Objektive Berichterstattung? (Achtung, sehr LANG!)
Da wollte ich fragen was ihr dazu meint und ob ihr eventuell
ein gutes Beispiel für mich habt das ich nennen kann.
Hallo Vicky,
1.
Objektivität ist ein problematischer Begriff.
Kennst du diesen Werbespot für irgendeine Zeitung (war’s die FAZ?), wo man aus drei verschiedenen Perspektiven dasselbe Ereignis sieht (wenn ich’s richtig zusammenkriege, aber das Prinzip stimmt):
- Einstellung: Eine alte Frau geht ruhig über den Bürgersteig.
- Einstellung: Man sieht einen jungen Mann in Lederjacke hinter ihr herrennen und nach ihrer Handtasche greifen.
- Einstellung: Man sieht, daß der junge Mann nicht nach der Handtasche greift, sondern die alte Frau vor einem herunterfallenden Gegenstand schützt.
Alle drei Perspektiven sind doch „objektiv“ richtig gewesen. Das wirkt im Film natürlich noch viel stärker. Da spielen die Kameraeinstellung und der Schnitt eine wichtige Rolle, ebenso der darüber gesprochene Kommentar. Es gibt einen Fernsehsender, der manchmal „No comment“ ausstrahlt. Wenn man zufällig beide Varianten vergleichen kann, sieht man, was der Kommentar erst ausmacht! Alles, was ich im Film zeige, ist pseudo-objektiv. Es ist Realität, was sie im Fernsehen zeigen, und doch nur ein Blick mit der Scheuklappe.
Oder ein zum Teil erfundenes Beispiel :
Stell dir einen 80-jährigen blinden, fast tauben Rollstuhlfahrer mit einer Herzschwäche vor. Der sitzt in Texas in der Todeszelle und soll in einer Woche hingerichtet werden. Hast du mit dem Mitleid? Wahrscheinlich.
Und wenn ich dir sage, daß es sich um einen eiskalten Ku-Klux-Klan-Mann handelt, der Killer beauftragt, um schwarze Bürgerrechtler und liberale schwule Journalisten umzubringen und 20 Morde auf dem Gewissen hat? Oder vielleicht, daß er ein alter Nazi ist, der in Treblinka tausende von Juden ins Gas geschickt hat oder Menschenversuche zu verantworten? Und der nach dem Krieg mit einer „arisierten“ Chemiefirma Millionen gescheffelt hat?
Das ist jetzt etwas konstruiert, aber nicht ganz unrealistisch.
Denn tatsächlich ist vor zwei Wochen Clarence Ray Allen, ein blinder 76-jähriger Rollstuhlfahrer in Kalifornien nach 23 Jahren Wartens in der Todeszelle, vier Monate nach einem Herzinfarkt, an dem er beinahe gestorben wäre und einen Tag nach seinem Geburtstag hingerichtet worden. Er hat mindestens einen Mord selbst begangen und möglicherweise mehrere andere aus dem Gefängnis heraus angeordnet.
Wo setzt da die Berichterstattung an? Ich kann schon versuchen, objektiv zu sein, indem ich alle mir bekannten Fakten einbaue und versuche, keine Stimmung zu schüren. Aber was ist, wenn ich nicht alle Fakten kenne? Noch schlimmer, wenn ich nicht alle nennen will. Und im Fall der Todesstrafe gibt es ja hauptsächlich Befürworter und Gegner, so daß jeder seinen Bericht so färben wird, wie es ihm paßt. Sehr entscheidend ist dann, womit der Bericht anfängt, was der rote Faden ist, und wie Fakten eingebaut werden, die einem zwar nicht in den Kram passen, die man aber leider nicht übergehen kann.
Und wenn es um eine große Katastrophe, einen Krieg o.ä. geht, ist dann eine nüchterne Berichterstattung überhaupt angemessen? Ist es eigentlich objektiv, über großes Leid nur „objektiv“ zu berichten? Gehört nicht das Leid und damit die subjektive Einschätzung auch zur Objektivität? Auch eine Stimmung ist etwas Objektives, die existiert, die kann ich auch berichten. Ohne Stimmungen hätte es keine Revolutionen gegeben! Also, was ist Objektivität?
Noch etwas: Würdest du in jedem Fall objektiv berichten wollen? Wenn du einen Krieg beenden willst, wenn du Leute zu Spenden motivieren willst, wenn du eine Hinrichtung verhindern willst, dann würdest du sicher eine (mehr oder weniger) subjektive Berichterstattung wählen. Aber erst recht tun das die Leute, die einen Krieg anzetteln, eine Hinrichtung durchsetzen oder Haß auf eine bestimmte Gruppe schüren wollen. Und von denen gibt es viele. Also wieder keine Objektivität.
2.
Jetzt mal weg vom allgemeinen und um auf bestimmte Medien einzugehen:
Völlig unobjektiv war z.B. der „Völkische Beobachter“.
Die „Prawda“ hatte die meiste Zeit ihrer Existenz nicht nach Objektivität, sondern zum Nutzen der Parteiführung zu berichten. Und auch der „Osservatore Romano“, die „Bildzeitung“ oder „Al-Jazeera“ haben massive Interessen, denen sie folgen. Alle diese Medien würde ich für in größerem oder kleinerem Maße unobjektiv halten.
Ein Beispiel für erstaunliche Objektivität in Kriegszeiten (!) war die BBC. Da sie von vornherein alle alliierten Niederlagen als solche gemeldet hat, waren dann auch die Siegesnachrichten umso glaubhafter. Vor allem für die Deutschen, die es trotz Verbot wagten, heimlich BBC zu hören.
3.
Und zum Abschluß noch mal generell:
Allein die Auswahl von Nachrichten (was berichte ich überhaupt?) ist schon ein Quell der Unobjektivität. Muß ich über jedes Flugzeugunglück berichten? Warum dann nicht über jeden Autounfall? Da geht’s ja schon los.
Schließlich, meine ich, ist die Länge eines Berichtes entscheidend. Je kürzer, desto weniger kann man differenzieren. Ich kann in einem 45-minütigen Bericht jeweils eine Viertelstunde zwei entgegengesetzte Parteien sehr intensiv berichten lassen und dann eine Art Resumé versuchen. Wenn ich nur zwei Minuten habe, gelingt das nicht. Zur Objektivität gehört auch Tiefe und Eindringlichkeit der Berichterstattung. Ich muß ja sehr oft den Rezipienten in eine andere Welt einführen. Das braucht Zeit.
Zum Beispiel die Motivationen von jüdisch-orthodoxen Siedlern auf der einen Seite und die von arabischen Selbstmordattentätern auf der anderen darzustellen. Und zwar so, daß am Ende nicht eine alles nivellierende Toleranz oder oberflächliche Verurteilung herauskommt, sondern gleichzeitig ein Verständnis und eine (moralische) Beurteilung.
Wir kennen immer nur einen Teil der Realität. Realität ist immer weitaus vielschichtiger, als wir das im ersten Moment wahrnehmen. Also können wir bestenfalls teilweise objektiv sein und erst recht berichterstatten.
Grüße
Michael