Mutanten in Hollywood

Eine Passage aus einem unvollendeten Sciencefiction-Roman, den ich gerade umschreibe.

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Los Angeles, 13. Oktober 2045

“Wie findest du eigentlich meinen Voice Mode?”

“Süß. Das ist Barbie-Blue, dreizehnjährig. So wie kurz vor dem ersten Kuss. Ich hatte noch nie was mit einer Dreizehnjährigen. Oder … vielleicht … doch?” Benghla sah hinüber zur Wand. Sie lächelte ihr Spiegelbild an, das ihr blond und nackt auf einer Sessellehne gegenüber saß.

“Du … kleines … Aas”, säuselte die Teeniestimme aus dem Mod auf dem Salontisch, “ich trau´s dir glatt zu. Hey, Benghla, ich widme dir meine nächste Nummer. Wirklich. Die Mellow steht schon. Hör mal.”

Bazooka leitete eine der führenden TeRock-Bands der USA. Bazooka sang Dadadada-dada. Er phrasierte mit seiner Leihstimme hinreißend. Sie hatten sich gestern auf einer Filmparty kennengelernt. Benghla hatte ihre Freundin Marlen vorher zur Pressepremiere eines Actionmovies begleitet, in dem Marlen eine kleine Nebenrolle hatte. Ein Starlet, das einen berühmten TV-Moderator blow-jobbt. Marlen hatte dafür den richtigen Mund und ein tolles Gesicht, daher die Rolle. Die Action war aber nur gestellt. Sie kicherten trotzdem, als die Szene kam. Zwei Reihen hinter Benghla hatte, mit langer schwarzer Mähne, Bazooka gesessen. Er war einer von mehreren Musikern, die zum Soundtrack beigetragen hatten. Nach der Premiere hatte er sie zusammen mit Marlen in Richtung Beverly Hills abschwirren sehen, wo der Produzent des Movies eine Party gab. Er hatte sich, stroboskopiert von fünf oder sechs Paparazzi, ein Taxi geschnappt und war ihr gefolgt. Später gestand er Benghla, er wäre während der Vorführung scharf auf sie geworden. Allerdings wusste er nicht, dass er mit diesem Bekenntnis Eulen nach Athen trug – Benghla hatte im Zuschauerraum ihr Umfeld telepathisch sondiert und seine Vibes sofort herausgefiltert.

Ihre Begabung war nur in den wirklich gut informierten Kreisen bekannt – zum Beispiel bei der CIA und bei einigen anderen Geheimdiensten. Während der Party hatte er sie angesprochen und durch seinen Mix aus Charme und Ruhm für sich interessieren können. Bei allen Devas der Galaxis – wem hatte Benghla nicht alles die Hand geschüttelt und in die Augen geschaut, bevor sie sich mit Bazooka ins White-Castle-Hotel abdrückte, um dort die Nacht mit ihm und SynC zu verbringen. Sogar R´n´T-Star Dharma Agent war da gewesen, der an Schönheit wohl jeden Mann toppte, den sie jemals gesehen hatte. Er fehlte definitiv auf ihrer Liste, was aber nur eine Frage der Zeit war – daran hatte seine Phantasien, die sie während ihres Blickkontaktes wahrnahm, keinen Zweifel gelassen. Der Arme trug nämlich keinen Mentalschirm.

Bazooka-Barbie schnurrte noch ein “See you, baby”, dann wurde es stumm im Mod. Benghlas Kontakte waren angewiesen, bei Anrufen die Originalstimme durch einen Vokalmodulator zu schicken, um Mithörern von CIA und FBI ihre Identität nicht zu offenbaren. Auch Hinweise auf ihre Identität durch Nennung von Namen oder anderen relevanten Details waren tabu. Bei den meisten Anrufen ging es ohnehin nur um die Festlegung eines Dates. Dass Abhöre stattfand, war sicher. Denn Benghla galt den amerikanischen Behörden als undurchsichtig. Benghla war eine freie Mitarbeiterin der CIA, der man ein Doppelspiel zutraute. Sie lokalisierte konventionelle CIA-Beschatter telepathisch. Mit Astralüberwachern wollte man sie erst gar nicht ärgern. Am Mod sprach sie nur Unverdächtiges. Am Mod gab sie die heilige Hure – ohne politische Ambitionen. Die Abhöre blieb dementsprechend fruchtlos. Ihre namenlosen Anrufer waren Herren und Damen aus der Film-, Wirtschafts- und Politszene. Benghla bediente beide Geschlechter. Benghla bediente die Kategorien Schön, Reich und Mächtig.

Und Benghla hasste ihren Vater.

Den Präsidenten der USA.

Aber sie liebte Khaysang Dargye.

Den vielleicht mächtigsten Mutanten der Erde.

Sie sah auf die Uhr. Joost Tiedemans würde gleich kommen. Er hatte brisante Neuigkeiten angedeutet und sie gebeten, den Abend von anderen Besuchen freizuhalten. Benghla warf nochmals einen Blick in den riesigen ovalen Wandspiegel, der in einen Barockrahmen gefasst war. Mit dem platinblonden Haar und den rotbemalten sinnlichen Lippen wirkte sie wie eine Reinkarnation der Marilyn Monroe – nur viel perfekter. Die Proportionen und die Modellierung ihres nackten Körpers offenbarten eine Kunstfertigkeit der Natur, die kein Wissenschaftler würde jemals erklären können. Die Blässe ihrer Haut strahlte eine beinahe physisch wahrnehmbare Aura aus, die durchtränkt war von der Energie der Kundalini. Die Linien, die ihre Glieder und Kurven zeichneten, wenn sie tanzte, waren eine Inkarnation der vedischen Symbolik für jene, die sahen. Model- und Filmverträge hatte sie schon dutzendfach ablehnen müssen – CIA-Verbot.

In einer Ecke ihres weitläufigen Salons lag ihr seidener Morgenmantel, den sie sich vom Körper gezogen und dort hinübergeworfen hatte, als der Anruf von Bazooka kam. Sie telefonierte mit ihren Lovern gerne nackt und betrachtete sich dabei im Spiegel – das war eines ihrer selbstverliebten Spiele. Ihr Schlafzimmer war erst recht ein Spiegelkabinett der Extraklasse, das in Los Angeles und weit darüber hinaus legendären Ruf besaß. Während sie in den Morgenmantel schlüpfte, ertönte die Melodie von Mendelssohns Sommernachtstraum-Ouvertüre: Tiedemans stand vor der Tür. Den Bodyguard an der Toreinfahrt ihrer Villa am südlichen Rand von Beverly Hills hatte sie angewiesen, bei Tiedemans auf die üblichen Sensorchecks zu verzichten. Sie wollte ihn nicht unnötig verärgern – er war im Moment zu wichtig für sie. Er war einer der Pfeiler einer sehr kompliziert konstruierten Brücke zu Kai.

Tiedemans gehörte zu den Top-20-Filmkomponisten Hollywoods. Benghla hatte den Holländer vor einem Jahr kennengelernt und telepathisch herausgefunden, dass er ein freier Mitarbeiter jenes arabischen Geheimdienstes war, den man hierzulande ´Special Force for Secret Operations´ nannte – die SSO. Die Arabs hatten seine Dienste gekauft, indem sie ihm ein sündteures Studio finanzierten, dessen Kapazitäten ihm erlaubten, für einige erfolgreiche Movies die Scores zu produzieren.

Die Arabs trugen auch Sorge für regelmäßige finanzielle Zuwendungen. Schnell hatte Benghla erkannt, dass er seinerseits über ihre Liaison mit der CIA in Kenntnis gesetzt worden war und gezielt eine Verbindung zu ihr suchte, primär im Auftrag der SSO, sekundär aus naheliegenden sexuellen Motiven. Die SSO hatte Verwendung für Benghla. Es ging um Kai. Die SSO wusste erstens, dass sie den Tibeter liebte. Zweitens, dass sie den amerikanischen Präsidenten hasste. Letzteres könnte sich, so dachten die Inder, bei ihrer Rekrutierung für Khors Sache als förderlich erweisen. Also hatten sie Benghla einen Deal vorgeschlagen: du gibst dein O.k., wenn die CIA deine Meinung über unseren Überläufer einholt, und wir sorgen dafür, dass du deinen Geliebten wieder in die Arme schließen kannst. Wir sorgen auch dafür, dass dein Vater den Lohn erhält, den er sich vor zwölf Jahren unredlich verdient hat.

Präsident Carlyle hatte ihre Mutter vor zwölf Jahren töten lassen.

Benghla plante schon lange, ihn dafür fertigzumachen.

Wenn die Zeit reif war.

Und die Zeit war reif.

Die Inder würden diesen Job übernehmen. Eine Verbindung zu ihr wäre nicht nachweisbar. Auch nicht zu den Indern. Man würde einen Nobody dazwischenschalten. Frei nach dem Strickmuster Kuba / Oswald / Kennedy.

Tiedemans trat ein. Er war eine stattliche Erscheinung – durchaus jemand, dem sie unter anderen Umständen ihr Schlafzimmer geöffnet hätte. Nicht aber unter den Umständen, die sie beide zusammengeführt hatten. Hinter ihm erhob sich – überlebensgroß – Kai. Hinter ihm standen auch die Arabs. Was ad hoc nützlich war für Benghla, aber alles andere als ein Grund zur Freude. Tiedemans hatte das bei der ersten Begegnung gespürt und fortan zu jedem Date ein Geschenk mitgebracht, teuren Schmuck oder seltenen kostbaren Wein. Er wollte sie natürlich rumkriegen. Aber sie wollte das nicht.

Er nahm auf einem der vielen Sofas in ihrem Salon Platz. Neben ihm stand eine lebensgroße Bronzestatue der Venus von Botticelli, ein Spätwerk des Bildhauers Nikolai Tregor, das ein Filmmogul vor zwanzig Jahren erworben und kürzlich an Benghla verschenkt hatte – für ihre Liebenswürdigkeit.

“Ich bin immer wieder erstaunt”, sagte Tiedemans und ließ seinen Blick über die Ausstattung ihres Salons schweifen, “wie du es mit deinen fünfundzwanzig Jahren schon soweit bringen konntest.”

“Locatelli”, rief Benghla, ohne auf seine Äußerung einzugehen. Aus unsichtbaren Lautsprechern erklang ein Allegro des italienischen Barockkomponisten. Benghla liebte alte Musik. Sie setzte sich neben Tiedemans – ans andere Ende des Sofas. Sein Blick streifte unwillkürlich ihre Schenkel, die der verrutschte Morgenmantel freigab. Er machte mit einem hochgestreckten Zeigefinger eine kreisende Bewegung und sah sie dabei an.

“Kein Problem, Joost. Meine Leute überprüfen das Haus täglich auf unerwünschte Elektronik. Alle Fensterscheiben sind gegen akustische Fernsensoren neutralisiert. Außerdem registriere ich, wie du weißt, astrale Aktivitäten in der Umgebung sowie telepathische Annäherungen instinktiv. Wir sind hier also sicherer als eine Nymphe auf dem Schoß des Papstes.”

“Ob das reicht?" Er grinste kurz. "Ich habe aktuelle Informationen über unser Projekt. Kai wird bald über dein neuerliches Interesse an ihm im Bilde sein.”

“Ich habe ohne Unterbrechung Interesse an ihm, seit ich denken kann.”

Sie zog ihren Morgenmantel zurecht, um ihre Oberschenkel abzudecken. Ihr Blick fiel auf Tiedemans´ Halskette. Eine Spezialanfertigung der SSO, eine elektronische Psi-Sperre, die einen antitelepathischen Schutz um Tiedemans errichtete. Ein Mentalschirm. Das minderte Benghlas Möglichkeit, seine Signale zu analysieren, allerdings nur teilweise. Es machte sie verschwommener, aber nicht gänzlich unlesbar.

“Selbstverständlich”, erwiderte er beschwichtigend.

“Entschuldige bitte. Ich fasse erst einmal zusammen, was dir schon bekannt ist: der Überläufer aus Ägypten”, – er grinste nochmals, wurde aber sofort wieder ernst – , “hatte unseren Agentenführer Lin an die große Glocke gehängt, nachdem du die Freundlichkeit hattest, ihm der CIA gegenüber Integrität zu bescheinigen.”

Sie bemühte sich um ein Pokerface. Dieser Betrug an der CIA war ein Spiel mit dem Feuer. Nur widerstrebend hatte sie in diese Abmachung eingewilligt. Das Angebot der SSO war einfach zu verlockend gewesen. Benghla hatte Landesverrat begangen. Nachweisbar wäre dieser allerdings kaum. Ghali hatte eine Sonderbegabung, die ihm über die anderen Tests hinweggeholfen hatte – darauf würde sie im Bedarfsfall verweisen. Allerdings hatte sie telepathisch bei Ghali Divergenzen erkannt.

“Lin schluckte eine Selbstmordkapsel”, fuhr Tiedemans fort. “Dieser Verlust ist bedauerlich, festigt aber die Glaubwürdigkeit des Überläufers. Kurz darauf arretierte die CIA Lins COAX-Agentin.”

Benghla zuckte die Schultern. Um ihn herum sah sie, wie einen filigranen Schleier aus Regenbogenfarben, seine eiförmige mentale Aura. Sie öffnete sich für die Bilder und Farben an deren Peripherie nur so weit, um zu kontrollieren, ob Worte und Gedanken übereinstimmten. Wäre das nicht der Fall, käme es im unteren, nur trübe irisierenden Drittel des Ovals zu Turbulenzen und etwa auf Höhe des oberen Viertels zu Verdüsterungen eines breiten purpurroten Streifens, der sich horizontal um die Hülle herum zog. Andere Streifen oberhalb des unteren Drittels schimmerten in Violett, Blau, Geld und Grün. Tiedemans` Mentalschirm beeinträchtigte nur die Schärfe all dieser visuellen Daten, blockierte sie aber nicht.
“Vorgestern hat Barnes in Shanghai eine Spur verfolgt, die er durch die Recherchen der Chinesin aufnehmen konnte, und den Standort des Labors in Erfahrung gebracht. Er hat auch Kai entdeckt, ohne selbst entdeckt zu werden.”

“Barnes ist ein Ass”, warf sie ein.

“Das ist er. Unsere ganze Planung fußt ja darauf. Wir rechnen damit, dass die CIA in den nächsten 24 Stunden mit dir in Verbindung tritt, um die Botschaft an Kai abzuklären. Mein Gewährsmann sagte, dass die Entscheidung, dich um deine Teilnahme zu bitten, gestern nachmittag fiel. Der erste, der diese Möglichkeit angesprochen hatte, war erwartungsgemäß Barnes. Er kennt dich ja.”

Benghla nickte. Sie neigten allerdings dazu, sich aus dem Weg zu gehen.

“Der CIA-Kontaktmann meines Gewährsmannes”, sagte Tiedemans, “hatte diese Idee dann aufgegriffen und autorisiert. Er hätte die Idee natürlich von sich aus präsentiert, wäre ihm Barnes nicht …" - er markierte zwei Anführungszeichen - "… zuvorgekommen.”

Der Holländer kannte nicht den Namen dieser Kontaktperson. Er wusste nicht einmal, ob der Mann von der CIA von der Drahtzieherschaft der SSO in Kenntnis war. Benghlas Telepathie würde in diesem Punkt jedenfalls nichts Konkretes zutage fördern. Aber sie vermutete, dass jener Kontaktmann McCosh war. Er hatte öfters Operationen von Barnes geleitet. Benghla vermutete, dass die SSO ihn als unwissentlichen Handlanger benutzte. Den Namen seines Gewährsmannes schien er gleichfalls nicht zu kennen, nur seinen Codenamen und sein Äußeres. Benghla hatte den verschwommenen mentalen Bildern aber keine ihr bekannte Person zuordnen können. Vielleicht verstellte der Gewährsmann bei Treffs mit Tiedemans sein Aussehen, eben weil der Holländer mit einer Telepathin in Verbindung stand.

“Die Kontaktaufnahme mit Kai steht bevor?” fragte sie.

“Ja.”

Sie hatte aus Höflichkeit gefragt, denn seine Gedanken verrieten es auch so. Bald würde Kai also von ihr hören. Dass er ihre Botschaft mit der gleichen Freude vernehmen würde, die sie jetzt empfand, stand außer Zweifel. Dafür kannte sie ihn zu gut. Die Energien des Universums würden wie ein Tsunami hochpegeln und die Welt überfluten, wenn sie sich wieder begegneten und liebten.

“Es gibt allerdings eine unerwartete Modifikation in der CIA-Strategie”, fuhr er fort. Sie horchte auf. Es ging, das spürte sie sogleich, um eine attraktive Frau, die an der nächsten Astraloperation teilnehmen würde.

“Die chinesische Agentin?” platzte sie heraus und verriet damit, dass Tiedemans` Mentalfeld für sie ziemlich offen lag.

“Ja. Die CIA setzt auf ihre erotische Anziehungskraft und ihre allgemeine Eignung für Geheimoperationen und hat sie für dieses Projekt rekrutiert. Sie ist in dieser Sache als operative Partnerin von Tango Barnes eingeplant und wird gegenwärtig für astrale Einsätze geschult.”

Benghla bemühte sich, keine Anzeichen von Nervosität zu zeigen. Tiedemans` mentale Bilder – Phantasien über die Chinesin, die er persönlich nicht kannte, die aber das über sie Gehörte reflektierten – verrieten nur zu deutlich, dass ihre erotische Qualität nicht gerade unerheblich war. Der Instinkt des Rivalisierenmüssens wurde in Benghla wach – das hatte jetzt gerade noch gefehlt. Gleichzeitig schalt sie sich eine kindische Närrin, die schon zittrig wurde, wenn eine zweite Frau die Bühne betrat. Hatte sie das nötig, verdammt?

Danke für’s Teilhabenlassen

Liest sich wirklich gut. Deinen Stil hast du ja schon gefunden. Viel Glück damit. :slight_smile:

Schnelle Handlungsabläufe und sehr unterhaltsam. Eine interessante Geschichte. Viel Glück damit.