Nimmt die Bereitschaft zum Dialog/Diskurs ab?

Motiviert diese Frage zu stellen hat mich dieser Hinweis auf eine Radiosendung:

http://www.deutschlandfunk.de/ entwicklungen-die-verweigerung-des-dialogs.1184.de.html?dram:article_id=315055

Es geht dem Autor wohl eher um den „abnehmenden“ politischen Dialog.

Doch mir kam sofort die Frage in den Sinn, ob sich dieses Phaenomen auch auf gesellschaftlicher - genauer gesagt: Zwischenmenschlicher Ebene auch so verhaelt.

Ich sagte mal in einer munteren Runde so: Alle reden, keiner hoert zu.

Gemeint hatte ich, dass jede/r etwas loswerden will, aber kaum mehr bereit zu sein scheint, „wirklich“ zuzuhoeren.

Das fuehre ich (ganz unreflektiert) darauf zurueck, dass jede/r mit sich und seinen Problemfeldern (muessen dabei gar keine Probleme sein) so sehr beschaeftigt ist, dass er keine Zeit mehr aufbringen will fuer eine inhaltlich fundierte Auseinandersetzung.

Desweitern - und vielleicht nicht unwichtig -  kommt meiner Erfahrung nach hinzu, dass
ab einem gewissen Alter die Leute ihr Selbst- und WELTbild nicht mehr zur Diskussion stellen wollen, ganz einfach auch wieder deshalb, weil man ja schon viel anderes um die Ohren hat und
keine Lust mehr hat, auch noch „seine“ Wirklichkeitsperzeption auf den Pruefstand stellen zu lassen, denn man hat es sich ja auch „gemuetlich“ damit eingerichtet (auch wenn das „objektiv“ gar nicht stimmen muss).

Habt Ihr Euch schon mal mit diesem Thema „Diskursverweigerung“ beschaeftigt?

Gruss

Mike

Hallo, Multivista,
wenn ich mir manche „Diskussionen“ hier im Forum so ansehe, trifft das durchaus zu. Gleichzeitig aber auch gibt es solche, denen es wichtig ist verstehen zu geben „Es ist zwar alles zum Thema gesagt, aber noch nicht von mir. Aaaalso …“
Sich an Teilaspekten festzubeißen ist ebenfalls genauso beliebt, wie sich an Tippfehlern aufzugeilen.
Aber das alles ist nicht so absolut neu. Das hatten wir in der einen oder anderen Form hier schon Anfang des Jahrtausends.
Gruß
Eckard

Gut, dass der Aspekt angesprochen wird. Zur Klarstellung:

Mir geht es nicht um die Diskurse in FOREN, denn da - gibt es vieles auch zu benamengeln - sind ja schon autoomatisch Leute dabei, die ja diskutieren wollen, also Antworten erwarten und geben.

Ich meine durchaus die Leute in „sozialen Kontexten“,
wie Verwandte, FREUNDE etc.

Denn genau diese machen sich nicht nur rar in persoenlichen Dialogen, ja AUSEINADERSETZUNGEN, sondern eben auch sind das nicht die, die man in Foren gross antrifft. Weil ja auch dort die Gefahr besteht, dass das von mir erwaehnte so muehsam aufgestellte Selbst - und Weltbild dann erschuettert werden koennte…

und gerade einer Welt angesichts zu vieler „Sorgen“ (Familie, Beruf, Welt insgesamt) hat man nicht mehr den Mut oder die Lust zu diskutieren.

Mike

Leider wurde dieses Thema aus dem Brett Psychologie hierher verschoben. Ich finde, es ist ein zutiefst psychologisches thema!!!

Highlights aus

http://www.ardmediathek.de/tv/Essay-und-Diskurs-Deut…

Ein Dialog kommt nur zur Entfaltung, wenn er von dem Wunsch geleitet ist, den anderen auch zu verstehen.

Es gibt unfreiwillige Dialoge, die sich in uns abspielen, ja abspulen: die Zwiesprache mit einem geliebten oder gehassten Menschen in der Vergangenheit (zum Beispiel einem liebevollen oder peinigenden Onkel, Bruder oder Lehrer in der Kindheit und Jugend) oder in der Gegenwart (zum Beispiel mit einem treuen oder aber untreuen Partner).

Dem hehren Ziel gegenseitiger Annäherung gewidmet.
Er ist eine dem literarischen und dem wissenschaftlichen Text ebenbürtige Form, die Erfahrungs- und Erkenntnismöglichkeiten auf eine nur ihr mögliche dialogische Weise vermittelt. Es versteht sich von selbst, dass dabei die Grenzen zwischen Forschung, Wissenschaft und Literatur wenn nicht aufgelöst, so doch aber auf eine produktive Weise überschritten werden können.

Das Zuhören, auf dem jeder Dialog aufbaut, ist also grundsätzlich von sehr labiler Natur und gebunden an eigene Interessen. Ohne Zuhören, Respektieren und Vertrauen und ohne die Anstrengung, die eigene Position zu artikulieren, kommt kein Dialog zustande.

Ein Dialog ist anspruchsvoller und thematisch festgelegter als ein meist sprunghaftes Gespräch. Ein Dialog versteht sich als eine Unterredung, als ein sich vertiefender Austausch von Argumenten mit dem hehren Ziel gegenseitiger Annäherung.

Der Dialog ist eine Kunst, die nur zur Entfaltung kommt, wenn sie von dem Wunsch geleitet ist, den anderen auch in seinen Gefühlen und kulturellen Voraussetzungen zu verstehen.

Wir verstehen einander nicht. Und darauf, gerade darauf und nur darauf, lässt sich aufbauen.

Die Differenz, vielleicht sogar die Anerkennung abgrundtiefer, unüberwindbarer Differenz zwischen Menschen, Kulturen und Religionen ist Grundlage des Dialogs.
Können wir überhaupt verstehen, was uns und was die Anderen zu einem bestimmten Denken und Handeln getrieben hat? Die Tatsache, dass wir uns unterscheiden und uns wechselseitig als merkwürdig, ja als absonderlich vorkommen, ist im Grunde das viel Elementarere, wenn man so will: das Natürlichere als das Gemeinsame.
Es ist sinnvoll, von der Erfahrung der Differenzin unserem persönlichen, sozialen und gesellschaftlichen Leben auszugehen und zu versuchen, ihr etwas von ihrem Makel zu nehmen.

Auf Personen, Gruppen und Gesellschaften lenken wir das um, was wir als Schattenseiten in uns selbst nicht wahrnehmen möchten, vor allem die der menschlichen Natur eigene Unberechenbarkeit. An sie heften wir alles in uns latent vorhandene Misstrauen, das wir auch gegen uns selbst hegen.

Die beiden schwerwiegendsten Hindernisse für das dialogische Aufeinander-Zugehen sind dem Anderen zugefügte Kränkungen und erlittene traumatische Erfahrungen. Das Gift eines jeden Dialogs sind die Kränkungen, die sich die Gesprächspartner willentlich und unwillentlich zufügen. Vergiften Kränkungen schon die private Atmosphäre, dann haben gegenseitige Missachtungen ein noch ungleich stärkeres Gewicht, wenn sich gar die Seele eines ganzen Volkes betroffen fühlt.

Ohne die Einbeziehung des psychologischen Verstehens bleiben die Bemühungen um einen Dialog schwach, wenn nicht sogar chancenlos. Jeder dialogische Austausch findet mit den Mitteln der Sprache statt. Bewusst eingesetzt werden, je nach Temperament und Strategie, Körperhaltung, Gestik und Mimik. Mit diesen vorsprachlichen Äußerungsformen beginnt im Leben eines jeden Menschen die Interaktion mit dem Gegenüber.

Auf dem Boden unserer Verschiedenartigkeiten wächst uns die Aufgabe zu, die verschütteten Schätze, die Zeugnisse unserer Zivilisation, zu der die Dialogbereitschaft in ihrer ganzen Bedrohtheit gehört, auszugraben. Gerade jetzt, wo die im Namen der Religion geführten Kriege alles zu zerstören drohen.

Wir müssen nach tieferen Gemeinsamkeiten zwischen den Kulturen suchen, nach den konstruktiven und kreativen, menschenverbindenden Fähigkeiten, um darauf die Kraft zum Dialog aufzubauen.

Man soll das nicht als idealistisch und romantisch abtun. Denn der Dialog musste immer schon erkämpft werden. Gegen Hass und Aggression. Im Kampf miteinander. Im Streben nach Macht und Vorherrschaft. Den Dialog zu verweigern, ist im Alltag ebenso wie in der Politik Ausdruck einer Notlage oder ein strategisches Mittel.

Der Mensch ist, auch wenn er den Dialog vehement verweigert, im Gespräch mit sich, mit seinen Ängsten, Wünschen und Fantasien, mit einer höheren Instanz (wenn er gläubig ist) oder mit einem abwesenden Gott, der Leere (wenn er ungläubig ist).

In jedem Dialog ist beständig die Differenz zum anderen, zu seinem Leben, seinen Empfindungen, Glaubensvorstellungen und Weltanschauungen gegenwärtig. Kein Dialog geschieht jenseits unüberwindbarer Unterschiede und jenseits überhöhter und enttäuschter Erwartungen, jenseits von Ressentiments und stattgefundenen oder auf der Lauer liegenden Kränkungen.

Der Dialog lebt von den Zerreißproben des Scheiterns, den Abgründen der Differenz.
Darin verbündet sich der Dialog mit dem Diskurs, der auch keine Scheu davor hat, das Abgründige, Unvereinbare und Unmögliche zu benennen und auszuloten.

Die Freundschaft, welche Weisheit nicht knüpft, kann Torheit leicht auflösen.

Von

William Shakespeare

Hallo,

Ich sagte mal in einer munteren Runde so: Alle reden, keiner
hoert zu.

Du gehst den politischen Diskurs persönlich an - aber ich vermute, auch dieser wird von der offiziellen Politik beeinflusst.
Siehst Du da noch Diskussionen, die als Vorbild dienen könnten, ehrlichen Meinungsaustausch mit wahrheitsgemäßen Argumenten?

Gemeint hatte ich, dass jede/r etwas loswerden will, aber kaum
mehr bereit zu sein scheint, „wirklich“ zuzuhoeren.

Das fuehre ich (ganz unreflektiert) darauf zurueck, dass
jede/r mit sich und seinen Problemfeldern (muessen dabei gar
keine Probleme sein) so sehr beschaeftigt ist, dass er keine
Zeit mehr aufbringen will fuer eine inhaltlich fundierte
Auseinandersetzung.

Denkbar, aber:

ab einem gewissen Alter die Leute ihr Selbst- und WELTbild
nicht mehr zur Diskussion stellen wollen,
ganz einfach auch
wieder deshalb, weil man ja schon viel anderes um die Ohren
hat und
keine Lust mehr hat, auch noch „seine“ Wirklichkeitsperzeption
auf den Pruefstand stellen zu lassen, denn man hat es sich ja
auch „gemuetlich“ damit eingerichtet (auch wenn das „objektiv“
gar nicht stimmen muss).

halte ich für wahrscheinlicher. Was politisch „objektiv stimmt“ weiß wohl eh niemand, selbst der BND-Chef verm. nicht. Aber der weiß sicher mehr, als unsereins.

Habt Ihr Euch schon mal mit diesem Thema „Diskursverweigerung“
beschaeftigt?

Sicher, auch ich und meine Bekannten werden älter, Diskussionen, die die Bezeichnung verdienen, immer seltener.
Und, sorry, Männer neigen ohnehin mehr dazu, zu reden, statt Zuzuhören. Womöglich sind Deine Bekannten überwiegend Männer?

Aber mir ist schon in meiner Schulzeit aufgefallen, dass selbst bei „Diskussionen mit belegbaren Argumenten und Zuhörpflicht“ im Unterricht nur sehr wenige Teilnehmer ihre vorherige Meinung änderten.

War außerdem in einem Jugendzentrum mit Selbstverwaltung, die Teilnehmer kamen vom Land, etwa 50/50 Abiturienten und Lehrlinge. Das lief super.
Es wurden konkrete Probleme diskutiert, 10 Tops in 2 Stunden abgehandelt und die Probleme gelöst, Aufgaben deligiert. Fand ich damals normal.

Später, im ebenfalls teils selbstverwalteten Studentenwohnheim, brauchte man 2 Stunden für einen Top, und der war damit oft noch nicht gelöst. Praktischem, zielorientiertem Denken standen etliche überflüssige und langwierige Gespächsbeiträge gegenüber.
Der viel gewünschte und lang diskutierte Parkausweis für den hauseigenen Parkplatz ist letztlich an „Laberköppen“ gescheitert (offiziell an der Farbwahl). Schlimmer als Kindergarten.
An der Uni war es auch nicht toll, nicht bzgl. Politik. Zumal die Engagiertesten immer jene waren, die sich am liebsten selbst zuhörten. Nimm zehn davon und der Tag ist ergebnisslos gelaufen.
Die Anderen waren meist nach einigen solcher Kandidaten entschieden genervt und sahen zu, dass sie Land gewannen und an ein Bier kamen. Nach mehreren Stunden Geschwafel muss man das Hirn irgendwie besänftigen.

Gruß, Paran