Hallo Sonic,
sobald du dich schon für Fragen nach Wahrheit, Recht, Falsch und Richtig und dem Denken an sich interessierst, ist der erste Schritt doch eigentlich schon getan. Eigentlich brauchst du keinen Einstieg mehr, sondern du bist schon mitten drin.
Es ist allerdings nicht so, dass es »die eine Wahrheit über alles« gibt. Wenn es diese Wahrheit gäbe, dann hätte sich diese eine Geisteshaltung schon lange durchgesetzt und endgültig; dann wäre der ganze riesige und widersprüchliche Wust von Antworten, sie sich in den Jahrtausenden angesammelt hat, seitdem der Mensch sich zum ersten Mal solche schweren Fragen stellte, längst vergessen und veraltet, und nur noch diese eine Antwort gültig, und zwar für alle Zeit und für alle Menschen gleichermaßen. Die Frage ist: will man sowas?
Es gibt genug Beispiele für Standpunkte und Weltbilder, die zu ihrer Zeit und zu ihren eigenen Bedingungen »richtig« schienen, neu und revolutionär wirkten und deshalb unbedingt durchzusetzen waren. Jedes mal hatte es erneut den Anschein, dass »da plötzlich jemand kam, der das Unmögliche in die Tat umsetzte, worüber sich alle vor ihm einig waren, dass es unmöglich war« (in diesem Sinn verstehe ich deinen Satz, kann aber auch sein, dass ich da danebenliege). Wie gesagt — da gibt es tausende Beispiele, und alle haben sich glücklicherweise sämtlich selbst überlebt oder unmöglich gemacht. Das Dumme für diese Weltbilder (und das Gute für die Menschheit) ist aber, dass einzelne Individuen sich solchen Bewegungen auch entziehen, entgegengesetzte Standpunkte einnehmen können, kurz — abwarten, beurteilen und vor allem auch: aus Erfahrung lernen.
So war das schon immer, und so soll es auch sein. Insofern kann ich auch nicht verstehen, dass du Angst davor hast, etwas zu lesen oder zu erfahren, was jemand anders schon vor dir gedacht hat. Schaden kann es dir eigentlich nie. Wo du schon mal denken kannst, sollte es kein großes Problem sein, von einem Gedanken auf einen anderen, und von dem aus auch noch auf einen dritten Gedanken zu kommen. Aber so richtig spannend wird es erst, wenn da noch Gedanken von anderen hinzukommen, die du miteinbeziehen, abwägen und vielleicht auch als völlig falsch bewerten kannst. Das bleibt ja letzten Endes deine eigene freie Entscheidung.
Und, wo wir davon sprechen — deine Vorstellung von der Entstehung eines Gemäldes ist eigentlich falsch für meine Begriffe. Bilder klatschen sich nicht von ganz alleine fertig auf eine weiße Leinwand. Vielmehr gibt es da erst einmal eine grobe Vorzeichnung (ein viertelfertiges Bild), darauf eine Grundierung (ein halbfertiges Bild), darauf kommen grobflächig die verschiedenen Farben (und erst jetzt sieht man, wie es einmal vielleicht aussehen kann) und erst ganz zum Schluss kommt die Feinarbeit, Nacharbeitung Ausbesserung und, nachdem so Schicht auf Schicht zusammengekommen ist, das endgültige Bild, das man als echtes Kunstwerk zu guter Letzt mit dem eigenen Namen signieren kann.
Kurz: Du verlierst keineswegs, wenn du dir einmal ansiehst, wie alte Maler ihre Bilder gemalt haben. Ohne diese Erfahrung (und natürlich auch ohne deren erkennbaren Fehler und Irrungen) wird deine weiße Leinwand auf ewig nichts weiter bleiben als eben eine weiße Leinwand.
Und um auf das eigentliche Thema der Philosophie zurückzukommen: dass du keine Lust hast, Plato bis Kant noch einmal durchzudenken, kann ich gut verstehen. Das will eigentlich niemand. Aber: die Ideen von Plato bis Kant einmal für sich selbst zu entdecken — dazu rate ich dir dringend, und auf dem Weg lauert noch die eine oder andere Anregung für dich, die du dein Leben nicht vergessen wirst.
Verspreche ich dir in die Hand. Viele liebe Grüße,
Virgil.