Weder noch. „Lolita“ gehört zu den ganz besonderen, genialen Romanen der Weltliteratur. Die Sprache, der unerschöpflicher Anspielungsreichtum, die Struktur, die psychologische Durchdringung der Hauptfigur und die Darstellung des Millieu sind hochinteressant.
Nabokov war ein hochbegabter, ungewöhnlicher und, wenn man so will, ziemlich skurriler Schriftsteller.
Lolita ist natürlich die Darstellung einer komplexen Missbrauchsgeschichte, teilweise Kriminalroman, eingeschobender Tagebuchroman, Charakterstudie eines sehr gebildeten, sich selbst ironisch reflektierenden, in mehrer Hinsicht gescheiterten Intellektuellen, aber eben auch so etwas wie ein ungewöhnlicher Liebesroman. Auch wenn die Perspektive des Missbrauchsopfers nicht direkt zur Sprache kommt, da der Roman ja in Ich-Form aus der Sicht Humbert Humberts erzählt wird, wird klar, was der Protagonist anrichtet.
Da nur Leser diesen Roman lesen werden, die Freude an komplexer Sprache und Struktur und einen genügend langen Atem haben, wird dieser Roman auch nicht dazu beitragen, schlichte Gemüter zu kriminellem Verhalten zu verführen.
Unübertroffen das Kapitel, in dem Humbert als eine Art Stiefvater im Doppelzimmer eines Hotels eine ganze (für ihn quälend lange) Nacht darauf wartet, dass Lolita vom Schlafmittel betäubt einschläft und er sie missbrauchen kann - immer wenn er denkt, er könne beginnen, hebt sie verschlafen ihren Kopf (der Arzt hatte Humbert wohl irgendwelche wirkungslosen Pillen gegeben), die verschiedenen Geräusche im Hotel (Klospülungen, Fahrstuhl) begleiten seine Gedanken, und als er frustriert sieht, dass die Sonne aufgeht, wacht Lolita auf und schlägt ihm vor, genau das zu tun…