Mythologie im Faust II

Hallo,

ich hätte auch in „Literatur“ oder in „Feminismus“ posten können, aber das Thema hat ja auch philosophische Aspekte. Ich habe im Moment leider keinen Faustkommentar zur Hand, der meine Frage beantworten würde.

Gibt es für die „Mütter“ im Faust Vorbilder, welche sind das und welche mythologische Funktion kann ihnen zugeschrieben werden?

Vielen Dank im Voraus.

Herzliche Grüße

Thomas Miller

Mütter im Faust II
Hi Thomas

Gibt es für die „Mütter“ im Faust Vorbilder, welche sind das
und welche mythologische Funktion kann ihnen zugeschrieben
werden?

Sei mal so nett und gib ein paar Stellen durch. Faust II ist kompliziert und ich kann ihn nicht auswendig *g* (obwohl vielfach seminarmäßig beackert).

Generell sind die Mütter im Faust an Persephone/Proserpina, Hekate, Demeter assoziiert, aber auch an die Moiren und auch an die Erinyen (Siehe auch der Dreifuß).

Also an die Unterweltsgestalten, die zugleich Träger der Weisheit sind …

Gruß (preliminary)

Metapher

Hallo Metapher,

Sei mal so nett und gib ein paar Stellen durch.

kein Problem:
Faust II, 1. Akt
http://projekt.gutenberg.de/goethe/faust2/2faus013.htm
(d. i. 6173 ff.) und
http://projekt.gutenberg.de/goethe/faust2/2faus014.htm

Nach der Erfindung des Papiergeldes für den Kaiser zieht Mephisto Faust in die „Finstere Galerie“ und eröffnet ihm, dass er für das versprochene Amüsement einen Schlüssel braucht, den er bei den „Müttern“ bekommt. Dann (6427 ff.) zaubert er mit Hilfe des Schlüssels Helena und Paris hervor, aber das Bild verschwindet bei Berührung (6563).

Generell sind die Mütter im Faust an Persephone/Proserpina,
Hekate, Demeter assoziiert, aber auch an die Moiren und auch
an die Erinyen (Siehe auch der Dreifuß).
Also an die Unterweltsgestalten, die zugleich Träger der
Weisheit sind …

Persephone taucht später im Text irgendwo auf (aber ich meine, nicht im Zusammenhang mit den Müttern), die anderen meiner Erinnerung nach nicht.

Nun stellt sich mir die Frage, nach dem mythologischen Vorbild dieser „Mütter“, denen ja - wie aus dem Text hervorgeht - ein besonderer Rang zukommt - eine Art „Schlüssel“-Gewalt. Ich bin mythologisch nicht sehr fest, weshalb ich für umfangreiches Material dankbar wäre, wobei natürlich der Hinweis auf Stellen im Netz genügen würde.

Herzliche Grüße

Thomas

Nun

Hi,

erst mal einige Literaturtipps nach Kramen in meinen alten Seminararbeiten:

Schlaffer, Heinz: Faust Zweiter Teil. Die Allegorie des 19. Jahrhunderts. Stuttgart: J. B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung, 1981. Schlaffer ist Klasse. Gibt’s bestimmt auch in neuerer Auflage.

Arens, Hans: Kommentar zu Goethes Faust II. Beiträge zur neueren Literaturgeschichte. Folge 3. Bd. 86. Heidelberg: Carl Winter Universitätsverlag, 1989. Sozusagen ein Rundumschlag zu Faust.

Jetzt etwas weniger fundiert zu den „Müttern“: Mir kommen dabei immer die Nornen, die nordischen Schicksalsgottheiten, und ihre bereits erwähnten griechischen und römischen Entsprechungen, die Moiren und Parzen, in den Sinn. (Letztere beiden Gruppen passen wohl besser zum Faust II, weil in ihm nicht mehr die Romantik (Mittelalter) sondern die Klassik (Antike) den Schwerpunkt bildet.) Das sind drei alte Frauen, die das Schicksal sehen und bestimmen. Ihnen müssen sich sogar die Götter beugen. In dieses Bild würde Mephistos Angst vor den „Müttern“ passen. Er ist zwar kein Gott, aber doch eine mächtige übernatürliche Wesenheit. Aber in den genannten Büchern, vor allem im Schlaffer steht da garantiert mehr zu drin.

Gruß,

Volker

Hallo Volker,

Schlaffer
Arens

danke schön für die Literaturhinweise. Ich habe hier einige Probleme mit der Beschaffung, die man sich vielleicht in Niedersachsen nicht vorstellen kann :smile: , aber einen Versuch ist es allemal wert. Ich habe aus meiner Münsteraner Zeit vor allem ältere Faustkommentare in Erinnerung, die ich aber bezüglich des Mütter-Problems eben nicht befragen kann aufgrund der Beschaffungsprobleme. Trotzdem schönen Dank, vielleicht bekomme ich die Werke ja doch irgendwie in die Finger.

Jetzt etwas weniger fundiert zu den „Müttern“: Mir kommen
dabei immer die Nornen, die nordischen Schicksalsgottheiten,
und ihre bereits erwähnten griechischen und römischen
Entsprechungen, die Moiren und Parzen, in den Sinn.

Das ist interessant, da kann ich noch ein wenig literarisch forschen. Danke schön.

Herzliche Grüße

Thomas Miller

Mütter in der Leere
Als begleitender Kommentar empfiehlt sich natürlich auch:
Bd.III der textkritischen „Hamburger Ausgabe“, die von Erich Trunz hervorragend kommentiert wurde. Davon gibt es (oder gab es, ich hab sie jedenfalls) eine Sonderausgabe München 1986 bei der Beck’schen.
ISBN 3406312349 Buch anschauen

Aber zu den Müttern gibt es da nicht viel.

Da Goethe ja ein hervorragender Kenner besonders der griechischen Mythologie war (und das ganze ja sowieso aufs alte Griechenland fokussiert ist), lese ich die Mütter als eine eigene Komposition Goethes, zusammengesetzt aus zahlreichen Mythemen, die sich um an der Schöpfung beteiligten und schicksalbestimmenden Göttinnen ranken. Dazu findet sich einiges in orphischen und eleusischen Mysterien (sophia) als die schöpferische Ideengeberin), aber immer auf einzelne Gestalten bezogen, nicht auf eine abstrakte Vielheit.

Auf einen nicht schon bekannten Mythos deuten imho die Passagen 6265 ff hin:

_faust
Den Müttern! Trifft’s mich immer wie ein Schlag!
Was ist das Wort, das ich nicht hören mag?

mephistopheles
Bist du beschränkt, daß neues Wort dich stört?
Willst du nur hören, was du schon gehört?
Dich störe nichts, wie es auch weiter klinge,
Schon längst gewohnt der wunderbarsten Dinge._

Ferner beschreiben folgende Zeilen ein Ambiente, in dem sich die Mütter aufhalten, das offenbar dem Mephisto nicht fremd ist, mit dem er aber auch nicht gerade auf gutem Fuße steht: Hier kommt auch er an eine Grenze: Die absolute Leere, das Nichst, findet sich zwar in ägyptischen Schöpfungsmythen, es steckt aber auch im griechischen Begriff des chaos, das sein Analogon im gap ginnunga („gähnende Kluft“) der Edda hat. Auch in der Gnosis deuten sich solche Ideen an (kann da aber im Augenblick nichts finden).

6212 ff
_mephistopheles
Ungern entdeck’ ich höheres Geheimnis.
Göttinnen thronen hehr in Einsamkeit,
Um sie kein Ort, noch weniger eine Zeit;
Von ihnen sprechen ist Verlegenheit.
Die Mütter sind es!

faust
Mütter!

mephistopheles
Schaudert’s dich?

faust
Die Mütter! Mütter! - 's klingt so wunderlich!

mephistopheles
Das ist es auch. Göttinnen, ungekannt
Euch Sterblichen, von uns nicht gern genannt.
Nach ihrer Wohnung magst ins Tiefste schürfen;
Du selbst bist schuld, daß ihrer wir bedürfen.

faust
Wohin der Weg?

mephistopheles
Kein Weg! Ins Unbetretene,
Nicht zu Betretende; ein Weg ans Unerbetene,
Nicht zu Erbittende. Bist du bereit? -
Nicht Schlösser sind, nicht Riegel wegzuschieben,
Von Einsamkeiten wirst umhergetrieben.
Hast du Begriff von öd’ und Einsamkeit?_

Das (irgendwie gnostisch klingende) Zusammenfallen von Leere und schöpferischer Kraft ist erkennbar in:

62250 ff
faust
Du sprichst als erster aller Mystagogen,
Die treue Neophyten je betrogen;
Nur umgekehrt. Du sendest mich ins Leere,
Damit ich dort so Kunst als Kraft vermehre;

und daran ist imho unbedingt das mephistophelische

ein Teil von jener Kraft,
die stets das Böse will und stest das Gute schafft

anzuschließen.

Witr befinden uns hier also in noch größerer Tiefe, wo die Ununterschiedenheit von Idee und Realität und von Gut und Böse noch radikaler gilt, als es Mephisto zugänglich ist.

Die Tatsachen, daß die Mütter ihrerseits nur „Schemen“ wahrnehmen können, aber keine materielle Gestalt, und daß die aus dieser Tiefe entwendeten Gestalten der Helena und Paris nur Bilder sind, die bei ihrer Realitätsprüfung (Berührung) zu Nichts zerfallen, zeigt auch, daß wir uns hier in einer kreativen Welt der Leere vor der Schöpfung der materiellen Gestalten befinden. Eine Assoziation an die orphische sophia liegt hier nahe, ebenso an die (analoge) hebräische chokma und die kabbalistische schekinah. Daß alle diese Gestalten auch als Mütter bezeichnet werden, ist ja bekannt.

Dazu, daß sie bei Goethe ein Pluralität sind, hab ich auch keine Idee. Vielleicht wäre hierzu zu studieren, wie Faus es später schafft, die reale Helena in die Welt zu holen …

Daß man für den Gang in Unterwelt einen Schlüssel braucht, wissen wir u.a. von Homer (der Mistelzweig des Odysseus).

Gruß

Metapher

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Das ist interessant, da kann ich noch ein wenig literarisch
forschen. Danke schön.

Bitte schön!

Was ich vorhin noch vergessen hatte: Auf einer anderen Ebene könnten die „Mütter“ auch ein Beitrag Goethes zur Diskussion einer wissenschaftlichen Theorie über ein matriarchalische Frühkultur bzw. einen Allmutter-Glauben sein. Ich habe mich damit nie näher befasst, aber im Kern geht es in der Theorie iirc wohl darum, dass der vorzeitliche (vielleicht sogar steinzeitliche) Allmutter-Kult bis in die antiken Kulturen (Gaia) und über die Marien-Verehrung sogar bis ins Christentum hinein gewirkt habe. In dieser Vorstellung würden sich dann Mephistos „höheres Geheimnis“ finden (die Göttinnen als Vorgänger der Glaubenswelt, aus der auch er stammt).

Auch für
„Das Heidenvolk geht mich nichts an,
Es haust in seiner eignen Hölle;
Doch gibt’s ein Mittel.“
wäre das eine Erklärung: Der Allmutter-Glaube als gemeinsame Grundlage für antike und christliche Glaubenswelt, mithin für den romantischen Mephisto die einzige Möglichkeit, auf Helena als klassische Gestalt zuzugreifen.

Allerdings kann das auch totaler Quatsch sein, was ich hier geschrieben habe. Ich weiß nämlich erstens nicht, ob ich die Theorie richtig wiedergegeben habe, und zweitens nicht, ob es sie zu Goethes Zeiten schon gegeben hat. Aber vielleicht hat ja jemand Spaß dran, das nachzugoogeln oder nachzuschlagen. Ich bin dafür jetzt auf jeden Fall zu müde.

Gute N8!

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die Große Göttin
Hi Volker

Allerdings kann das auch totaler Quatsch sein, was ich hier
geschrieben habe. Ich weiß nämlich erstens nicht, ob ich die
Theorie richtig wiedergegeben habe, und zweitens nicht, ob es
sie zu Goethes Zeiten schon gegeben hat.

Totaler Quatsch auf keinen Fall. Ich verwies ja unten auch auf diverse mythische und göttliche und unterweltliche Frauengestalten der Antike hin, die sehr große Universaltät und Ähnlichkeit aufweisen (auch in ferner östliche Mythen hinein zu beobachten). Aber diese Dinge sind weitgehend heute erst bekannt und die Theorie der „Weißen Göttin“ ist erst im XX. Jhdt diskutiert worden. Vor allem durch die Publikationen von Ranke-Graves. Und diese ist keine reine Unterweltsgestalt.

Gruß

Metapher

Hallo Metapher,

Aber zu den Müttern gibt es da nicht viel.

eben. Den Trunz-Kommentar kenne ich natürlich. Deine Ausführungen sind aber wie immer hilfreich, zumindest kann ich jetzt weitersuchen unter

in orphischen und eleusischen Mysterien (sophia)

gnostisch klingende Zusammenfallen von Leere und schöpferischer Kraft

orphische sophia
(analoge) hebräische chokma und die kabbalistische
schekinah.

Ich bin mit Kabbala und Gnosis nur oberflächlich vertraut, mit den Mysterien gar nicht - es wird sich wohl nicht umgehen lassen, da noch einmal nachzulesen …

Daß alle diese Gestalten auch als
Mütter bezeichnet werden, ist ja bekannt.

Mir nicht. :smile:

Dazu, daß sie bei Goethe ein Pluralität sind, hab ich auch
keine Idee. Vielleicht wäre hierzu zu studieren, wie Faus es
später schafft, die reale Helena in die Welt zu holen …

Ich schau mal.

Daß man für den Gang in Unterwelt einen Schlüssel braucht,
wissen wir u.a. von Homer (der Mistelzweig des Odysseus).

Auch ein interessanter Ansatz.

Herzliche Grüße

Thomas

Vielleicht sollte man noch kurz anmerken, dass „Unterwelt“ nicht unbedingt „Hölle“ oder „Totenreich“ bedeuten muss. Man könnte die Unterwelt auch als Metapher für „kulturhistorisch tiefere Schichten“, also noch vor der Antike, verstehen.

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