Mensch als geistigsittliches Wesen Art. 1 Abs.1 GG

Moin,

Hinter Artikel 1 Absatz 1 Satz 1 GG stehe der Mensch als ein geistigsittliches Wesen, welches so angelegt sei, dass er über sich selbst in Freiheit bestimme und entfalte.

Was ist mit einem geistigsittlichen Wesen gemeint? Darauf kann ich mir überhaupt gar keinen Reim bilden.

Danke und Tschüß :smile:

Hallo,

Artikel 1 des Grundgesetzes für die BRD lautet:

Art 1
(1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu
schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.

Hallo,

könnte es vielleicht eine ältere Ausgabe des Grundgesetzes sein? Es wurde im Verlauf der Jahrzehnte angepasst und bestimmt auch in Teilen sprachlich geglättet.

LG Barbara

könnte es vielleicht eine ältere Ausgabe des Grundgesetzes
sein? Es wurde im Verlauf der Jahrzehnte angepasst und
bestimmt auch in Teilen sprachlich geglättet.

Nein. :wink:

Art 1
(1) Die Würde des Menschen ist unantastbar.

Genau. Und dahinter steckt das Menschenbild, welches ich im ersten Beitrag geschrieben habe. Das steht allerdings nicht im Grundgesetz, dazu muss man sich wohl ein bischen im Recht auskennen.

Wie auch immer:

Wer kann mir erlären was geistigsittlich bedeutet?

Hallo,

da musst Du die Anthropologen fragen, die Menschen mit Begriffen wie Geist und Sittlichkeit (in Richtung Ethik zu verstehen) beschreiben und abgrenzen.

http://anthroposophie.byu.edu/vortraege/063_08.pdf

VG
EK

Hallo!

Genau. Und dahinter steckt das Menschenbild, welches ich im
ersten Beitrag geschrieben habe. Das steht allerdings nicht im
Grundgesetz, dazu muss man sich wohl ein bischen im Recht
auskennen.

Schön, wie Du Dich mit Deiner subtilen Stichelei als geistig-sittliches Wesen outest. Die Leute stellen Nachfragen, und darum sind sie wohl zu doof für das Brett „Allgemeine Rechtsfragen“.

Wer kann mir erlären was geistigsittlich bedeutet?

Jemand, der sich mit Philosophie beschäftigt. Daher habe ich Deine Frage ins Philosophie-Brett verschoben.

Platonische Tugendlehre
Hi.

Du fragst also nach dem „geistig-sittlichen“ Wesen des Menschen. Dass diese Formel mit dem Grundgesetz unmittelbar nichts zu tun hat, darauf haben andere schon hingewiesen.

Mit der platonischen Tugendlehre hat sie aber schon sehr viel mehr zu tun. Zum einen ist der Mensch für Platon ein geistiges Wesen, das aufgrund einer Verkettung ziemlich unglücklicher Umstände in einen animalischen Körper hineingeraten ist. Dieses geistige Wesen (Seele) setzt sich aus drei Komponenten zusammen:

* Vernunft
* Wille
* Triebe

Diesen Seelenteilen sind diverse Tugenden zugeordnet wie Weisheit, Gerechtigkeit, Mannhaftigkeit und Gehorsam gegenüber der Vernunft.

Für Platon sind Tugenden aber nicht einfach nur abstrakte Verhaltensideale, sondern ontologisch existente Wesenheiten (Ideen), von denen die Tugenden realer Menschen nur Abbilder sind. Die höchste Idee bzw. die Mutter aller Ideen ist das Gute, denn es umfasst alle anderen Ideen. Der Mensch ist aufgrund seiner Geistigkeit imstande, dieses Gute unmittelbar zu erkennen. Was Platon unter diesem Erkenntisakt versteht, ist in der Forschung umstritten. Einiges deutet darauf hin, dass Platon eine Wesensschau im Sinn hat, die mit sprachlich-logischen Kategorien nicht fassbar ist. Daher sind seine Beschreibungen des Erkenntnisaktes nur metaphorisch zu verstehen. Vermutlich liegt dieser Vorstellung eine Art mystische Schau zugrunde, die Gegenstand von Platons berühmter „Ungeschriebener Lehre“ war und die er möglicherweise als Teilnehmer der Eleusinischen Mysterien erlangte.

Der Mensch als „geistig-sittliches Wesen“ - das bedeutet also, dass der Mensch aufgrund seiner Geistigkeit fähig ist, die höchste Idee und zugleich das höchste Wirkliche, nämlich das Gute, zu erkennen, wie er auch in der Lage ist, die diesem Guten entspringenden Tugenden, also die sittlichen Ideen, welche allen konkreten Tugendhandlungen zugrundeliegen, zu erkennen.

Chan

Da gibt es historische Begründungen
Hallo ElaMiNaTo,

Es ist möglich, die Einführung der Formulierung einerseits und die Debatte im Parlament andererseits, die zu seiner Festschreibung führte, nachzulesen, ergänzbar durch gängige Definitionen der damaligen Zeit.

Da wird dann schnell festgestellt, dass die Autoren von zwei Grundsätzen geleitet sind: einerseits einem humanitären Grundsatz, Grausamkeiten zu vermeiden, andererseits der Überzeugung, dass das Volk von Religion und religiöser Ethik geleitet sei.

Gruss,
Mike

Hallo!

Was ist mit einem geistigsittlichen Wesen gemeint? Darauf kann
ich mir überhaupt gar keinen Reim bilden.

Das würde ich nicht so hochtrabend erklären wie teilweise unten geschehen …

Der Mensch ist nicht nur ein körperliches, sondern auch ein geistiges (= hat Verstand und Vernunft; philosophisches Schlagwort: animal rationale) und sittliches (= ist immer schon in gesellschaftlichen Bezügen eingebettet; philosophisches Schlagwort: zoon politikon) Wesen. Punkt.

Gruß
Tyll

Idealistischer Kontext
Hi.

Was ist mit einem geistigsittlichen Wesen gemeint? :

Das würde ich nicht so hochtrabend erklären wie teilweise
unten geschehen …

Der Mensch ist nicht nur ein körperliches, sondern auch ein
geistiges (= hat Verstand und Vernunft; philosophisches
Schlagwort: animal rationale) und sittliches (= ist immer
schon in gesellschaftlichen Bezügen eingebettet;
philosophisches Schlagwort: zoon politikon) Wesen. Punkt.

So locker vom Hocker ist besagter Ausdruck sicher nicht erklärbar, mein Lieber. Du interpretierst ihn ohne Rücksicht auf geistesgeschichtliche Zusammenhänge. Mit „Geist“ ist hier nicht das gemeint, was englisch mit „mind“ ausgedrückt wird (deine Lesart), sondern mit „spirit“. Es geht also um einen über-individuellen Geist bzw. einen menschlichen Geist, der strukturell mit einer Art Weltgeist verbunden ist (via Vernunft z.B.). Die Formel „geistig-sittlich“ begegnet einem hauptsächlich im Zusammenhang mit idealistischer Philosophie (Platon, Hegel, vor allem Schleiermacher), gelegentlich auch und leider mit dem Nationalsozialismus. Für Schleiermacher bedeutete das Geistig-Sittliche z.B., dass der Mensch die das Universum durchwebende Vernunft erkennt und zur Grundlage des praktischen Handelns macht („Alles ethische Wissen… ist Ausdruck des immer schon angefangenen, aber nie vollendeten Naturwerdens der Vernunft“, ´Ethik´, § 81).

Insofern ist ein Hinweis auf Platons Tugendlehre, welche ja die Grundlage aller späteren idealistischen Ethiken ist, sicher notwendig, getreu Jean Piagets Einsicht, dass man, wenn man etwas verstehen will, sich anschauen muss, wie es entstanden ist.

Chan

Hallo!

So locker vom Hocker ist besagter Ausdruck sicher nicht
erklärbar, mein Lieber.
Du interpretierst ihn ohne Rücksicht
auf geistesgeschichtliche Zusammenhänge.

Eben so war es gewollt.
Manchmal muss man sich im ersten Schritt kurz fassen und die geistesgeschichtlichen (Entstehungs-)Zusammenhänge hintanstellen.

Gruß
E.T.

Zitate zu ‚Geist und Sittlichkeit‘

So locker vom Hocker ist besagter Ausdruck sicher nicht
erklärbar, mein Lieber. Du interpretierst ihn ohne Rücksicht
auf geistesgeschichtliche Zusammenhänge.

Eben so war es gewollt.
Manchmal muss man sich im ersten Schritt kurz fassen und die
geistesgeschichtlichen (Entstehungs-)Zusammenhänge
hintanstellen.

Was soll ich dazu sagen? Ich zitiere am besten aus einem Fachbuch, das mir hier in der größten Bibliothek von Bayern vorliegt.

Aus „Geist und Sittlichkeit“, Verlag Königshausen & Neumann, 2009:

(S. 49)

Die Verbindung von ´Geist und Sittlichkeit´ verweist auf ein spezifisches Begriffspaar und die darin implizierte Antwort Hegels auf Kants Pflichtenlehre.

(S. 50)

_§ 1 Zur Begriffsgeschichte von ´Geist´ und ´Sittlichkeit´

Die Wörter Geist und Sittlichkeit haben für den philosophisch Gebildeten ein klare Hegelsche Konnotation. Umgangsprachlich allerdings sind sie relativ vage, sodass es sich empfiehlt, innerhalb der philosophischen Terminologie zu verbleiben (…) In der Tat lässt sich dank der Kontinuität der Rezeption der platonischen Philosophie durch den Neuplatonismus von Plotin bis Hegel eine lückenlose Tradition des Begriffs des Geistes feststellen, die trotz allen Wandels einen Identitätskern bewahrt hat._

Ich denke, dass deine Kurzfassung zwar gut gemeint ist, die Sache aber nicht wirklich trifft.

Chan

Hallo!

Die Verbindung von ´Geist und Sittlichkeit´ verweist auf ein
spezifisches Begriffspaar und die darin implizierte Antwort
Hegels auf Kants Pflichtenlehre.

Die Wörter Geist und Sittlichkeit haben für den philosophisch
Gebildeten ein klare Hegelsche Konnotation. Umgangsprachlich
allerdings sind sie relativ vage …

Und du meinst, in Bezug auf das Grundgesetz (das ist der Kontext, den die Ursprungsfrage hier aufmacht) ist die „implizierte Antwort Hegels auf Kants Pflichtenlehre“ der entscheidende Aspekt des Begriffsgebrauchs - gegenüber den unterschiedlichen Weisen des Begriffsgebrauchs, die hier -unmotivierterweise- alle zusammen als „umgangssprachlich“ auf einen Haufen geworfen werden?

Man könnte übrigens, wenn man sich diese Fleißaufgabe machen möchte, mal die Begriffsgeschichte von „geistig-sittlich“ innerhalb des JURISTISCHEN Diskurses anschauen, denn eben um diesen geht es, nicht um den philosophischen Diskurs.
Ich bin überzeugt davon, dass sich der Begriff im juristischen Diskurs schon recht bald vom philosophischen Zusammenhang des Dt. Idealismus abgelöst haben dürfte.

Gruß
Tyll

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Hallo Tyll!

Man könnte übrigens, wenn man sich diese Fleißaufgabe machen
möchte, mal die Begriffsgeschichte von "geistig-sittlich"
innerhalb des JURISTISCHEN Diskurses anschauen, denn eben um
diesen geht es, nicht um den philosophischen Diskurs.
Ich bin überzeugt davon, dass sich der Begriff im juristischen
Diskurs schon recht bald vom philosophischen Zusammenhang des
Dt. Idealismus abgelöst haben dürfte.

Du hättest Chans Replik:

Zitat
„Was soll ich dazu sagen? Ich zitiere am besten aus einem Fachbuch, das mir hier in der größten Bibliothek von Bayern vorliegt.“

mit einem Zitat aus einem Werk aus der
deutschen Staatsbibliothek kontern sollen
oder besser der „Library of Congress“,
aber ist die „British Library“ nicht doch
umfangreicher? Egal, jedenfalls stehst du
auf schwachen Füßen! :wink:

Spaß beiseite, wir kennen unseren Chan.
Du hast natürlich völlig recht.
Außerdem impliziert Hegels Kritik ja
gerade die Forderung nach Konkretisierung
der abstrakten Kantschen Termini.
De jure und de facto kann sich die
Gesetzgebung nicht mit philosophischen
Refexionen aufhalten, da käme sie nie
zu Formulierungen, wie der des besagten
Paragraphen. Auch wenn natürlich der
Einfluss philosophischen Gedankenguts
nicht bestritten werden kann.

Viele Grüße
Junktor
P.S Auch gut! :smile: