Metaphysik und Deduktion

Ist Metaphysik immer eine Deduktion (vom Allgemeinen auf das Einzelne denkend) oder gibt es eine Metaphysik auch als Induktion (vom Einzelnen denkend zum Allgemeinen)?
Punk-Evchen

Hallo Punk-Evchen,

die Begriffe, die im Zusammenhang zur Metaphysik stehen, bedürfen der jeweiligen Definition. D. h. es kann sehr wohl jemand daherkommen und aus gewissen Gründen behaupten, die Metaphysik gehe immer deduktiv vor, er muss dann aber sowohl „Metaphysik“ als auch „deduktiv“ näher umschreiben.

Derjenige Sinn aber, der den Begriffen „induktiv“, „deduktiv“ und „Metaphysik“ meistens zugeschrieben wird, lässt die Möglichkeit der Induktion schon zu.

Ich versuche ein Beispiel: Ein Mensch, der die Physik kennenlernen will, nimmt drei Äpfel in die Hände, jongliert mit ihnen und überlegt sich, nach welchen physikalischen Gesetzen sich die Äpfel verhalten, inwiefern sie immer gleich und inwiefern sie allenfalls ungleich herumhüpfen.
Die Metaphysik wird demgegenüber anhand der drei Äpfel die Frage stellen, was das Wesen des Apfels sei bzw. ob es ein Wesen des Apfels gebe, nicht nur weil die drei Äpfel oft ähnliche Eigenschaften aufweisen, sondern auch weil sie im Beobachter ähnliche Eindrücke hervorrufen. Da sowohl die Physik als auch die Metaphysik von den drei bestimmten Äpfeln ausgehen, gehen beide in diesem Fall induktiv vor und nicht deduktiv.

Dass diese Methode in der Metaphysik eher selten ist, stimmt nur deswegen, weil die Metaphysik sich meist länger bei den Folgefragen aufhält - d. h. sie nimmt ein Wesen des Apfels an und hängt dann lange aufgrund dieses geglaubten Wesens weitere Fragen und Antworten an. Jedoch kommt sie auch manchmal auf diese Frage nach dem Wesen zurück.

Gruss,
Mike

Hi Punk-Evchen.

Ist Metaphysik immer eine Deduktion (vom Allgemeinen auf das
Einzelne denkend) oder gibt es eine Metaphysik auch als
Induktion (vom Einzelnen denkend zum Allgemeinen)?

Ich gebe Mike darin Recht, dass Metaphysik ähnlich wie empirische Wissenschaft prinzipiell induktiv vorgeht (sie schließt von Einzelbeobachtungen bzw. -erfahrungen auf das Allgemeine), dass also Allgemeinbegriffe nicht a priori gegeben sind, sondern a posteriori Produkte von Abstraktionsprozessen sind. Allerdings sieht und sah das nicht jeder Metaphysiker so, vielmehr wurde, ausgehend von Platon, gerne postuliert, dass Allgemeinbegriffe der Erfahrung vorausgehen.

Der Nominalismus behauptet, Begriffe seien lediglich Abstraktionen der Eigenschaften von Einzeldingen. Die Vorläufer dieser im MA aufkommenden Anschauung waren in der Antike Protagoras, Leukipp und Demokrit. Auch im alten Indien gab es nominalistische Positionen, z.B. im Mahayana-Buddhismus, der den Einzeldingen jede Essenz absprach und sie als „leer“ (im Sinne von substanz- bzw. essenzlos) ansah. Der auf Platon basierende philosophische Begriffs-Realismus dagegen behauptet die Wirklichkeit einer gemeinsamen Substanz bei einander ähnlichen Einzeldingen, die sich lediglich in ihren Akzidentien voneinander unterscheiden.

Metaphysik beschäftigt sich mit der Frage nach den „letzten Dingen“, d.h. nach der oder den Grundlagen des Seienden. Das kann, muss aber keine Annahme von Universalien einschließen. Z.B. hat der schon erwähnte Mahayana-Buddhismus eine dezidierte metaphysische Position (das „Fundament“ der Einzeldinge ist die Leerheit = Shunyata). Ganz allgemein sind es die mystischen Positionen in Ost und West, welche die Existenz von Universalien abstreiten und die Grundlage des Seienden als sprachlich nicht oder nur grenzwertig bestimmbar (z.B. durch Negation oder Paradoxa) ansehen.

Die tieferen Ursachen für die begriffsrealistische Positionen liegen, wie ich meine, in den vor-philosophischen Religionen des Alten Orients, auf welchen die griechische (Geistes-)Kultur wesentlich basiert. Der griechische Begriffsrealismus (platonische Ideenlehre) lässt auf den altsumerischen Sprachrealismus zurückführen: Die Sumerer hielten Sprache für eine Offenbarung der Götter an die Menschen. Für sie korrelierten Sprache und Wirklichkeit unmittelbar miteinander. Natürlich hatte Platons Ideenrealismus, wenn auch nicht bewusst, in diesem alten Glauben seine Wurzel. Bei den Ägyptern führte der gleiche Gedanke in Memphis zur Konzeption des Schöpfergottes Ptah, der die Welt allein durch seine Worte hervorbringt - und damit das Vorbild des durch seine Worte das Licht schaffenden jüdischen Jahwe war („Und Gott sprach: Es werde Licht“).

Deine Frage lässt sich meiner Ansicht nach so beantworten, dass philosophische Metaphysik in jedem Fall induktiv, also empirisch, entsteht, auch wenn die begriffsrealistischen Richtungen behaupteten und behaupten, dass Allgemeinbegriffe a priori die Wirklichkeit abbilden, also keine induktiven Abstraktionsprodukte sind. Die Realisten haben die empirischen Grundlagen der Metaphysik einfach vergessen bzw. verdrängt. Wie aber konnte Metaphysik empirisch entstehen, wenn sie doch über Dinge nachdenkt, die den Horizont der Sinnesorgane überschreiten? Die Antwort lautet: Mystik. Diese bezieht sich auf eine Erfahrungsebene, welche die Wirklichkeit unabhängig von den Funktionen der Sinnesorgane wahrnimmt, aber auch unabhängig von der Struktur der Verstandeskategorien, mit welchen der auf sinnlicher Wahrnehmung basierende Verstandesapparat operiert. Es handelt sich hier um eine die Sinnesorgane transzendierende Empirie. Häufig basierte dieser Erkenntnismodus in alten Zeiten auf der Einnahme von psychoaktiven Substanzen, im brahmanistischen Indien z.B. dem Soma, dessen Konsum man ja auch den Göttern, allen voran Indra, zusprach. Ohne diese global verbreitete Praxis, die auch die Basis des Schamanismus war, hätte - nicht nur meiner Ansicht nach - Religion und Metaphysik nie entstehen können, jedenfalls nicht in der Weise, wie sie faktisch entstanden sind. Dem eigentlichen Begründer der okzidentalen Metaphysik, Parmenides, werden von manchen Altertumswissenschaftlern zumindest Kontakte zu schamanistischen Kreisen zugesprochen (z.B. H. Diels und H. Fränkel). Was Platon betrifft, soll er Teilnehmer an den Mysterien von Eleusis gewesen sein, was Bekanntschaft mit drogeninduzierter mystischer Erfahrung impliziert (so Albert Hofmann). Der Herausgeber der Werke des Mystikers Jakob Böhme, G. Wehr, hält Hofmanns Theorie (Eleusis = LSD) jedenfalls für erwägenswert (in einem Brief an mich). Natürlich schließen sich Mystik und Ideenrealismus gegenseitig aus, was die Frage aufwirft, wie sich beide Kategorien bei Platon vereinbaren lassen. Kein Problem: Platons Ideenlehre war exoterisch (für das breitere Publikum bestimmte), seine ´Ungeschriebene Lehre´ aber esoterisch (für geheime Zirkel bestimmt). Ich vermute, dass Platon selbst seine Ideenlehre, die er ohnehin nicht als geschlossenes System darstellte, nicht so ernst nahm, wie das von den meisten Akademikern angenommen wird.

Was bedeutet also Induktion im Hinblick auf mystische Metaphysik? Dass Empirie (´übersinnliche´ Erfahrung) die Basis für deren Grundsätze bildet, d.h. man zieht aus Einzelbeobachtungen bzw. - erfahrungen den Schluss auf das Allgemeine (z.B. die Dinge sind „leer“, wie im Mahayana, oder „Die Wirklichkeit kann nicht positiv beschrieben werden, nur negativ“, wie im Brahmanismus und der Negativen Theologie, oder „Das Sein steht über dem Seienden“, wie bei Plotin, der laut Porphyrios vier spontane mystische Erleuchtungen hatte).

Deduktion bedeutet im Hinblick auf mystische Metaphysik, dass die entsprechenden Grundsätze auf alles einzeln Seiende angewendet werden können, unabhängig davon, ob es dem Aussagenden beobachtbar ist. Wenn z.B. der Mahayanist sagt: „Alle Dinge sind leer“, dann ist das deduktiv - er kennt ja nicht jeden Baum und jeden Grashalm auf diesem Planeten, trifft über diese Dinge aber ein allgemeines Urteil. Der entsprechende Grundsatz wurde induktiv gewonnen, was in der buddhistischen Tradition heißt: durch meditative Praxis.

Chan

Und was bist du?
Metaphysik ist also eine nicht weiter hinterfragte Annahme, eine Behauptung, Interpretation, Konstruktion oder Axiom-Norm von „letzten Ursachen“, und zwar sowohl induktiv als auch deduktiv. Danke für die interessanten Antworten. Ich glaube aber eher nicht, dass irgendeiner der vielen „Großkopfeden“ (bayrisch für gescheite, einflussreiche Leute) etwas wirklich darüber wissen kann, und dass wir uns als menschliche Tiere nur immer selbst eine gewünschte Antwort geben, auf die Frage: "Wer bin ich? Ich bin Punk, und was bist du?
Punk-Evchen

Ich bin klein, mein Herz ist rein,
soll niemand drin wohnen
als Jesulein.

Datt is Metafüsick!

Datt is Metafüsick!

Und du bist ein Experte!