Phänomenologie - was ist es genau?

Guten Abend! Also meistens verstehe ich ja, was bei Wikipedia so beschrieben steht. Aber bei der Phänomenologie habe ich Probleme. Erkenntnisgewinn anhand unmittelbar gegebener Erscheinungen - also Sichtbarem, Hörbarem, Fühlbarem? Dann steht da, es sei eine Wissenschaft a priori. Aber bedeutet a priori nicht gerade, dass den Aussagen keine Erfahrung zugrunde liegen muss? Und ist Sichtbares, Hörbares und generell in seiner Erscheinung Erfahrbares dann nicht eben gerade nicht a priori?

Vielleicht schafft es jemand, mich in einfachen, für mich verständlichen Umschreibungen in die Zusammenhänge einzuweihen, da würde ich mich freuen …!

Guten Abend Facette,

in der Phänomenologie geht es darum, die Strukturen von Erlebnissen zu Beschreiben. Mit Struktur ist dabei gemeint, dass es nicht um das geht, was bei Erlebnissen bestimmter Art wechselt, sondern um das, was sich durchhält. Ein Beispiel für solche Struktur ist: Ich kann mir das Seherlebnis eines anderen Menschen vergegenwärtigen indem ich seine Position im Raum einnehme. Bei einem Gefühlserlebnis dagegen geht das nicht. Das hat Konsequenzen für die Objektivierbarkeit von visuellen Inhalten im Vergleich zu emotionalen Inhalten. Die Struktur ist insofern apriori als sie unabhängig vom jeweiligen Inhalt der Erlebnisse gleich bleibt. Eine Struktur, die in allen unseren Erlebnissen anzutreffen ist, ist die der Zeit. Sie wird von Husserl in der „Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins“ beschrieben. Sehr lesenswert.

Phänomenologie ist ein Begriff der Wissenschaftsgeschichte und läßt sich nicht unabhängig von den Autoren trennen, die den Begriff zuerst verwandt und definiert haben. Um das zu illustrieren: Man kann nicht sagen: Ich werde das Bild einmal mit meiner Maschine abtasten, wenn man meint Ich mache einen Scan. Hier ist es technologischer Jargon, der sich eingebürgert hat, im Fall der „Phänomenologie“ ist es vor allem Edmund Husserl, der den Begriff in den Philosophie-Diskurs eingeführt hat. Also bei Wiki steht alles über Husserl und die Phänomenologie,

meint

Hallo Facette,
Du hast einen Spezialisten für Analytische Philosophie gefragt, von Phänomenologie hab ich kaum Ahnung. Deine Frage scheint mir aber sehr interessant, weil gar nicht so klar ist, was a priori eigentlich sein soll. Und vielleicht zeigt die Frage auch eine Schwäche der Phänomenologie auf.

Zunächst zur Phänomenologie: soweit ich verstanden habe, setzt sie voraus, daß wir existieren. Damit ist zugleich auch festgestellt, daß es außer uns noch mehr gibt, denn wir essen uns ja nicht selber.
Aus dem wenigen soll dann folgen, daß es auch andere Menschen gibt, die ähnlich wie wir sind und ähnlich wahrnehmen. Überhaupt soll die Wahrnehmung objektiviert werden. Der Hauptvertreter Husserl wollte seine Theorie aber nicht als Psychologie (eher schon als Antipsychologie) verstanden wissen.

Zum A priori: eigentlich ist es doch - wie Du sagst - etwas, das man gerade nicht empirisch feststellt. In der Analytischen Philosophie ist das sicherste A priori daher semantisch, d.h. aus der Bedeutung der im Satz verwendeten Wörter. Dazu sagt man dann aber meistens „analytisch“ im Gegensatz zum Synthetischen, bei dem dann Erfahrung hinzukommt.
Kant glaubte, daß es auch „synthetisch a priori“ gibt.
Analytisch a priori: Wirkung/Ursache – synthetisch a priori: Ereignis/Ursache. D.h. quasi „nichts passiert von allein“, was, wie man heute weiß, kraß falsch ist (z.B. Vakuumfluktuationen passieren sehr wohl „von allein“).
Nach Kant wäre aber ein analytisch - a priori – Satz ganz sicher wahr: Bsp „Der Maler der Mona Lisa hat die Mona Lisa gemalt“. Das hieße, der Satz kann nicht falsch sein! Das ist aber schon wieder eine erstaunliche Täuschung, wie Saul Kripke gezeigt hat: auch dieser Satz könnte falsch sein! (Obwohl er wahr ist):
Lösung: Der Maler der Mona Lisa ist Leonardo da Vinci, und es ist keine notwendige Wahrheit, daß er dieses Bild gemalt hat. Er hätte auch spazieren gehen können, ohne seinen Namen zu verlieren. Namen sind nämlich keine Bündel von Eigenschaften.
Das führt vielleicht ein bißchen zu weit. Aber jedenfalls scheint es gute wissenschaftliche Praxis zu sein, möglichst wenig als a priori anzunehmen, man kann sich immer so schwer täuschen….

Nach Wittgenstein sind sogar Sätze der Mathematik nicht a priori, allerdings, weil sie bei ihm gar keine Sätze sind. Und ein Satz wie „Grün und rot können nicht zur selben Zeit am selben Ort sein“ ist ein Satz über die Bedeutung von „grün“ und „rot“, nicht über Gegenstände. In der Phänomenologie wäre es wohl als Satz über die Gegenstände gemeint.

Die Phänomenologie geht wohl von einem A priori aus, das sich nicht aus sprachlichen Tatsachen ergibt, sondern aus unserer Beschaffenheit als wahrnehmenden Wesen, um dann zu objektivierenden Feststellungen über die Gegenstände zu kommen. Der letzte Gegenstand sind dann wir bzw. unser Bewußtsein. Die Phänomenologie ist damit nicht geeignet, den Skeptizismus zu widerlegen (daß wir z.B. die ganze Zeit nur träumen oder Gehirne im Tank sind), da er unsere Existenz ja voraussetzen muß, um überhaupt beginnen zu können.

Sein/Scheinen/Objektivität: einige Autoren (z.B. Peter Sellars) gehen davon aus, daß „Da scheint ein Baum zu sein“ grundlegender ist als „Da ist ein Baum“. „Scheinen“ ist dann jedenfalls kein Gegensatz zu „sein“ Es wäre absurd zu sagen: „Da scheint etwas zu sein, aber ich glaube nicht, daß es da ist“. So kann man vielleicht den Anspruch der Phänomenologie verstehen, wobei Sellars aber gar kein Vertreter ist.

Hoffentlich haben wir wenigstens ein paar Klarheiten beseitigt! Alles Gute, wenn Du noch was Spezielles wissen möchtest, kannst Du Dich gern noch mal melden. (Z.B. gibt es noch notwendig a posteriori und kontingent a priori). Timo.

Hallo!

Es ist zwar nicht mein Gebiet, aber vielleicht kann ich mit wenigen Worten ein bisschen helfen:
Die Phänomenologie versucht(!), durch ausschließliche Untersuchung der Phänomene (Erscheinungen) die Gesamtwirklichkeit zu erklären. Letztlich scheitert dies jedoch, da sie als Wissenschaft gerade mehr als selbst nur eine Erscheinung sein will (Selbstwiderspruch). Es kann nicht nur Erscheinungen geben, die keinem erscheinen.
Die Frage nach dem Sein selbst (als Ursache für die Erscheinungen in wahrnehmungsfähigen Wesen) lässt sich phänomenologisch nicht lösen.

LG
Rolf

Es freut mich, hier auch mal eine Anfrage zu lesen, die wirklich interessant ist - allerdings ist sie dadurch natürlich auch nicht gerade leicht zu beantworten. Ich bin auch leider kein Spezialist für Metaphysik oder Erkenntnistheorie, daher kann ich nicht mehr tun als den zitierten Wikipedia-Artikel etwas zu erläutern und zu hoffen, dass ich damit zum besseren Verständnis des Artikels beitragen kann :wink:

Dass die Phänomenologie einerseits „unmittelbar gegebene Erscheinungen“ als Ursprung der „Erkenntnisgewinnung“ betrachtet und andererseits von Husserl als apriorische Wissenschaft beschrieben wird, erscheint auf den ersten Blick tatsächlich widersprüchlich. Das ist es allerdings nicht, wenn man wie Brentano und Husserl zwischen einer äußeren, vom Bewusstsein unabhängigen Realität und einem Bewusstseins-Objekt oder -Inhalt unterscheidet, auf den sich das Denken, Urteilen, Vorstellen etc. richtet (vgl. das Zitat von Brentano im Abschnitt „Wurzel der Phänomenologie“).

Wenn ich das richtig verstehe, ist die Phänomenologie Husserls unter Anderem ein Versuch, dem Problem der Intentionalität zu begegnen - also der Beobachtung, dass alle (oder zumindest die meisten) Bewusstseinsvorgänge auf ein Objekt bzw. einen Inhalt gerichtet sind. Das Intentionlitätsproblem besteht dann grob gesagt in der Frage, wie sich die „Brücke“ zwischen diesen zwei „Welten“ des Psychischen und des Nicht-Psychischen schlagen lässt.

Der Versuch, diese Beziehung materialistisch zu beschreiben, muss daran scheitern, dass so etwas wie Wahrheit oder Bedeutung weder Eigenschaften materieller Objekte außerhalb unseres Bewusstseins sind noch mittels einer physischen Beschreibung unseres Gehirns erfasst werden können (Der Wikipedia-Artikel „Naturalismus“ verdeutlicht dies durch die rhetorische Frage: „Was sollte es heißen, zu sagen: Dieses Neuronenfeuern ist falsch?“). Eine Erklärung der Intentionalität als Gerichtetsein auf rein psychische Inhalte (sozusagen psychische Korrelate zu den außerpsychischen Objekten) läuft dagegen Gefahr, zirkulär zu sein, da sie wieder eine Erklärung schuldig bleibt, wie diese Bewusstseinskorrelate mit den Objekten der Realität in Beziehung stehen.

Wie im Artikel erwähnt, gab es um die Jahrhundertwende einen Trend in der Philosophie, Bewusstseinsinhalte als psychische Phänomene zu erklären. Dagegen führten Husserl, Brentano und auch Gottlob Frege das Argument ins Feld, dass es ohne ein vom Denken unabhängiges Kriterium nicht möglich wäre, Gedanken als wahr oder falsch zu beurteilen. Wären Gesetze der Logik reine empirische „Denkgesetze“, dann ließe sich ein Urteil nicht mehr begründen, ohne in einen infiniten Regress zu geraten, denn man müsste das Urteil dann damit rechtfertigen, dass es vom Menschen nunmal so gefällt wird.

Aus dieser Überlegung ergibt sich die Annahme, dass es neben physischen Gegenständen und Bewusstseinsvorgängen noch etwas Drittes geben muss, was von den beiden anderen Bereichen unabhängig ist, und was nach Frege und Husserl die eigentlichen Bewusstseinsinhalte darstellt. Frege bezeichnet diese Inhalte als „Gedanken“. Husserl unterscheidet Bewusstseinsvorgang und Bewusstseinsinhalt durch die Begriffe „Noesis“ und „Noema“, also etwa das Wahrnehmen eines Baums (Noesis) und das „Baumwahrgenommene“ (Noema; vgl. den Abschnitt „Intentionalität des Bewusstseins“). In Bezug auf das Intentionalitätsproblem stößt allerdings auch Husserls Phänomenologie an ihre Grenzen (wie im selben Abschnitt des Artikels angedeutet). Das Problem der Beziehung zwischen Welt und Bewusstsein wird damit im Prinzip nur auf eine andere Ebene verlagert.

Kurz zusammengefasst löst sich der scheinbare Widerspruch zwischen Husserls Loslösung vom Emprischen (deswegen „apriorisch“) und seiner Orientierung an den „unmittelbar gegebenen Erscheinungen“ darin auf, dass letztere eben nicht mit der physischen Welt gleichzusetzen sind, sondern eine unabhängige Kategorie der „Ideen“ bilden.