Menschliches Wissen und Erfahrungen

Guten Tag allerseits,

habe mir schon öfter die Frage gestellt, warum der Mensch sein Wissen und seine Lebenserfahrungen nicht auf seine Nachkommen übertragen kann, bzw. warum Neugeborene jede Kleinigkeit neu erlernen müssen, Essen, Laufen, Lesen, Rechnen, etc.

Ist das keine gigantische Verschwendung von Ressourcen?

Ich denke mir oft, wenn ich sonntags über den Friedhof schlendere: Mein Gott, was liegt hier doch an Lebenserfahrung herum. Alles verloren.

Warum hat die Natur das so angelegt? Da ich denke, dass die Natur genial ist, muss das genau so beabsichtigt sein, sonst wäre es nicht so. Es ist scheinbar von allen möglichen Varianten, die beste.

Gibt es dazu irgendwelche wissenschaftlichen Erkenntnisse?

Vielen Dank für Ihre Mithilfe.

lg Hilde

Hallo Hilde,

Dein Gedanke ist nachvollziehbar, tatsächlich ist aber das Gegenteil der Fall:
Evolutionär Menschen zeichnet aus, daß unser Verhalten sehr starkt verhaltensorientiert ist, ja wir können sogar im Gegensatz zu allen anderen Lebewesen unseren Erfahrungsschatz weitergeben. Die Menschen haben dazu das Mittel der Sprache. Egal ob verschriftlicht oder mündlich: die Sprache ermöglicht es Erfahrungen weiterzugeben, die ein anderen nicht (mehr) machen kann. Dies ist nicht nur in Büchern und den Kleinigkeiten des Alltags und der Erziehung der Fall, in der Sprache selbst bzw. in ihrem Erwerb steckt wissen: in einer Sprach werden bestimmte Unterscheidungen getroffen, in einer anderen nicht. Manche Sprachen sind eher geeignet um technische Vorgänge zu beschreiben (Englisch vs. Swahili).
Vererbung -egal ob von „Wissen“ oder Verhalten oder morophologischer Merkmale- ist nur über das Erbgut möglich. Die hierfür maßgeblichen Prozesse sind ziemlich langsam und können nicht mit der rasanten Wissensentwicklung eines Menschenlebens mithalten. Wie gut, daß wir Menschen auch eine kulturelle Evolution haben, über die ich Dir hier -mittels Sprache- berichten durfte. Erworbene Eigenschaften werden nicht vererbt (d.h. der Lamarckismus ist falsch).
Einen Überblick gibt z.B. Wuketits: Evolution, Erkenntnis, Ethik.
Mit besten Grüßen
Marus

Hallo Hilde!

Wir können uns natürlich vorstellen, zumal seit das mit dem Clonen auch beim Menschen keine Utopie mehr ist, dass wir quasi als Erwachsener aus dem Ei schlüpfen. Frage an dich: Was wäre anders?

Ganz allgemein ist die Antwort auf deine Frage die Evolution, vor allem in sozikultureller Hinsicht. Ein Klassiker, wenn auch umstritten und wegen seiner Langatmigkeit nicht unbedingt leicht zu lesen, ist anthropologiespezifisch etwa Norbert Elias.

Ansonsten wirf auch mal einen Blick in entwicklungspsychologische Werke - du wirst finden, es ist nicht ganz umsonst, dass so viele Kleinigkeiten jeder grundständig neu lernt.

Unendlich viele Sachen, die erst bei heutigem Stand der Entwicklung selbstverständlich sind, müssen die meisten von uns ja dank Spezialisierung überhaupt nicht mehr lernen, weil andere das für sie tun, und können trotzdem von deren Vorteilen profitieren.

Informationen gehen heute weniger verloren, das Problem ist vielmehr, sie sind so reichlich vorhanden, dass die Verschwendung darin besteht, dass sie niemand nutzbar machen kann, geschweige denn gänzlich integrieren. Die Bibliotheken stehen voll mit ungelesenen Büchern, das Internet wird nur zu Bruchteilen genutzt, und ob zum Besten?

Irgendwann werden wir Essen, Laufen, Lesen, Schreiben und Rechnen etc. vielleicht tatsächlich auch nicht mehr lernen müssen, weil alles künstlich vonstatten geht und wir wie in dem Film „Matrix“ in virtuellen Welten leben - ob das besser ist, wer weiß.

In der Tat wäre es vielleicht gar nicht so schlecht, wenn wir alle mit einem IQ von mindestens 130 geboren würden. Dass dem noch nicht so ist, liegt keineswegs mehr nur an der Natur und hat vielleicht auch Vorteile in Hinsicht auf ethische Herausforderungen.

Die Lebenserfahrung, die du auf dem Friedhof herumliegen siehst, ist sicherlich nicht ausnahmslos verschwendet. Die Erfahrungen, die du gemacht hast mit denen, die du dort besuchst, haben doch bestimmt einen Wert, der jenseits dessen liegt, was in Büchern steht.

Und doch haben gerade auch Leute wie Hilegard von Bingen, die noch heute gelesen werden und inspirieren, durch ihr Schreiben den Grundstein gelegt zu vielem, auf das kommende Generationen aufbauen konnten, ohne wieder scheinbar von Null anfangen zu müssen.

Erkenntnisse gibt es übergenug, man wird nur nie fertig damit, neue machen zu wollen, und der Prozess also ist das Entscheidende. Wahrscheinlich ist deine Frage hier auch nur teilweise beantwortet, was insofern sein Gutes hat, als es an dir bleibt, dein eigentliches Interesse heraus zu arbeiten.

Wissenschaft ist bekanntlich nicht immer der Weisheit letzter Schluss. Wenn ich richtig verstehe, steckt in deiner Frage auch ein bisschen persönliche Unzufriedenheit mit etwaig Erreichtem. Die Antwort auf solch ein Rätsel kann ebenso spannend sein.

Mit besten Grüßen!

Hallo Hilde,

leider habe ich nicht die Zeit, auf Quellensuche zu gehen.
Hier aber die Antwort aus christlich-philosophischer Sicht:

Die Anlage des Menschen ist - trotz des Sündenfalls und der damit einhergehenden systematischen Verschlimmerung - immer noch gut. Da sie von Gott (und nicht einer rein materiellen ‚Natur‘) kommt, ist sie genialen Ursprungs. Weil das Ziel jedes Menschens die Erkenntnis und Liebe Gottes ist, soll jeder individuell die wichtigen Erkenntnisse und Zustimmungen machen. Weil Liebe nur in Freiheit möglich ist, kann sie nicht rein genetisch weitergegeben werden. Nicht Erfahrung, sondern die richtigen Schlüsse aus den richtigen Erfahrungen sind hilfreich.

Glücklicherweise lernen Kinder (idealerweise) durch ihre Eltern die wichtigsten Grundlagen, um selbst zum Ziel des Lebens zu kommen. Durch die starke Abhängigkeit entsteht eine dienliche Bindung in beide Richtungen, die u.a. Kontinuität bewirkt. Im übrigen wird das Weltwissen, dass den Intellekt jedes einzelnen deutlich übersteigt, ja recht gut in Bibliotheken, Internet, Kultur, Religion etc. tradiert, also aufgehoben, verbessert und weitergegeben.

Mit besten Grüßen
Rolf

Hallo Hildegard von Bingen,

als Erstes gibt es auch einen religiösen Hintergrund, da uns ja Gott so erschaffen hat und wir nichts daran ändern können.

Man kann zwar Intelligenz erben, das heißt wenn frühere Familienmitglieder eine sehr hohe IQ hatte, könnte man mit Wahrscheinlichkeit dieselbe oder etwas niedrigere IQ haben, aber das könnte dauern.

So etwas liegt eben in unserer Natur.

Bis bald!!!

Hallo Hilde,

sehr gute Frage, bei der ich dir leider spontan auch nicht weiterhelfen kann.
Eine der interessantesten Bücher der letzten Jahre stammt von Tomasello: „Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens. Zur Evolution der Kognition“. Darin schreibt er viel zur Weitergabe von Wissen und Können, vielleicht hilft es dir weiter …

LG Michael

Hallo Arndt,

erstmal vielen Dank. Leider hatte ich in den letzten Tagen zu wenig Zeit, um Dir ein kleines Feedback zu liefern.

…zumal seit das mit dem

Clonen auch beim Menschen keine Utopie mehr ist, dass wir
quasi als Erwachsener aus dem Ei schlüpfen. Frage an dich: Was
wäre anders?

Naja, der Mensch (Neugeborenes) müßte nicht immer wieder von Null anfangen. Es wäre eine enorme Zeitersparnis.

Beispiel: Der Vater spricht perfekt Englisch u. Französisch, die Mutter perfekt Spanisch. Es wäre doch praktisch, wenn das Kind diese Sprachen auch automatisch beherrschen würde und könnte dann gleich mit weiteren Fremdsprachen beginnen. Das Wissen würde sich so immer weiter akkumulieren.

Mir ist klar, dass die Natur das aus bestimmten Gründen nicht so geregelt hat, sonst wäre es ja so. Die Natur ist genial.
Habe z. B. mal in einer Fachzeitschrift gelesen, dass der Mensch nur deshalb nicht Fliegen kann (wie ein Vogel), weil er es nicht können muss. ES war für das Überleben und für die Entwicklung der menschlichen Spezies im Laufe der Evolution offenbar nicht notwendig, dass der Mensch fliegen kann. Rein theoretisch kann man sich schon vorstellen, dass der Mensch Flügel hätte. Es würde sich niemand etwas dabei denken, wenn dem so wäre. Man wüßte es nicht anders.

Unendlich viele Sachen, die erst bei heutigem Stand der
Entwicklung selbstverständlich sind, müssen die meisten von
uns ja dank Spezialisierung überhaupt nicht mehr lernen, weil
andere das für sie tun, und können trotzdem von deren
Vorteilen profitieren.

Das sehe ich auch so. Der Mensch fliegt ins Weltall, ich könnte aber keine Raumfähre fliegen oder auch keine Rakete bauen, etc. Es gibt aber Menschen, die das können.

Gedankenexperiment:
Stelle Dir vor, Du würdest mit einer Zeitmaschine in die Steinzeit reisen. Angenommen, Du könntest Dich mit den damaligen Menschen tatsächlich verständigen und würdest behaupten, Du kämest aus der Zukunft aus dem Jahr 2011. Du hättest keine Chance, diese Behauptung zu beweisen. Wie denn? Du könntest kein Auto bauen, keinen Fernseher, hättest keinen elektrischen Strom, Du könntes auch kein Elektrizitätswerk bauen, Du könntest kein Buch vorlesen, Du könntest auch keines schreiben, Du hättest keinen Füller und keine Stift, Du könntest auch keinen bauen, etc. Du hättest zwar das theoretische Wissen, könntest aber nix damit anfangen.

Informationen gehen heute weniger verloren, das Problem ist
vielmehr, sie sind so reichlich vorhanden, dass die
Verschwendung darin besteht, dass sie niemand nutzbar machen
kann, geschweige denn gänzlich integrieren. Die Bibliotheken
stehen voll mit ungelesenen Büchern, das Internet wird nur zu
Bruchteilen genutzt, und ob zum Besten?

Da stimme ich Dir ebenfalls zu. Ich glaube aber, dass alles, was wir heute wissen, ich meine die Menschheit als Ganzes, im Prinzip schon immer wissbar war. Dieses Wissen war aber noch nicht entdeckt. Theoretisch wäre es auch in der Steinzeit möglich gewesen, ein Raumschiff zu bauen, es wußte aber noch niemand wie es geht und es wollte auch niemand eines bauen, weil man gar nicht wußte, was ein Raumschiff ist, etc. Aber es gab in der Steinzeit schon alles an Ressourcen, was zum Bau einer Raumfähre notwendig ist, nur eben nicht das Know How.

Das Wissen wurde immer weiter ent-deckt und hat sich immer feiner verzweigt. Die Gefahr liegt darin, dass man inzwischen den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sieht. Alles Wissen war usprünglich eine Einheit und gehört zusammen (Synthese), es wurde aber künstlich katalogisiert und systematisiert. Es gibt inzwischen keinen einzigen Menschen mehr auf der Erde, der einen Überblick über das gesamte Wissen hat. Zudem ist uns heute noch nicht bekannt, was es denn noch alles zusätzlich zu wissen gibt. Wir wissen zwar, was wir wissen, aber wir können nicht negativ abgrenzen, was wir nicht wissen.

Und doch haben gerade auch Leute wie Hilegard von Bingen, die
noch heute gelesen werden und inspirieren, durch ihr Schreiben
den Grundstein gelegt zu vielem, auf das kommende Generationen
aufbauen konnten, ohne wieder scheinbar von Null anfangen zu
müssen.

Einspruch. Das mit den Büchern ist so eine Sache. Wenn wir sagen wir mal eine Autobiographie von Napoleon lesen würden, dann spiegelt dies nicht genau die Erfahrung wider, die Napoleon subjektiv gemacht hat, sondern wir interpretieren das Gelesene vor dem Hintergrund unseres Wertesystems, unserer Erfahrungen.
Erfahrungen können durch schriftliche oder mündliche Weitergabe nicht genauso erhalten werden, wie sie ursprünglich erlebt worden sind.

Erkenntnisse gibt es übergenug, man wird nur nie fertig damit,
neue machen zu wollen, und der Prozess also ist das
Entscheidende.

Viel wichtiger als Erkenntnisse ist die Frage, was wir mit unseren Erkenntnissen anfangen, welche Schlüsse und Folgerungen wir daraus ziehen sollen.
Und hier sind wir wieder bei der Interpretation, bei der Bewertung. Wir können zutreffend oder unzutreffend interpretieren und bewerten und es kann sehr lange dauern, bis wir feststellen können, ob unsere Annahmen richtig oder falsch waren, etc.

Schönen Tag, Hilde