren und nicht blind den Punkten hinterherzurennen. Hast du zuwenig Vertrauen, sprich mit der Lehrerin und schlage vor, sie solle die Punkteverteilung am Ende der Mathearbeit den Schülern in schriftlicher Form mitgeben.
reinerlein