Mütter in der Leere
Als begleitender Kommentar empfiehlt sich natürlich auch:
Bd.III der textkritischen „Hamburger Ausgabe“, die von Erich Trunz hervorragend kommentiert wurde. Davon gibt es (oder gab es, ich hab sie jedenfalls) eine Sonderausgabe München 1986 bei der Beck’schen.
ISBN 3406312349 Buch anschauen
Aber zu den Müttern gibt es da nicht viel.
Da Goethe ja ein hervorragender Kenner besonders der griechischen Mythologie war (und das ganze ja sowieso aufs alte Griechenland fokussiert ist), lese ich die Mütter als eine eigene Komposition Goethes, zusammengesetzt aus zahlreichen Mythemen, die sich um an der Schöpfung beteiligten und schicksalbestimmenden Göttinnen ranken. Dazu findet sich einiges in orphischen und eleusischen Mysterien (sophia) als die schöpferische Ideengeberin), aber immer auf einzelne Gestalten bezogen, nicht auf eine abstrakte Vielheit.
Auf einen nicht schon bekannten Mythos deuten imho die Passagen 6265 ff hin:
_faust
Den Müttern! Trifft’s mich immer wie ein Schlag!
Was ist das Wort, das ich nicht hören mag?
mephistopheles
Bist du beschränkt, daß neues Wort dich stört?
Willst du nur hören, was du schon gehört?
Dich störe nichts, wie es auch weiter klinge,
Schon längst gewohnt der wunderbarsten Dinge._
Ferner beschreiben folgende Zeilen ein Ambiente, in dem sich die Mütter aufhalten, das offenbar dem Mephisto nicht fremd ist, mit dem er aber auch nicht gerade auf gutem Fuße steht: Hier kommt auch er an eine Grenze: Die absolute Leere, das Nichst, findet sich zwar in ägyptischen Schöpfungsmythen, es steckt aber auch im griechischen Begriff des chaos, das sein Analogon im gap ginnunga („gähnende Kluft“) der Edda hat. Auch in der Gnosis deuten sich solche Ideen an (kann da aber im Augenblick nichts finden).
6212 ff
_mephistopheles
Ungern entdeck’ ich höheres Geheimnis.
Göttinnen thronen hehr in Einsamkeit,
Um sie kein Ort, noch weniger eine Zeit;
Von ihnen sprechen ist Verlegenheit.
Die Mütter sind es!
faust
Mütter!
mephistopheles
Schaudert’s dich?
faust
Die Mütter! Mütter! - 's klingt so wunderlich!
mephistopheles
Das ist es auch. Göttinnen, ungekannt
Euch Sterblichen, von uns nicht gern genannt.
Nach ihrer Wohnung magst ins Tiefste schürfen;
Du selbst bist schuld, daß ihrer wir bedürfen.
faust
Wohin der Weg?
mephistopheles
Kein Weg! Ins Unbetretene,
Nicht zu Betretende; ein Weg ans Unerbetene,
Nicht zu Erbittende. Bist du bereit? -
Nicht Schlösser sind, nicht Riegel wegzuschieben,
Von Einsamkeiten wirst umhergetrieben.
Hast du Begriff von öd’ und Einsamkeit?_
Das (irgendwie gnostisch klingende) Zusammenfallen von Leere und schöpferischer Kraft ist erkennbar in:
62250 ff
faust
Du sprichst als erster aller Mystagogen,
Die treue Neophyten je betrogen;
Nur umgekehrt. Du sendest mich ins Leere,
Damit ich dort so Kunst als Kraft vermehre;
und daran ist imho unbedingt das mephistophelische
ein Teil von jener Kraft,
die stets das Böse will und stest das Gute schafft
anzuschließen.
Witr befinden uns hier also in noch größerer Tiefe, wo die Ununterschiedenheit von Idee und Realität und von Gut und Böse noch radikaler gilt, als es Mephisto zugänglich ist.
Die Tatsachen, daß die Mütter ihrerseits nur „Schemen“ wahrnehmen können, aber keine materielle Gestalt, und daß die aus dieser Tiefe entwendeten Gestalten der Helena und Paris nur Bilder sind, die bei ihrer Realitätsprüfung (Berührung) zu Nichts zerfallen, zeigt auch, daß wir uns hier in einer kreativen Welt der Leere vor der Schöpfung der materiellen Gestalten befinden. Eine Assoziation an die orphische sophia liegt hier nahe, ebenso an die (analoge) hebräische chokma und die kabbalistische schekinah. Daß alle diese Gestalten auch als Mütter bezeichnet werden, ist ja bekannt.
Dazu, daß sie bei Goethe ein Pluralität sind, hab ich auch keine Idee. Vielleicht wäre hierzu zu studieren, wie Faus es später schafft, die reale Helena in die Welt zu holen …
Daß man für den Gang in Unterwelt einen Schlüssel braucht, wissen wir u.a. von Homer (der Mistelzweig des Odysseus).
Gruß
Metapher