Wenn man nur danach geht, was der Verfasser wollte, darf man
immer nur die damaligen Inszenierungen wiederholen, am besten
nur mit historischen Instrumenten.
Falsch, weil die „damaligen Inszenierungen“ (was ist das überhaupt, „damals“?) waren genausowenig Partiturgetreu wie die heutigen. Zum einen natürlich wegen künstlerischer Freiheiten, die man sich genommen hat, zum anderen auch wegen technisch einfach nicht machbarer Dinge - schau dir die Partitur vom „Rheingold“ an, da wird verlangt, dass die Götter am Ende über einen Regenboden gehen, oder die Partitur der Walküre, da sollen die Sängerinnen auf Pferden reiten; im „Freischütz“ wird in der Wolfschluchtszene verlangt, dass es regnet, stürmt, blitzt und donnert, ein Wasserfall tobt, Flammen aus der Erde schlagen, ein Sturm Bäume entwurzelt. Sowas KANN man einfach nicht befriedigend darstellen.
Um bei Wagner zu bleiben, um den es ja im UP geht: gerade in den Partituren seines „Rings“ findetn sich massenweise Regieanweisungen, die kleine Details beschrieben, und diese Anweisungen werden auch genau an bestimmte Takte gesetzt - so bilden die (von Wagner wundervoll auskomponierten!) Regieanweisungen sowie die Musik dazu eine perfekte Einheit.
Hier funktioniert die Oper m.E. am Besten, wenn man die Partitur (bzw. einen Klavierauszug) zu einer Aufnahme hört und die Anweisungen liest - da hat man ein perfektes, musikalisch untermaltes Kopfkino.
Schon wie toll dieser Moment in der „Walküre“ komponiert ist, als der Glimmerschein aus dem Ofen auf den Schwertknauf leuchtet! Wenn man diese Anweisung liest, und die Musik dazu hört, funktioniert das viel besser, als wenn auf der Bühne weder ein Ofen, noch ein Glimmerschein zu sehen ist. Der Kopf macht einfach die besten Inszenierungen!
Und woher genau wissen wir
denn, was der Verfasser wollte? Und ob er es nicht auch
spannend finden würde, was alles aus seinem Stück
herauszuholen ist?
Das wissen wir nicht, wir sollten deshalb nicht automatisch davon ausgehen, dass es so ist.
Dass dir die Inszenierungen in vielen Fällen nicht gefallen,
ist sehr gut nachvollziehbar, und auch dass du zur Entspannung
in die Oper gehen magst. Geht mir auch oft so.
Ich finde Opern - egal ob mir die Inszenierung gefällt oder nicht - eigentlich alles andere als entspannend. Vielleicht laden kleine Operetten dazu ein, aber eine „Salome“ z.B. hat einen Haufen schwierige Themen, schwierige Charaktere und einen wahnsinnige, hektische Musik, die einem keine Verschnaufpause gönnt. Wer beim „Judenquintett“ entspannen kann, dem gratuliere ich!
Nichtsdestotrotz - nach ein paar traditionellen
Inszenierungen, die ich in anderen Ländern - oder hin und
wieder auch hier - gesehen habe, bin ich froh, dass wir in
Deutschland das Privileg haben, Regie als Kunstform zu
erleben,
Eine Kunst wäre es, wenn man sich an die Anweisungen hält, die tatsächlich vorgegeben sind - aber die beherrscht kein Regisseur, nicht mal die, denen man Werktreue attestiert und die du wahrscheinlich als antiquarisch siehst.
Traditionelle Inszenierungen bringen nichts
neues außer der Entspannung, sie beeindrucken auch nicht mehr.
Wieso sprichst du hier für eine anonyme Masse, statt für dich selbst? Sie beeindruckt DICH nicht mehr, aber sehr, sehr viele Leute schon. Was sind überhaupt „traditionelle Inszenierungen?“.
Aber so offenherzig und interessiert du FÜR das Regietheater sprichst, so voller Vorurteile und Abwertungen sprichst du von traditionellen Inszenierungen, und das ist m.E. nicht in Ordnung.
Eine traditionelle Inszenierung beeindruckt schon deswegen, weil sie in der heutigen Opernlandschaft auffallen würde - wenn man gewohnt ist, dass eine „Salome“ in einem Luftschutzbunker oder bei Karl Lagerfeld spielt, dann beeindruckt es schon, wenn ein Regisseur tatsächlich einen prunkvollen Palast, von einem hellen Mond beleuchtet, zeigt.
Vielleicht ein anderes Beispiel, weg von der Oper: das Kasperltheater.
Das Kasperltheater gibt es schon ewig, aber lass mich für meinen Vergleich das Kasperltheater von vor 60 Jahren und heute nehmen. Damals gab es Kulissen mit Wäldern, Höhlen, dem altmodischen Haus der Großmutter mit ihrer Kaffeemühle usw.
Und heute gibt es das immer noch, und die Kinder sind immer noch begeistert von diesen Kulissen. Die Kinder von heute sind gewohnt, dass sie Handys haben, MP3 Player, DVDs etc., aber sie erwarten nicht, dass der Kasperl auch ein Handy hat, oder dass er nicht mehr in einem Zauberwald sondern in der modernen Großstadt spielt. Die sind immer noch begeistert wenn da Bäume stehen und ein Zauberer taucht auf und braut in seinem „altmodischen“ Hexenkessel mit viel Rauch einen Zaubertrank zusammen.
Jetzt wirst du vielleicht sagen, dass das Opernpublikum ein anderes ist als ein Kasperltheaterpublikum, da hast du schon recht; aber dennoch, die Kinder erleben da eine völlig andere, unwirkliche, wenn du magst altmodische Welt, die nichts mit ihrer modernen, technologischen Welt zu tun hat, und genauso würde für viele Erwachsene eine völlig andere Welt, ein Palast vor 2000 Jahren, ein Marktplatz im Mittelalter, oder der Grund des Rheins mit seinen Nixen funktionieren, auch wenn sie selbst etwas ganz anderes gewohnt sind.
In Deutschland hat Oper eine verpflichtende Tradition. Indem
man in Deutschland zu großen Teilen auf rein angenehmes
verzichtet, erhält man sich hier eine Theaterlandschaft wie in
keinem anderen Land, und eine Plattform für eine Kunstform,
die, wenn sie gut gemacht ist, wirklich Großes bewirken kann.
Nämlich?
Wir haben hier aus der Kleinstaatenzeit sehr viele Theater
erhalten, und auch wenn bereits viele Häuser (v.a. im Osten)
eingespart wurden, haben wir vergleichsweise immernoch viel.
Wir können auf diese Tradition stolz und für sie dankbar sein.
Ich persönlich bin nur stolz auf Dinge, die ICH SELBST geschafft habe. Auf fremde Leistungen stolz sein liegt mir nicht.
Sie weiterzuführen macht aber nur dann Sinn, wenn neue
Inszenierungen auch Sinn machen. Spielt jedes Haus jeweils nur
die Inszenierung von 1900, dann sterben die Häuser und die
eigenen Ensembles
Und das weißt du warum genau? Studien? Quellenangaben?
und ganz besonders verzichtet
man auf unzählige Kulturtouristen, die allein deshalb nach
Deutschland kommen, weil sie hier Inszenierungen vorfinden wie
nirgendwo anders.
Kann man über jedes Land sagen.
Und die es schätzen können, dass sich
Deutschland der kulturellen Rolle stellt, die es seit langer
Zeit hat.
Ein Wahnsinn. Ich bin begeistert.
Wie gesagt, wo gehobelt wird, fallen Späne. Aber immerhin wird
in Deutschland gehobelt.
Woanders genauso. Das hat nichts mit Deutschland zu tun.
Es ist nichts dabei, dass es dich stört. Das gehört dazu. Aber
sich den positiven Seiten des Regietheaters bewusst zu sein,
gehört m.E. auch dazu.
Für dich vielleicht, für einen Kritiker sicher, aber für andere, teilweise sehr viel Geld zahlende Gäste nicht, denn wo kämen wir hin, wenn wir anderen Leuten vorschreiben würden, was sie zu denken, zu fühlen und zu akzeptieren haben?
Wenn es DIR persönlich weiterhilft, dann ist dagegen überhaupt nichts einzuwenden. Wenn du aber anderen indirekt sagst, dass sie sich nicht so gut auskennen, nur weil sie sich der „positiven Seiten“ nicht bewusst sind, klingt das schon sehr überheblich.
Die „positiven Seiten“ sind auch wieder etwas, was jeder für sich selbst definieren muss - der eine mag es, der andere nicht. Ein Geschmack hat keine Allgemeingültigkeit.
Eine positive Seite solcher Inszenierungen ist für mich die, dass ich „traditionelle“ Inszenierungen dadurch umso mehr schätze.
wenn es gut gemacht ist, kann ein kotzendes Pferd
auch Sinn haben und nicht aufoktroyiert sein. Hast du die oben
besprochene Inszenierung denn gesehen?
Ein gut gemachtes kotzendes Pferd … von einem Regisseur, der mich mit kotzenden Pferden, Blut und Exkrementen unterhalten oder zum Nachdenken will, fühle ich mich nur beleidigt, sonst nichts.
Es ist halt nur so, dass sich Deutschland (zum Glück , noch) anders positioniert hat
hat
Jetzt geht das wieder los …
in dem Sinne, welche Art Kunst es in Opernhäusern
darbieten will: angenehme, entspannende, mit der man immer
wieder zufrieden sattes Publikum erreicht
Was ist mit den unzähligen Kulturtouristen, die nur zu uns kommen, wegen der ungewöhnlichen Inszenierungen? Die müssen dann ja maßlos enttäuscht sein, statt zufrieden satt?
Nochmal: wenn du „traditionellen“ Inszenierungen absprichst, nicht aufwühlen, nicht zum Nachdenken anregen zu können, dann hast du noch keine GUTE traditionelle Inszenierung gesehen. Opernstoffe können nämlich durchaus aktuelle Themen behandeln, ohne dass sie eine szenische Verdopplung brauchen, die in der heutigen Zeit spielen.
In Wagners Ring geht es, neben anderen Themen, vor allem auch um das Gold und die Macht - das sind Themen, die auch heute hochaktuell sind. Und das würde auch perfekt funktionieren, wenn ich keine Bankangestellten auf der Bühne sehe, sondern altgermanische Götter, weil das Thema zeitlos ist. Da braucht es keine kotzenden Pferde, und wenn ein Regisseur meint, dass das Publikum zu dumm ist, um diese Themen zu kapieren und zwanghaft versucht, es in die heutige Zeit zu transportieren, dann ist das eine Beleidigung des Verstandes der Zuschauer.
Oder eine Kunst, die versucht, neues zu schaffen mit dem
Risiko, dass 90% davon vielleicht zu weiten Teilen am
Publikum vorbeigehen, 10% allerdings die Blicke von ganz
Europa und Amerika auf sich ziehen und die Regiewelt
nachhaltig beeinflussen und anregen.
Ja klar, in Amerika reden die Leute auch ganz viel von der tollen Inszenierung in der Semperoper, wo ein kotzendes Pferd zu sehen ist …
Naja, offenbar ist es wichtiger, was Europa und Amerika von Deutschland denkt, auch wenn man damit über die zahlenden Gäste, die solchen Regieunsinn auch noch unterstützen, drüberfährt.
Aber im Grunde sind die Gäste eh selbst schuld - wenn ihnen die Inszenierung nicht gefällt, sollten sie die Vorstellung einfach boykottieren. Wenn alle das beherzigen würden, würden die Besucherzahlen garantiert deutlich niedriger ausfallen.
Marcel Prawy hat einmal gesagt: „Wenn Sie in der Oper sitzen und das Stück erstmal nicht wiedererkennen, gehen Sie zur Abendkasse und verlangen Sie ihr Geld zurück, denn Sie sind durch die Verwendung des Namens des Komponisten sowie der Oper getäuscht worden.“
Hoffen wir, dass es noch
eine Weile so bleibt hier…
„Wir“? Ich nicht.