Hallo zusammen.
Es wird sicher gestattet sein, Metaphers von ihm selbst kürzlich verlinkte Arbeit über „Zeitbegriffe“ zur Diskussion zu stellen, zumal sie auch Teil einer Buchveröffentlichung war.
Ich gebe den Link ganz unten an.
Es geht mir, wie schon in der direkten Antwort an den Autor, um das im Text ungeklärte Verhältnis zwischen zwei Typen von „Indifferenz“, die der Autor so darstellt, als seien sie gar nicht zwei Typen, sondern Varianten eines einzigen Typs, den er eben „Indifferenz“ nennt.
Diese Typen sind a) die archaischen „Urwelt“-Vorstellungen und b) die philosophischen „Urgrund“-Ideen des Daoismus, des Neuplatonismus, Meister Eckharts und Hegels.
Auf den Punkt gebracht behaupte ich, dass der Autor auf diese Weise so grundverschiedene Bereiche wie Mythos und Mystik indifferenziert in einen Topf wirft. Mythos fällt für mich allerdings unter „primitives Denken“, während Mystik ein sehr hochentwickeltes Konzept ist.
Zunächst der Autor (Zitate kursiv):
(U = Urwelt vor der Schöpfung)
Die Charakteristik von U finden wir am vollständigsten in der Theologie der ägyptischen Stadt Hermopolis (Schmun, das heutige Aschmunen), wo sie in vier Aspekten dargestellt wurde…
(es folgen die Merkmale von U, Anm. Chan)
1. nun, Wasser, oder schlammartiges Wasser: undifferenzierte Proto-Materie
2.kek, Finsternis: Unbestimmtheit
3. heh, Grenzenlosigkeit als Weite, Horizontlosigkeit. Auch als Wind-Hauch
4.niu, Grenzenlosigkeit als Leere, Gegenstands- oder besser Ortlosigkeit.
Etwa 2 Seiten später kommt der Autor zu weiteren Beispielen von „Indifferenz“-Konzepten und nennt das Daodejing, Meister Eckhart, Plotin und Hegel:
Es gibt jedoch auch alte Sakraltexte, in denen die kosmogonische Problematik explizit behandelt wurde (…) als Beispiele wären zu nennen (…) das Daodejing (Tao Te King) des Laozi … („dao bringt Eins hervor, Eins bringt Zwei hervor“)… Das Ewige als ’immer jetzt‛ begriffen findet sich ja auch hinreichend oft in der europäischen Philosophiegeschichte, so bei Plotin, Meister Eckehart, dann wieder bei Hegel…
Der dann folgende Satz zeigt, dass der Autor alle genannten Konzepte/Denker wirklich unter einem gemeinsamen Aspekt (Indifferenz) einordnet und behandelt:
Die sehr vielgestaltige Art und Weise der Darstellung des kosmogonischen Aktes als Hervorbringen ’aus sich‛ (…) hier im Einzelnen zu erläutern, ist nicht möglich (…)
Meine Einwände sind folgende:
Die mythisch-archaische Urwelt, wie z.B. vom Autor am ägyptischen Beispiel charakterisiert, ist materialistisch. Sie verarbeitet empirisches Material (Wasser, Schlamm, Finsternis, Wind) und strickt daraus ein symbolisches Urszenario vor aller Schöpfung.
Der Urgrund der Mystik aber ist geistig und nicht-symbolisierbar. Er ist nicht einmal „indifferent“ im Sinn von Sich-selbst-Gleichheit. Er hat eigentlich überhaupt keine Merkmale, auch nicht das der absoluten Einheit.
Plotin:
Das Hen (das Eine) gilt weder als verschieden noch als identisch mit dem Andern, das von ihm hervorgebracht wird. Wäre es z.B. von der Materie verschieden, wäre es nicht das Eine. Man kann es also nicht wirklich in die Kategorie „Indifferenz“ einordnen.
Eckhart:
Die „Gottheit“ (der Urgrund, nicht „Gott“) ist nur negativ bestimmbar, sie hat ebenfalls keine Merkmale, die sie von anderem abgrenzen würde. Auch das widerspricht der mythischen Urwelt, die sich laut Autor von der zeitlich-materiellen Welt unterscheidet.
Hegel:
Ein konsequenter Verfechter der Nicht-Einheit des Absoluten. Hier ist der Urgrund (das Absolute) nicht in sich indifferent, sondern in einer komplizierten Weise zugleich identisch (mit sich) und nicht-identisch (mit sich). Er nennt das die „Identität der Identität und der Nichtidentität“. Die Differenz ist im Nichtdifferenten enthalten. Auch das widerspricht der Urwelt-Darstellung des Autors, der die Urwelt in Gegensatz zur geschichtlichen Welt setzt. Die Vorstellung eines mit sich identischen Urgrunds nennt Hegel, Schelling kritisierend, die „Nacht der schwarzen Kühe“, welche an die ägyptische finstere Urwelt erinnert, wie sie der Autor darstellt.
Daoismus:
Hier wird der Urgrund von den meisten Interpreten als „geistig“ charakterisiert. Da das Dao das Eine hervorbringt und dieses das Zweite, muss auch das Dao als „weder selbstidentisch noch nicht-selbstidentisch“ betrachtet werden. Es auf reine Indifferenz zu reduzieren, macht wenig Sinn. Ebenso macht es wenig Sinn, es in einem Atemzug mit dem archaischen Urwelt-Mythos zu nennen.
Ok, das wurde etwas lang, ließ sich aber nicht kürzer präsentieren. Wahrscheinlich wird nicht allen Lesern die Brisanz der Themenstellung einleuchten.
Chan
Quelle: