AW: langer Kurzkommentar für Dich
Grüß Dich.
Aber ob die Lösung wirklich in der Einrichtung von [echten] :Gesamtschulen liegt?
Ich empfinde das Herunterspielen der Schulstruktur als die schlimmste Rhetorik, die sich Politiker seit 2001 leisten. Die Schulstruktur ist sehr wichtig, wenn das Bildungssystem alle Resourcen „aus einem Guß“ und somit optimal ausnutzen soll.
Der Begabungsbegriff von den handwerkenden (dummen) Hauptschülern, den kaufmännischen (bescheiden belesenen) Realschülern und den denkenden (breit gebildeten und eloquenten) Gymnasiasten, auf den sich das gegliederte Schulsystem gründet und blind verläßt, ist anzuweifeln; gerade der Übergang von der Grundschule hat sich als Gerechtigkeitslücke entpuppt, da eben überhaupt nicht begabungs- und leistungsgerecht aufgegliedert wird.
Vor einiger Zeit las ich zudem eine längere Studie, die nachweisen konnte, daß schlechte Schüler gruppiert zu einer leistungsschwachen Klasse im Nirwana enden, regelrecht absacken, während die guten Schüler gruppiert zu einer leistungsstarken Klasse keine größeren Fortschritte schaffen als sie es im gemischten Klassenverband täten.
Das deckt sich mit meinen schulischen Erfahrungen vor 40 Jahren: Die Kinder müssen unablässig mit hohen Anforderungen konfrontiert werden, Anforderungen die über dem Mittelwert liegen. Es muß unablässig streng benotet werden, keine Schonzeiten, nicht in Watte packen - Leistung, Zensuren, kontinuierlicher Druck zum geistigen Fortschritt, Konkurrenz zur Aktivierung von Leistungswille und Gemeinschaft zur soazialen und intellektuellen Erziehung.
Problem: Der Leistungsgedanke ergibt überhaupt keinen Sinn, wenn die Kinder am Ende der 4. Klasse aufgegliedert werden in eine relativ gute Schule, eine akzeptable Schule und in eine schlechte Schule. Von guten Chancen bis Perspektivlosigkeit alles im Köcher, unterschiedliche pädagogische Ansätze, unterschiedliche Geschwindigkeiten.
Zum Vergleich: Meiner Delegierung auf die EOS ging eine Einschätzung meiner Leistungen voraus. Mein Zensurenstand Ende der 8. Klasse war 1,4 (1-), wodurch ich leistungsmäßig im Mittelfeld (!!) meines neuen Klassenverbands lag. Die Zensuren in Mitarbeit (1), Fleiß (1), Ordnung (2) und Betragen (3) waren in Ordnung. Der Klassenlehrer ermutigte mich zum Übertritt an die höhere Lehranstalt und mußte ein Gutachten anfertigen, was einerseits meine bisherige Entwicklung und andererseits Prognosen zur künftigen Leistungsfähigkeit enthielt sowie Interessen, Stärken, Schwächen. Ich mußte mich per Schreiben für die EOS bewerben und wurde später zum Gespräch eingeladen. Gleich die 1. Frage war, was ich mir bei der schlechten Betragenszensur gedacht hätte. Der Herr Genosse beließ es beim (ironischen) strengen Blick und der nachdrücklichen Ermahnung, die Bewertungen in Ordnung und Betragen zu verbessern. Dann durfte ich 3 Berufe und 3 Studienfächer nennen, die mich sehr interessierten und die meiner Meinung nach paßten. Der Genosse erläuterte die Tätigkeiten, die Anforderungen, den Lehrstoff, den Berufsalltag, die Erwartungen an mich usw. und machte seinerseits Vorschläge, die mich auf Grund der Analyse meines schulischen Werdegangs interessieren könnten. Im Anschluß mußte ich mich auf 3 Studienfächer verbindlich festlegen, aus dem später 1 Fach planstellengelenkt ausgesucht werden würde (nach formaler Bewerbung an einer Hochschule). Des weiteren war das Abitur zu der Zeit mit einer Berufsausbildung verbunden, so daß wir in ähnlicher Weise wie beim Hochschulstudium über den 4jährigen Lehrberuf (9.-12. Klasse) sprachen. Einige Wochen später kam das Schreiben über die Zulassung zum Abitur mit Berufsausbildung im B-Zweig.
Über die planwirtschaftlichen Dinge kann man streiten, aber der Vorgang war sehr viel durchdachter geplant und fußte auf verläßlichen, langfristigen Informationen. Ein 13- oder 14jähriger ist charakterlich reifer, hat eine ganz andere Weltsicht und ist besser einzuschätzen als ein 9- oder 10jähriger. Mit 14 weiß außerdem ein Kind ziemlich gut, was es denn später werden möchte. (Zumindest wußten wir das zu meiner Zeit, denn Berufswahl und Berufsberatung gab es schon im Kindergarten! D.h. die Schüler waren umfassend über die Berufsausbildungen informiert und kannten die weiteren Wege im Bildungssystem - eine normale Aufgabe von Schule, die heute kaum eine Einrichtung beherrscht. :-/)
Das Herunterspielen der Strukturfrage übersieht außerdem die begrenzten Handlungsmöglichkeiten des gegliederten Schulsystems. Wenn ich das Schulsystem nach bestimmten Idealen organisiere, stößt das förderale gegliederte Schulsystem schnell an systemtheoretische Grenzen, während sich die zentralistische Einheitsschule sehr effizient regeln läßt. Das übersehen die konservativen Ideologen gerne; ich erwarte z.B. vom obligatorischen und vom wahlweise-obligatorischen Unterricht des Schulsystems geographieunabhängige und lehrstoffbezogen einheitliche Bildung für alle Kinder auf dem besten erreichbaren Niveau, Gleichwertigkeit und Einheitlichkeit der Abschlüsse, einheitliche Abschlußprüfungen, gleiche Zensurenmaßstäbe, einheitliche Anforderungen an alle, einheitliche Lehrpläne, einheitliche Lehrausbildung – alles, was zynischerweise von den konservativen Politikern unter großen Worten wie Chancengleichheit, Gerechtigkeit und Transparenz geführt wird. Und was tagtäglich gut zu beobachten *nicht* erreicht wird.
Und die genannten Anforderungen sind nicht vom gegliederten Schulssystem erfüllbar, schon per Definition nicht. Die Organisationform „Einheitsschulsystem“ hat hier die besseren Werkzeuge und Steuerungsmethoden in der Hand. Änderungen werden sofort für alle Schulen in allen Schulbezirken gleichermaßen wirksam. Die Einheitsschule ist deswegen reformfreudiger und agiler, während der harte Kern an Bildungsidealen überall durchgesetzt werden kann.
Das gleiche Kunststück versuche bitte unser Schulsystem, das schon an einfachen Aufgaben wie ordentlichen (fehlerfreien) zentralen Prüfungen oder einer identischen Bezeichnung des Schulabschlusses („Mittlere Reife“) scheitert.
Mit Ideologie hat das also wenig zu tun, denn bspw. kannte ich als Schüler ja nichts anderes als die Einheitsschule. Dinge, die heute wie der Heilige Gral des Schulsystems diskutiert werden, waren für uns Alltag. Das fängt mit dem nicht vorhandenen Unterrichtsausfall an und hört bei den vielfältigen Arbeitsgemeinschaften auf.
Das gegliederte Schulsystem lernte ich nach der Wende kennen. Ungefähr 1991-1993 dachte ich: „Das sind nur die Übergangserscheinungen; es mußte ja schließlich viel Rotes weg und das bessert sich alles noch.“. Spätestens Mitte der 90er dachte ich mir dann: „Es kann doch nicht sein, daß die jahrzehntelang *so* Schule machten. Hier kümmert sich niemand um irgendwas.“. Irgendwann wich dann das ernüchterte Erstaunen der Einsicht, daß das alles politisch so gewollt ist und kritiklos von vielen Menschen mitgetragen wird.
Viele Kinder können in der 7. Klasse noch nicht 45 Minuten stillsitzen.
Das fängt bereits im Kindergarten an. Keine Förderung, keine Erziehung. (Nicht gewollt, und wenn, dann stehen sofort die militanten Eltern auf der Matte, die dem Kindergarten verbieten, auf das Kind einzuwirken, z.B. das Stillsitzen, das Ruhigsein, das motorisch korrekte Halten von Stiften und Scheren, …)
in der hohen Arbeitslosigkeit und dem damit verbundenen niedrigen
Bildungsniveau im Elternhaus
Das ist eine direkte Folge des gegliederten Schulsystems. Ich kenne notgedrungen viele (ältere) Langzeitarbeitslose im Osten, die sind hervorragend gebildet und interessiert - allerdings nicht politisch. Es gibt nur eine Korrelation von Armut und Bildungsniveau, wenn es das Schulsystem verfehlt hat, die Bildungsideale in die unteren Schichten zu tragen. Bildung ist deutsches Traditions- und Kulturgut und zunächst unabhängig von der Ökonomie zu sehen. Das scheint aber offenkundig an den Hauptschulen und zunehmend an den Realschulen vorbeizugehen.
Das dreigliedrige Schulsystem möchte ich jedenfalls nicht
verteufeln, gerade die Begabtenförderung sollte m.E. so früh wie
möglich beginnen […] - was sie in der DDR ja auch tat
Das lächerliche Stückchen Talentförderung, was wir haben, sollte nicht verwechselt werden mit dem staatlichen Netz aus Einrichtungen wie den Spezialschulen usw… Auch hier galt: Talentförderung einheitlich-planmäßig, so daß jeder geeignete Schüler Zugang hatte. Wer heute in der falschen Gegend und/oder in der falschen Familie groß wird, hat Pech gehabt.
Es wurde zu DDR-Zeiten sicher viel falsch gemacht, z.B. das Politische. Aber es wurde für alle Kinder viel mehr getan. Und nur das zählt am Ende.
Viele Grüße