Phantasie, Begehren und Objekt klein a
Hi E.T.
„Sade zielt auf eine Umkehrung des Verhältnisses von Phantasie und Vernunft.“
Das heißt also mindestens das: Aus der Sicht der Phantasie kann sie die Vernunft als ihr Instrument benutzen.
Ich denke nicht, dass hier die „Phantasie“ (als Subjekt ohnehin schwer vorstellbar) die letzte Instanz sein kann. Das Benutzen von etwas ist immer ein Akt der Vernunft, in diesem Fall ein Akt der instrumentellen Vernunft (auf welche sich die Vernunft laut früher Frankfurter Schule reduziert, was aber so nicht haltbar ist). Vor allem aber ist es das unendliche und unlöschbare menschliche Begehren (im Sinne Lacans), das hinter der Phantasie steckt als deren Quelle und Motor. Und da wir schon bei Lacan sind: die Symbolische Ordnung (eine Manifestation der Vernunft) konterkariert das Begehren und ermöglicht erst das, was wir Phantasie nennen. Denn ohne Begrenzung und Struktur, die das Begehren einschränken (psychoanalytisch: kastrieren), wäre Phantasie überflüssig. Sie entspringt diesem Widerspruch und manifestiert sich u.a. im Phantasma.
Aus Wiki (Objekt klein a):
„Das Phantasma strukturiert das Begehren, indem es einen imaginären Rahmen („Szenario“) bildet, der mit Objekten der Begierde gefüllt wird. Grundsätzlich kann alles zum Objekt klein a werden, sofern es in das persönliche Phantasma hineinpasst: Das Begehren ist metonymisch strukturiert, d.h. es kann von einem Objekt zum nächsten wandern. Welche Objekte das Subjekt (unbewusst) wählt, auf welche Objekte es sein Begehren richtet, hängt allein von der psychischen Disposition des Subjekts ab, die sich natürlich in verschiedenen Lebensphasen und Situationen ändern kann. Es muss allerdings stets unerreichbar sein, d.h. einen leeren Kern bilden, um den herum sich die Phantasmen des Subjekts aufspannen können.“
Zitat Ende.
Das heißt also: ohne Vernunft (Symbolische Ordnung) keine Phantasie.
Auch bei Sade ist das Begehren unendlich und unstillbar. Siehe bei Böhme:
„Die flüssige Valuta des Spermas, so reichlich die Libertins darüber verfügen, sind nur ein schwaches Abbild des unendlichen Stroms der imaginierten Wünsche in der Sprache. In der sexuellen Welt Sades darf es keine Erfüllung geben, an der die Lust zur Ruhe kommt. Ruhe wäre für Sade Leere und Nichts. Darum muß der erschöpfbare, in sich zurücksinkende Körper ständig überschritten werden durch eine Lustunendlichkeit, die die Transzendenz des Körpers darstellt und einzig im endlosen Sprachfluß des Imaginären Gestalt findet.“
Zitat Ende.
Hier sehe ich einen Zusammenhang mit der vedantischen Atman-Theorie: Atman ist der Kern des Subjekts und identisch mit Brahman, dem universellen Geist. Es strebt danach, diese Identität zu erkennen und zu realisieren. Da „ananda“ (Wonne) eines der Merkmale von Brahman ist, strebt das Subjekt also nach Wonne, was auch Begehren genannt wird. In der Regel richtet sich das Begehren auf metaphorische Ersatzobjekte (siehe objet a) und kann daher nie gestillt werden.
„Sade eignet sich sämtliche Verfahren der radikalen Ideologiekritik des französischen Materialismus [nennen wir diese Verfahren Verfahren der Vernunft] an, um der Einbildungskraft eine tabula rasa zu bescheren.“
Der frz. Materialismus war zu seiner Zeit dringend erforderlich, ist aber heute absolut überholt.
Diese „moderne Vernunft“, so es denn sinnvoll ist, einem Unternehmen wie dem Wilberschen diesen Namen zu geben, ist sie denn ein tauglicheres Instrument der Phantasie als die Vernunft des französischen Materialismus oder des Kantischen Kritizismus, wenn -und das ist unsere Sade’sche Prämisse des obigen Zitats- dieses Instrument ein Tafelschwamm sein soll.
Die Frage ist doch: w a s ist diese Tafel? In letzter Konsequenz ist sie - aus spiritueller Sicht - (mit einem buddhistischen Begriff) das Nirvana. Und das unterscheidet Wilbers Ansatz von dem Sades oder Kants ganz erheblich. Kant kann in metaphysischen Fragen ohnehin nicht ernst genommen werden, was seine gewaltige Gesamtleistung aber nicht schmälert. Was Sade betrifft: für ihn als Materialisten war der Mensch nur ein Teil der chaotischen physischen Natur. Also keine spirituelle Dimension in Sicht. Auf d i e Tafel kann ich denn doch verzichten.
Aber eine erstarrende Vernunft ist, per definitionem keine richtige Vernunft. Wir sollten den Vernunftbegriff flexibel halten.
Wie sehr flexibel?
So flexibel wie nötig. Also sehr. Es wäre doch seltsam, wenn ausgerechnet im Jahre 2010 die Evolution des Vernunftbegriffs an ihre Grenze gestoßen wäre. Machen wir nicht den Fehler wie die Frankfurter, die Vernunft als einen statischen Pappkameraden zu sehen, der nur dazu taugt, abgeballert zu werden.
Gruß
Horst